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Zwischen Nelda Dallmer und Agnes Röder hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Zu andren Zeiten wäre Nelda nicht so dafür geneigt gewesen, jetzt war sie weicher und erschauerte zuweilen in einem Gefühl grosser innerer Einsamkeit.

Frau Rätin war glückselig über den Verkehr der beiden Mädchen; sie geriet ganz in Verzückung über ‚Agnes, das süsse Geschöpf‘. „Ach wenn unsre Nelda nur viertels so wäre,“ seufzte sie ihrem Mann vor. Auch der kränkelnde müde Rat lächelte, wenn die zierliche Gestalt der kleinen Röder in der Tür auftauchte, ihr Plaudern glitt wie Vogelgezwitscher an seinem Ohr vorbei.

Und Nelda? Nicht dass sie gerade tief-innere Berührungspunkte mit Agnes gehabt hätte — wo sollten die auf einmal herkommen? — sie war nur gern mit ihr zusammen und war nicht unzufrieden, dass ein sehr vorteilhaftes Kommando Herrn von Osten nach der Residenz berief, infolgedessen die Hochzeit erst zu Ostern sein konnte. Der Bräutigam war geradezu ausser sich über den Aufschub.

„Du glaubst nicht, wie er mich geküsst hat,“ flüsterte Agnes, als sie bei Nelda in deren einfachem Giebelstübchen sass. Osten war am Morgen abgereist, mit verweinten Augen hatte sich die verlassene Braut zur Freundin geflüchtet.

„O, wie hat er mich geküsst!“

Eine tiefe Röte breitete sich über ihre Wangen, sie schlug die Augen nieder und hielt beide Hände auf die unruhig atmende Brust gedrückt.

„Ich muss es dir sagen, einem Menschen muss ich’s sagen, vor meiner Mama schäm ich mich. Siehst du, so hat er mich geküsst!“

Sie näherte ihre weichen Kinderlippen Neldas Mund und drückte sie darauf. „Nein, noch nicht loslassen — so — so — —! O Nelda, Nelda!“

Sie brach in Tränen aus und kauerte vor der Freundin nieder, beide Arme um deren Leib schlingend. „Ich muss immer dran denken, Nelda, ich fühl’s immer hier auf den Lippen. So hat er mich früher nie geküsst! Sag, was war das? Bleibt’s nun immer so? Wird er mich immer so küssen?“ Ihre Augen fragten ängstlich. „Nelda, ach es ist so was Schreckliches darin und doch eine Seligkeit!“ Sie schauerte zusammen. „Du bist zwei Jahre älter als ich und viel klüger, sag mir doch, glaubst du, dass man einen Menschen lieb haben kann, so — so — so zum Vergehen, weisst du? Es drängt einen zu ihm hin, man möchte — ach Gott, man schämt sich ordentlich vor sich selber!“ Sie löste die Arme vom Leib der Freundin und hielt sich die Hände vors Gesicht.

„Ich schäme mich,“ sagte sie leise.

Nelda sah zu der Knieenden nieder, ihr Blick hatte etwas Zerstreutes; wie eine Vision glitt auf einmal Leutnant Ramers Gesicht an ihr vorüber, ihr Herz begann zu klopfen.

„Warum schämst du dich?“ fragte sie langsam. „In der Liebe darf das nicht sein. Wenn man liebt — pah — da gibt man eben alles hin. Ich würde es tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich will dir was sagen, Agnes, du bist noch sehr jung, erst achtzehn, und ich werde schon einundzwanzig. Du bist immer so behütet gewesen, du denkst gleich, es ist was Unrechtes, wenn dein Herz mal nicht so wohlerzogen klopft, wie es gewöhnlich unter sämtlichen Korsetts höherer Töchter tut. Freu dich doch, dass du so empfinden kannst! Ah, ich würde stolz sein, wenn ich so sehr liebte, dass ich alles drüber vergessen könnte! Weisst du“ — Nelda sprang vom Stuhl auf und reckte ihre kräftige Gestalt, sie stand grade vorm Fenster, und das scheidende Tageslicht umgab ihren Kopf mit einem hellen Schimmer, — „ich beneide dich! Ich beneide alle, die lieben! Neulich gingen wir unten am Rhein, da sass ein Mann auf einem Stein und hatte ein Mädchen auf dem Schoss; sie waren zärtlich miteinander. ‚Pfui,‘ sagte Mama, ‚es ist wirklich greulich! Küssen sich da am hellichten Tag auf der Strasse, sind vielleicht noch gar nicht mal verheiratet!‘ Herrjeh, ich fand’s nicht so schrecklich! Ich möcht mich nicht grade auf der Strasse küssen, aber es ist doch nichts Unrechtes, wenn sich zwei Menschen lieb haben?!“

„Ich verstehe dich gar nicht.“

Agnes hatte sich von den Knieen erhoben und sass nun auf dem Stuhl, sah sehr erstaunt aus und ein klein wenig scheu.

„Mein Gott, wie du so redest! Ich habe immer geglaubt, du machst dir nichts aus den Herren; du bist so gar nicht entgegenkommend, und du spottest immer über die andren Mädchen. Sei mir nicht böse,“ setzte sie schüchtern hinzu, „aber die denken vielleicht auch so und wollen sich gern verheiraten!“

„Ja, verheiraten — das ist’s eben! Heiraten, um sich zu versorgen, um die beste Partie zu machen! Was stellen sie nicht alles drum an — ba, es ist eklig! Heiraten — ja! Aber lieben, lieben — —?! Frag mal die zehnte, ob sie den Mann liebt, dem sie am Hals hängt! Was ich lieben nenne, sicher nicht.“

„Aber, Nelda, es gibt doch so viel nette Mädchen!“

„Ach, sei mir nur still mit den Frauenzimmern, die sich wie eine Ware ausstellen lassen! Den ersten besten nehmen sie und sind zufrieden. Weisst du, das ist gemein. Ha, ich bin manchmal ganz wütend!“

Sie stampfte mit dem Fuss, und heisses Rot war ihr in die Wangen gestiegen.

„Aber Nelda“ — die kleine Braut schüttelte immerfort den Kopf — „ich begreife gar nicht, wie du dich so ereifern kannst! Von so was spricht man doch überhaupt gar nicht, es ist doch nun mal so; wenn man es nicht mitmacht, wird man eben eine alte Jungfer, und das ist doch unangenehm. Mein Carlo sagt — nein, nein, ich will nichts hören“ — sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, als die andre erwidern wollte — „sei nur still!“

„Ich bin schon still.“

Nelda zog die Brauen zusammen, am liebsten hätte sie ungeduldig ‚Schaf‘ gesagt, aber sie bezwang sich. Die braunen Augen der kleinen Braut sahen sie bittend an.

„Liebe Nelda, sei doch nicht gleich so heftig und brauche keine so groben Ausdrücke. Wenn du nicht über all das dumme Zeug nachdächtest, wärst du viel vergnügter — man kann die Welt doch nicht ändern. Ach, wo nun mein Carlo sein mag?! Wie wird er an mich denken! Nicht wahr, du meinst doch auch, er ist der schönste, der beste und der bedeutendste von allen? Glaube mir nur, wenn ich auch nicht so bin wie du, lieben kann ich doch schrecklich. Ich müsste sterben, wenn ich meinen Carlo nicht bekäme. Nein, das ertrüge ich nicht!“

Agnes weinte, der Gedanke war schon schrecklich, die Tränen liefen ihr über die rosigen Bäckchen, leicht und flüssig wie einem Kinde; sie weinte, ohne das Gesicht zu verziehen, es sah ordentlich hübsch aus.

„Ach, Nelda, mir ist das Herz heut so schwer!“

Sie streckte die Arme nach der Freundin aus und schmiegte den Kopf an deren Brust.

Nelda strich ihr über das wellige braune Haar, aber sprach nicht. So blieben sie eine ganze Weile. Es wurde dämmerig, die kleinere Gestalt auf dem Stuhl war schon im Dunkel verschwommen; auf Neldas erhobnem Gesicht lag noch ein fahler Schein, sie starrte vor sich hin. Ihre Augen erhielten einen verträumten Glanz, ihre Hand strich nur noch mechanisch über das weiche Haar der Freundin. Sie dachte der grossen Liebe nach. Und wieder glitt durch das Dunkel die Gestalt ihres Tänzers vom letzten Ball. Sie bemitleidete ihn grenzenlos und — ob sie wohl mal mit Agnes von ihm sprechen sollte?! — —

„Wo seid ihr? Nelda! Fräulein Agnes!“

Die beiden Mädchen schreckten zusammen.

„Ja, Mama!“ Nelda eilte zur Tür. „Wir sind hier, sollen wir kommen?“

„Der Wagen für Fräulein Agnes ist da!“ zeterte die Rätin von unten. „Was, ihr seid noch im Dunkeln? Entschuldigen Sie nur, Fräulein Agnes, fallen Sie nicht auf der Treppe! Nelda, dass du nicht mal dran denkst, eine Lampe zu holen! Hier sind Ihre Sachen, liebes Fräulein Agnes, das Jäckchen und der Hut. Nein, wie reizend Ihnen der Rembrandt steht! Schade, dass Sie Ihr Herr Bräutigam jetzt nicht sieht!“

Die kleine Braut seufzte und liess den Kopf hängen.

„Ach ja, Sie goldenes Herz!“ Frau Rätin umarmte die junge Dame liebevoll. „Sie haben so viel Gefühl, so die rechte Weiblichkeit. Möchte Nelda doch die von Ihnen lernen!“

Nelda gab der Freundin das Geleit vor die Haustür. Mit ihren kräftigen Armen hob sie die leichte Gestalt fast in den Wagen, dann schwang sie sich selbst aufs Trittbrett und drückte ihr, von einem plötzlichen Mutwillen erfasst, einen brennenden Kuss auf den Mund.

„Bild dir ein, dein Bräutigam war’s,“ flüsterte sie lachend.

„O wie du küssen kannst — mein Gott, Nelda!“

„Ja, das liegt nun mal so drin. Adieu, Agnes!“

Sie sprang zurück, die Equipage rollte davon und verschwand bald in der Dämmerung.

Nelda stand noch vor der Haustür; es war ihr nicht kan, im Gegenteil, der Wind wehte lau vom Rhein her und spielte mit dem Haar an ihren Schläfen. Schattenhaft hoben sich die Berge vom Abendhimmel; noch waren die Büsche an ihrem Fuss ganz kahl, an den Chausseebäumen keine treibenden Blattknospen, und doch war schon Frühling in der Luft. Die Dämmerung hatte ein weicheres Grau, der Rhein rauschte, von geschmolzenem Eis und Schnee geschwellt.

Nelda hatte die Hände in die Schürze gewickelt und trat von einem Fuss auf den anderen. Sie mochte noch nicht hineingehen, es hielt sie etwas hier draussen fest wie mit Klammern, eine unwiderstehliche Lust. Es kam ja auch kein Mensch vorbei, die Chaussee so still. Da — Schritte!

Aus dem Grau löste sich eine Gestalt und kam näher, jetzt schimmerten goldene Uniformknöpfe. Nelda stutzte — wer war das? Eine jähe Hitze schlug ihr ins Gesicht.

Der achtlos Vorüberschreitende blieb plötzlich stehen, ein leises: „Guten Abend, Herr von Ramer,“ hatte sein Ohr getroffen.

„Ah — mein gnädiges Fräulein!“

Er fasste die ausgestreckte Hand des Mädchens und verbeugte sich:

„Wie befinden Sie sich, gnädiges Fräulein? Ich habe zwar nicht verfehlt, mich bei Xylanders zu erkundigen, wie Ihnen der Ball bekommen ist — seitdem sind aber sechs Wochen vergangen. Ich hatte nicht den Vorzug, Sie wieder zu sehen!“

Also er hatte sich nach ihr erkundigt! „O, es geht mir gut. Und Ihnen?“

Sie sah ihn forschend an, dabei lag eine so offne Freude auf ihrem Gesicht, dass er unwillkürlich lächeln musste.

„Ich bin dem Geschick sehr dankbar, das mich jetzt hier über die Chaussee führte! Ich bin zu Xylanders geladen, soll den heutigen Abend dort verbringen. Gehen gnädiges Fräulein nicht auch manchmal hin? Ich denke, Sie sind mit Frau Elisabeth befreundet?“

Nelda gab keine Antwort auf die Frage, sie sagte wie aus einem Traum heraus:

„Nein, wie ich mich freue, Sie zu sehen!“

Er schwieg verdutzt, ihre Freimütigkeit war erstaunlich — aber mit einer alltäglichen Höflichkeitsphrase darauf antworten? Nein! So schwieg er.

Sie gingen langsam wenige Schritte auf und nieder. Er sah sie verstohlen von der Seite an: sie hatte doch etwas ungemein Frisches und Nettes, etwas so wohltuend Ungekünsteltes! Mit unwillkürlichem Bedauern glitt es ihm über die Lippen:

„Schade, dass Sie heute abend nicht bei Xylanders sind! Schade!“

„O,“ — sie lachte fröhlich — „wenn ich will, kann ich ’rüber kommen! Bei Xylanders kann ich auch ungeladen erscheinen, sie haben mich oft genug dazu aufgefordert; ich tu es nur selten, das ist’s. Aber wenn’s Ihnen angenehm ist — natürlich komme ich! Ich will es nur meiner Mutter sagen.“ Ein augenblickliches Bedenken liess sie innehalten. „Ah was, sie muss es erlauben!“

„Also auf Wiedersehn?“

Er hielt ihr die Hand hin, sie schlug ein.

„Auf Wiedersehn!“

Mit einem Nicken sprang sie ins Haus.

Während Ferdinand von Ramer mit einem gewissen angenehmen Gefühl der Erwartung die Schelle an Hauptmann Xylanders Tür zog, platzte Nelda in die Küche, wo Frau Rätin auf dem weissgescheuerten Tisch unterm Fenster Wäsche legte.

„Mama, ich geh heut abend zu Xylanders. Ja, lass mich gehen?!“

„Was fällt dir ein? Jetzt auf einmal zu Xylanders?! Nein, du musst nachher mit mir die grossen Stücke recken, die Laura hat keine Zeit. Du weisst, morgen fängt der Hausputz an, sie will sich vorher alles beiseite räumen!“

„Aber ich — ach Mama, lass mich doch gehn! Ich bitte dich, liebe gute Mama, lass mich doch gehn!“

Frau Dallmer war ganz erstaunt. Ihre Nelda so bitten —?!

„Na meinetwegen,“ sagte sie schwach. „Wenn ich nur wüsste, wie du auf einmal die Idee mit Xylanders kriegst! War einer direkt hier und hat dich aufgefordert? Das wäre was andres!“

Es schwebte Nelda auf der Zunge, ‚Ja‘ zu sagen, aber sie schämte sich der Lüge. Eine ganze Lüge wär’s zwar nicht gewesen, aber —. So schüttelte sie den Kopf.

„Es war keiner direkt hier, aber ich möchte doch gern — bitte, lass mich!“

„Ach Gott, was soll ich machen?! — So — — so greulich verzogen!“ Die kleine Frau hatte eben ein grosses Tischtuch vor und zerrte daran aus Leibeskräften.

„Dem Papa wird’s auch nicht angenehm sein, du solltest ihm heut abend vorlesen. Ja, meinetwegen lauf nur! Aber — Nelda, Nelda!“ Die Tochter war schon zur Küche hinaus. „Binde deinen grossen Spitzenkragen um, es könnte doch jemand da sein. Hörst du?!“

Nelda stand vor dem schmalen Spiegel in ihrer Stube und legte den Spitzenkragen über ihr einfaches Kleid. Er stand ihr gut. Der Spiegel zeigte ihr gerötete Wangen und belebte Augen; aus den Spitzen des Kragens hob sich der Hals schlank und weiss. Nelda starrte sich an — war sie das? Stand hier vorm Spiegel und putzte sich, einem Mann zu gefallen?! Was taten die andern Mädchen denn Schlimmeres?

„Nein!“ Sie riss den Kragen vom Hals und schlenderte ihn in den Kommodenschub, dann löschte sie hastig das Licht und rannte im Dunkeln die Treppe hinunter.

Zu ihrem Vater guckte sie einen Augenblick hinein, es brannte noch keine Lampe in der Stube. Der Rat war angegriffen und ruhte, dazu brauchte er kein Licht. ‚Sünde, das teure Petroleum so zu verkokeln,‘ pflegte Frau Rätin zu sagen.

„Papa, bist du böse, wenn ich zu Xylanders gehe?“

„O bewahre, amüsiere dich, mein Kind!“

Sie lief auf ihn zu und drückte ihre frischen Lippen auf seine heisse Stirn.

„Mein guter Papa — du bist sehr warm — adieu, adieu!“

Sie war so flüchtig, in Gedanken schon halb fort.

„Ah, Nelda! Welche Überraschung!“

Frau Hauptmann Xylander öffnete selbst, eine Schüssel Heringssalat in der Hand, sie wollte eben damit in die Essstube gehn. „Ah!“ Frau Elisabeth war aufrichtig erfreut, nur schoss ihr gleich durch den Kopf: ‚Da reichen die Eier nicht, ich muss noch zwei kochen lassen; Nelda hat guten Appetit.‘

„Aber nun legen Sie ab! Das ist wirklich lieb von Ihnen! Wie oft habe ich schon umsonst gebeten. Nein, ich bin ganz erstaunt! So — herein mit Ihnen! Paul, Herr von Ramer, wen bringe ich da?“ Die lebhafte Frau drehte das Mädchen um und um. „Nun sage, Paul, bist du nicht ganz verwundert?“

Nelda war eigentümlich berührt — dieses Erstaunen?! Hatte Ramer sie nicht angemeldet?

Nein. Hauptmann Xylander war ebenso überrascht wie seine Frau, nur betonte er’s nicht so; er zeigte bloss seine Freude.

„Wie hübsch, Fräulein Nelda, dass Sie uns das Vergnügen machen!“

Er hielt ihre Hand etwas länger, als gewöhnlicher Brauch, und sah das Mädchen wohlgefällig an. „Sie kommen so selten, verzeihen Sie daher unsere Überraschung!“

Nelda lachte, aber ihr Lachen hatte etwas Gezwungenes — warum hatte Leutnant Ramer nichts von ihr gesagt? War ihm das unangenehm gewesen?

Sie mass ihn mit einem eindringlichen Blick. Er machte eine tadellose Verbeugung.

„Sehr erfreut, mein gnädiges Fräulein! Habe lange nicht den Vorzug gehabt!“

„Lange — —?!“ Es sprudelte in Nelda heftig auf; fast wider Willen fuhr es ihr heraus: „Es ist doch höchstens eine halbe Stunde her! Sie wussten ja, dass ich kommen würde, Herr von Ramer, warum haben Sie Xylanders nichts davon gesagt?!“

Eine augenblickliche Stille folgte den Worten, das Ehepaar sah sich ganz verwirrt an. Keiner antwortete. Eine verlegene Pause.

Über des Mädchens Gesicht flog Röte um Röte; sie zürnte Ramer, zürnte sich selber — wie laut und hässlich waren eben die Worte im Zimmer verklungen! Wäre sie doch lieber nicht gekommen! Das eigene Benehmen schien ihr plötzlich unpassend, verletzend; sie war dem fremden Menschen nachgelaufen, und er fand’s nicht einmal der Mühe wert, ihrer zu erwähnen? Blitzschnell flog ihr Blick zu ihm hinüber, da stand er und kaute an seinem Schnurrbart; man sah ihm das Missbehagen an, er war ganz blass. Nun begegneten sich ihre Augen.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ murmelte sie plötzlich und streckte ihre Hand nach ihm aus. Ihre Wirte fest ansehend, fuhr sie mit Hast fort:

„Vor einer halben Stunde traf ich Herrn von Ramer vor unserer Tür, wir sprachen miteinander, er ging hierher; ich bekam auch Lust, ich sagte, ich würde kommen, ich wollte gern. Es war sehr taktvoll von ihm, nichts zu erwähnen; ich habe mich taktlos benommen, ich bitte, verzeihen Sie!“

Sie senkte den Kopf.

„Mein Gott, das ist ja urkomisch!“ Frau Elisabeth lachte und lachte in einem fort; sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

Der Hauptmann, dessen Augen einen scharf beobachtenden Blick angenommen hatten, fasste des Mädchens Hand und schüttelte sie herzlich. Auf seinen Zügen lag etwas, das an Bewunderung grenzte.

„Bravo, Fräulein Nelda, das ist ehrlich, das ist recht! Immer mit der Wahrheit heraus, wenn’s auch manchmal komisch aussieht! Da, Elisabeth,“ — er schob seine Frau näher heran — „küsse unsre ehrliche junge Freundin, ich darf’s ja leider nicht!“

Mit einer komischen Gebärde wischte er sich den Mund.

Nelda sah ihn dankbar an und erwiderte den Kuss der Frau Hauptmann.

„O, ich bin froh,“ sagte sie dann aufatmend, „so froh!“

Ihr Blick flog leuchtend durchs Zimmer.

„Und nun zu Tisch, meine Herrschaften, en avant! Die lukullischsten Genüsse warten unser: Heringssalat, Eier, Schinken, etwas undefinierbares Kaltes vom Mittag und ein famoser Edamer, den ich selbst erstanden habe. Was will man mehr? Also, darf ich bitten?“

Xylander reichte, fröhlich lachend, Nelda den Arm; die beiden andern folgten ins Nebenzimmer.

Die kleine Hängelampe warf ein mildes Licht über den runden Tisch, Frau Elisabeth goss Tee ein; es war sehr gemütlich. Wilhelm war als Ältester bevorzugt worden, an der ‚Gosellschaft‘, wie Lollo und Vicky sagten, teilzunehmen. Die beiden Schwestern waren darob sehr gekränkt, lagen in den Betten und schliefen nicht; man hörte ihr Geheul schwach bis hierher. Der Junge war merkwürdig artig, er ass schweigend, und seine grossen runden Kinderaugen folgten jedem Bissen, den Nelda in den Mund steckte.

„Wie sie heulen,“ sagte er plötzlich verächtlich und legte sein Butterbrot hin. „Heulst du auch manchmal?“

Er starrte Nelda fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nie!“

Sie war sich bewusst, dass sie log, denn im selben Augenblick schoss es ihr feucht in die Augen. Was war das nur?! Ihr war heute abend ganz seltsam zumut, so erregt, so traurig, so glücklich. Es kam ihr so schön hier vor — der weisse Tisch, die milde Lampe, die geschäftige Frau, die roten Kinderwangen, das gute Freundesgesicht ihr zur Rechten. Und jene andren Augen! Sie fühlte, dass sie oft auf ihr ruhten mit einem verstohlen langen Blick. Es durchschauerte sie.

„Du lügst!“ kreischte Wilhelm und strampelte vor Vergnügen mit den Beinen. „Du hast ja was Nasses in dem einen Aug — und nu haste’s auch im andern! Du heulst doch, du heulst doch!“

„Junge, Ruhe!“ Des Vaters Hand klopfte derb auf den übermütigen Mund. Frau Elisabeth war ganz starr über die ungewohnte Energie ihres Mannes. Wilhelm gab keinen Laut mehr von sich, nur die runden Augen wurden noch runder. —

Man unterhielt sich gut, wie man sich eben nur bei kleinen freundschaftlichen Zusammenkünften zu unterhalten pflegt. Die beiden Herren erzählten mancherlei von ihrem früheren Beisammensein, das heisst, Xylander erzählte, und auf sein: ‚Wie war’s doch, weisst du noch?‘ gab der andre Bescheid.

Ferdinand von Ramer war kein gesprächiger Mensch; er hatte eine Art, die Lippen zusammen zu pressen, als seien die Worte kostbar wie Gold. Was er sagte, war nicht oberflächlich und mit einem kleinen Hauch von Resignation, den er sich angewöhnt hatte. Nelda gefiel es. Es mahnte sie wie eine geheime Klage; sie dachte immerfort an das Gespräch auf der Brücke in jener Ballnacht. Der arme Mann!

Ihr Herz war weit offen, wie eine freie Halde, über die der Wind streichen kann von Ost und West; ein gefährliches Mitleid setzte sich darinnen fest.

Mit vorgeneigtem Kopf und geröteten Wangen lauschte sie.

‚Wie unrecht man dem Mädchen doch tut,‘ dachte Xylander. ‚Die ist nicht kalt — o nein!‘

Mit einer gewissen liebevollen Besorgnis sah er auf ihren blonden Kopf. Sie hatte ihn halb zu Ramer gewendet, der eben sprach. Nun hob sie die gesenkten Lider, ein Blick traf den Sprecher, ein Blick von einer Hingabe, von einer rückhaltlosen Anteilnahme, dass sich der Hauptmann auf die Lippen biss. Halt, aufgepasst!

Er schaute zu seiner Frau hinüber — ob die was merkte? Nein, die sass arglos, rosig, zufrieden hinter ihrer Teekanne; die dachte nur an ihre Kinder, an ihren Mann, an sich. Damit hatte sie genug zu tun.

Xylander räusperte sich. Die beiden neben ihm waren ganz vertieft.

„Ich denke, wir haben jetzt die Mahlzeit beendet. Kommen Sie, Fräulein Nelda!“

„Ah so!“ Sie fuhr auf. „Gesegnete Mahlzeit!“

„Gesegnete Mahlzeit!“

Man schüttelte sich die Hände; Xylander fühlte, wie kalt des Mädchens Finger waren, dabei glühten ihre Wangen.

Lisabeth, nicht wahr, wenn du jetzt Wilhelm fortführst, nimmst du Fräulein Nelda mal mit zu den Kindern? Sie muss doch unsre schlafenden Rangen bewundern. Ich rauche mit Ramer eine Zigarre nebenan.“

„So, mein Junge, nun setze dich behaglich. Hier hast du Zigarren — zehn Pfennige das Stück — extrafeine rauche ich nicht, bekommen auch gar nicht. So!“

Der Hauptmann schob dem Freund Zigarrenkasten und Feuerzeug hin, dann setzte er sich ihm gegenüber an den kleinen Tisch und drehte die Lampe höher, dass der volle Schein auf den andern fiel.

„Rauchst du denn nicht, Paul?“

„Nein, danke!“

„Nicht? Dann hätte ich’s auch lassen sollen, und wir wären bei den Damen geblieben!“

„O — — —! Meine Frau muss den Jungen ins Bett bringen, sie tut das immer persönlich, und Nelda hat die Kinder sehr gern. Übrigens, nettes Mädchen — nicht wahr?“

Paul Xylander hätte über sich selbst lachen mögen, er sass da, wie ein Fischer und lauerte auf den Fisch, der ihm ins Garn gehen sollte.

Leutnant Ramer hatte mit seiner Zigarre zu schaffen.

„Nettes Mädchen, was?“ wiederholte der Hauptmann.

Ramer rauchte eifrig weiter. Keine Antwort.

„Ich dachte, sie würde dir sehr gefallen — so frisch, so natürlich! Nicht wahr?“

„Hm!“ Der Gefragte verzog keine Miene, seine tiefliegenden, in sich gekehrten Augen folgten starr den duftigen Ringen, die er blies.

Xylander nahm einen mächtigen Anlauf. „Also sie gefällt dir nicht?“ sagte er kühn. „Da habe ich mich aber mal getäuscht! Auf dem Ball im Kasino glaubte ich, du machtest ihr den Hof.“

„Ich — den Hof?!“ Ramer legte plötzlich die Zigarre hin. „Ich mache nie den Hof. Du weisst, bei meinen Aussichten, in meiner Lage, wäre das geradezu ein Verbrechen.“

„Mein Gott, ein Verbrechen?! Nimm’s nicht so pathetisch, alter Junge! Man kann doch einem netten Mädchen den Hof machen, schliesslich —“

„Aber nicht der da,“ unterbrach der andre heftig. „Fräulein Dallmer ist zu schade dazu!“ Er seufzte. „Viel zu schade!“

„Da hast du recht!“

Xylander wurde plötzlich ernst, lehnte sich in den Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Ich will dir mal was sagen, Ferdinand, ich bin neugierig, was aus ihr wird! Vermögen hat sie keins; wenn der Vater die Augen zutut, wird nicht viel da sein. Schwieriger Charakter ist sie, weder schlechtweg schön noch liebenswürdig, so leicht wird sie sich nicht verheiraten. ‚Kein gangbares Artikelchen, kein gangbares Artikelchen‘, wie Siegbert Hirsch auf der Firmung sagt. Ich mache mir manchmal direkt Sorge um sie!“

„Du scheinst dich ja sehr für sie zu interessieren?!“

„Du etwa nicht?“

Beide Freunde starrten sich einen Augenblick an, dann legte der Jüngere die ausgestreckte Hand auf den Tisch.

„Schlag ein, Paul, du bist doch noch der alte: gut, liebenswürdig, besorgt! Denkst du, ich hätte es nicht gemerkt, worauf deine Reden zielen? Sei ohne Sorge, da wird nichts zwischen Fräulein Dallmer und mir. Wenn mein Unglück auch nicht wäre! Solch eine Leutnantsverlobung ohne das nötige Kommissvermögen ist das Grässlichste unter der Sonne. Nebenbei,“ — er lachte bitter — „für mich ist ja selbst diese aussichtslose Quälerei noch ein zu hohes Glück. Alles aus!“

Er stützte den Arm auf den Tisch und beschattete die Augen mit der Hand.

Eine Weile war’s ganz still im Zimmer. Xylander schwieg; was sollte er sagen? Es tat ihm leid, aber doch fiel es ihm wie ein Stein von der Seele. Da war nichts zwischen beiden, Gott sei Dank! Ramers verbohrte Idee von der eignen Ehrlosigkeit war eine gute Wand vor dem Herzen — und Nelda?! Nun, die war ein verständiges Mädchen; der gab man einen zarten Wink, das genügte, und die Sache hatte ein Ende, noch ehe sie recht angefangen.

„Hör mal, Ferdinand, du musst es ihr sagen, so deine Ansichten klar machen — hübsch verblümt natürlich — sie ist klug, sie versteht schon. Es wäre ein Jammer, wenn die Feuer finge und es wäre nachher nichts!“

„Ja, das habe ich mir auch schon gesagt. Natürlich werde ich ihr meine Ansichten auseinandersetzen. Merkwürdig, dass sie gerade an mir Geschmack finden sollte — merkwürdig, aber es ist so!“

Das letzte murmelte Ferdinand von Ramer vor sich hin und zwirbelte zerstreut seinen Schnurrbart. Es war nicht gerade geschmeichelte Eitelkeit, die in ihm aufstieg, aber doch ein nah verwandtes Gefühl.

Warum konnte nicht alles anders sein?!

Er liess die Hand so schwer auf den Tisch fallen, dass der andere zusammenfuhr.

„Bist du nervös, Paul? Haha! Ja, das Leben ist dazu angetan, einen nervös zu machen! Du kannst ja nicht mitreden, aber unsereiner — ha!“ Er zog die Schultern in die Höhe und dehnte sich, als ob er den Brustkasten sprengen wollte. „Das beste wäre, man schösse sich eine Kugel durch den Kopf, dann hätte der verfluchte Name Ruh, und alles was drum und dran hängt!“

„Aber ich bitte dich, Ferdinand, wie —“

Ramer fuhr auf.

„Still, Paul, sage mir nichts! Du musst dich nicht selbst belügen; würdest an meiner Stelle ja ebenso fühlen, denkst nur: muss dem armen Kerl, dem Ramer, doch gut zureden, am Ende bildet er sich dann ein, die Welt hält seinen Vater für einen Ehrenmann, kein Mensch sieht den Flecken auf seinem Wappenschild. Donner und Doria, ich will euer Mitleid nicht! Es ist mir verhasst! Lasst mich doch in meiner dunklen Ecke, was quält ihr mich?“

Er sprang auf und stiess unwirsch den Stuhl zurück.

„Kein Mensch quält dich, du quälst dich selber! Aber jetzt ruhig; die Damen kommen! St! Aha, meine Damen, endlich!“

Die Tür hatte sich geöffnet, hinter Frau Elisabeth erschien Nelda, beide mit erhitzten Gesichtern; das Mädchen ganz zerzaust.

„Nein, hat die mit den Kindern getollt,“ rief die Frau Hauptmann noch ganz atemlos, „das war was für die Wildfänge! Wie sie Nelda zugerichtet haben — schrecklich!“ Sie zupfte an dem Mädchen herum und steckte den halbgelösten Haarknoten fester. „Verzeihen Sie nur, Kind, aber Sie waren selbst dran schuld!“

„Es hat mir Freude gemacht.“ Nelda lachte und nickte den Herren mit strahlenden Augen zu. „Es war himmlisch! Frau Hauptmann, Sie find zu beneiden! Sie auch, Herr Hauptmann! Was gäb ich drum, wenn ich zu Haus so ein zappelndes kleines weisses Ding hätte! Ich würde den ganzen Tag verspielen!“ Ihr Gesicht glühte; mit dem wirren Haar und den halbgeöffneten roten Lippen sah sie sehr hübsch aus. „Es war zu lieb, die Strampelbeinchen festzuhalten und die warmen Bäckchen zu küssen. Mögen Sie auch gern Kinder leiden, Herr von Ramer?“

„Nein — o jawohl, sehr, gewiss — wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein!“

Er hatte ihre Frage gar nicht richtig verstanden, seine Gedanken schweiften weit ab. Da stand das Mädchen mit wirrem Haar, roten Wangen, solch kleines, weisses, zappelndes Ding auf dem Arm — — — schade, die hätte einen glücklich machen können! Ein grenzenloses Mitleid mit sich selbst überkam ihn.

„Ach, schon zehn Uhr?!“

Die Kuckucksuhr im Nebenzimmer rief zehn helle Schläge, Nelda sprang erschrocken auf.

„Da muss ich nach Haus!“

„Wenn Sie gestatten,“ — Leutnant von Ramer erhob sich eilig — „begleite ich Sie, gnädiges Fräulein!“

„Bleib du doch noch,“ rief Xylander. „Ich bringe Fräulein Dallmer die paar Schritt und bin gleich wieder zurück!“

„Nein, nein, für mich ist’s auch Zeit! Lass mich doch,“ flüsterte Ramer dem Freund zu, „es ist ganz gut, ich werde ihr die Situation klarlegen!“ —

Hinter dem jungen Paar schloss sich die Tür des Xylanderschen Hauses. Sie schritten über die einsame Chaussee. Sie gingen sehr langsam. Es war ja noch nicht spät, aber hier draussen alles wie ausgestorben. Ein lauer Windzug strich durch die Nacht, ein warm treibender Hauch war darin, der an Frühling mahnte. Schloss man die Augen und liess die Luft um die Schläfe fächeln, konnte man wähnen, die Büsche am Weg zeigten schüchternes Grün und gleich würde Amselruf ertönen und Froschgequarr aus dem Graben.

Nelda fühlte Frühlingsahnung; sie sagte sich nicht: viel zu früh! Sie liess die unbehandschuhten Hände von der milden Luft bestreichen, das leichte Kopftuch hing ihr halb im Nacken, den Regenmantel hatte sie nicht zugeknöpft. Sie sagte nichts; ihr Gesicht schimmerte weiss im Sternenlicht, die Lippen hielt sie lächelnd geöffnet. Sie sah so froh aus, so jung. Ihr Begleiter schaute sie von der Seite an; sie musste wohl seinen Blick fühlen, denn sie drehte ihm auf einmal das volle Gesicht zu.

„Nun, ist’s nicht schön? Sind Sie froh?!“

Er vermied ihren Blick und starrte auf seine Stiefelspitzen nieder.

„Ich verreise morgen!“

Die Antwort war merkwürdig unvermittelt.

„Sie verreisen?! Ach, wohin denn?“

„Zu meiner Mutter. Sie ist in Sinzdorf bei Bonn.“

„So — also nach Sinzdorf! Wohnt Ihre Frau Mutter da?“

„Sie ist da in der Irrenanstalt.“

„O mein Gott!“

Es war Nelda herausgefahren mit einem tiefen Schrecken, ihr fröhliches Gesicht wurde plötzlich ernst.

„Ja,“ sagte er eintönig, wie man eine gut gelernte Lektion hersagt. „Sie hat das Unglück, das über unsre Familie hereingebrochen ist, nicht ertragen. Ich setze voraus, gnädiges Fräulein, dass auch Ihnen nicht unbekannt ist, was sich die Spatzen auf den Dächern zupfeifen. Mein Vater war — es ift zu schrecklich für den Sohn, das harte Wort auszusprechen — ein Ehrloser. Wissen Sie, was das heisst?! Er hat uns nichts hinterlassen als einen Namen, den zu tragen ein Fluch ist. Die Menschen weisen mit Fingern auf diesen Namen, und wo sie’s nicht tun — aus Mitleid! — wenden sie sich weg und zucken die Achseln. Noch schlimmer! Meine Mutter hat es nicht ertragen, ihr Verstand ist darüber in die Brüche gegangen. Da sitzt sie in Sinzdorf und denkt, sie sei die Kaiserin von Deutschland, putzt sich und behängt ihren armen Leib mit Lappen und hält den Kopf hoch, damit ja die Krone nicht herunterfalle. Meine arme bescheidene Mutter! Sie lacht und lacht — die Wärterinnen tun ihr den Gefallen und reden sie ‚Majestät‘ an — sie ist dann sehr huldvoll und knixt und lacht und lacht und knixt —“

„Hören Sie auf!“

Nelda krampfte ihre Hand um die seine und zwang ihn so, still zu stehn. „Sagen Sie’s nicht so eintönig, nicht so furchtbar! Ich — ich kann es nicht hören!“ Ihre Lippen zuckten.

Er stöhnte auf. „O, das ist noch nicht das Schlimmste!“

Er riss sich los von ihrer Hand und eilte beschleunigten Schrittes weiter, seine Stimme war nicht mehr tonlos, sondern leidenschaftlich erregt.

„Sie ist tot für die Welt. Aber ich, ich muss darin leben! Zwischen Kameraden sein, deren Ehre keinen Fleck hat! Ich muss den Namen tragen, den —! Ich darf an nichts denken, was einen anderen glücklich macht. Karriere, Familie, Liebe, Braut, Frau — — alles aus!“

Seine Stimme sank, bis sie tonlos war wie zu Anfang; es hatte ihn doch übermannt. Er hatte es ihr sagen wollen, schonungslos, aber ruhig; nun hatte er etwas heraufbeschworen, was ihn selbst aus der Fassung brachte, er war nicht mehr Herr über sich. Er fühlte, wie seine Stimme versagte und sein Herz pochte. Es flimmerte ihm vor den Blicken.

Neldas Augen waren fest auf ihn gerichtet, gross und schwimmend; nun löste sich langsam eine Träne nach der andern unter ihren Wimpern.

„Sie weinen —?! Fräulein Nelda!“

Sie blieb stehen, er hielt ihre Hände; ein seltsames Wohlgefühl lief ihm durch die Glieder.

„Armer — armer —!“ Sie schluchzte laut.

„Sie weinen um mich?!“ Unwillkürlich flüsterte er. „Sie liebes gutes Mädchen, ich danke Ihnen! So kann ich doch sagen,“ setzte er noch leiser hinzu, „es hat auch einmal jemand um mich geweint! — — — Fräulein Nelda, weinen Sie wirklich um mich?“

„Ja, um Sie!“

Sie hob das tränenüberströmte Gesicht mit einem innigen Ausdruck zu ihm auf. „Sie tun mir so schrecklich leid! Wenn ich Ihnen doch helfen könnte! Ach, ich bin so traurig! Ich muss die ganze Nacht daran denken und noch viel, viel länger! Es ist zu schrecklich — Ihre arme Mutter — und Sie! O was gäb ich drum, könnt ich Ihnen helfen!“

„Fräulein Nelda!“

Er konnte nicht anders, er musste ihre Hände an die Lippen führen, eine Hand nach der andren. Ihre Tränen taten ihm so wohl, wie der Regen einem verkümmerten Saatfeld. Freilich war’s ihm, als sagte ihm die innere Stimme: du hast deine Sache nicht gut gemacht, warum hast du ihr eigentlich all das erzählt? Nicht um ihre Tränen fliessen zu machen und ihr dann die Hände zu küssen und auf der einsamen Chaussee still zu stehen und in überströmende Mädchenaugen zu blicken. Du wolltest doch sagen: geh weg! Und du sagst: komm her! — — —

Ramer schreckte zusammen und liess die Hände des Mädchens fahren, eine undeutliche Entschuldigung murmelnd. Er sah sich um.

„Pardon, gnädiges Fräulein, wir sind zu weit gegangen! An Ihrem Hause sind wir längst vorüber, wir müssen umkehren.“

„Ach so!“ Sie lächelte ihn an, noch Tränen in den Wimpern.

Sie schritten zurück, aber jetzt rascher; sie sprachen auch nicht mehr miteinander, der Wind war ihnen nun entgegen und fächelte schärfer Neldas heisses Gesicht. Sie weinte nicht mehr, im Gegenteil, ein glücklicher erwartungsvoller Glanz lag auf ihren Zügen.

„Gute Nacht,“ sagte sie lächelnd an der Haustür. „Gute Nacht — auf Wiedersehn!“

„Gute Nacht!“

Er verbeugte sich tief, ohne ihre Hand zu nehmen, dann trat er zurück.

Einen Augenblick hielt sie noch zögernd die Klinke — sie horchte auf seine sich entfernenden Schritte. Nun waren sie verklungen. „Auf Wiedersehen,“ murmelte Nelda, kaum die Lippen bewegend; dann schloss sie die Tür.

Drinnen im Flur war eine erbärmliche Beleuchtung. Auf der untersten Treppenstufe stand die kleine Küchenlampe, tief niedergeschraubt, und verbreitete einen durchdringenden Petroleumgeruch. Die Eltern schienen bereits zu Bett, ebenso die Magd. War’s denn schon so spät?! Nelda nahm die Lampe und stieg die Treppe hinauf.

Eben jetzt öffnete sich im ersten Stock die Schlafzimmertür, und Frau Dallmers kleines vergrämtes Gesicht mit dem spitzen Näschen unter der weissen Nachtmütze guckte heraus.

„Nelda, bist du’s? Wir sind schon zu Bett gegangen, der Papa fühlte sich heut abend so schwach. Auch die Lena schläft, sie hat morgen die grosse Scheuerei. War’s hübsch bei Xylanders? Was habt ihr gegessen? Hast du die Haustür auch zugeschlossen?“

„Es war sehr hübsch, Mama!“

„Hast du die Haustür auch wirklich ordentlich zugemacht?“

„Ja, ja!“

„Und lass die Lampe nicht so lang mehr brennen, das Petroleum ist haarsträubend teuer, dreissig Pfennig das Liter. Hörst du? Tu nicht, als ob wir’s so könnten! Ach Gott ja, wenn du — war sonst niemand bei Xylanders, kein Bekannter von ihm?“

„Gute Nacht, Mama!“

Hastig stieg Nelda die zweite Treppe hinan; sie antwortete nicht mehr, ihr Herz klopfte. Oben in ihrem Giebelstübchen setzte sie die Lampe auf den kleinen Tisch am Bett und liess sich schwer auf den Stuhl daneben fallen. Wie im Traum streifte sie das Kleid ab und zog die Nadeln aus dem Haar; lang und dicht fiel es ihr um die nackten Schultern. Zerstreut zog sie das Ende einer Strähne durch die Finger, ihre Augen starrten wie gebannt in den flimmernden Lichtkreis der kleinen Lampe. An was dachte sie? Sie wusste es selbst nicht. Es wogte in ihr auf und ab, es sprühte Tropfen und zog wirbelnde Kreise, wie Wasser, in das man jäh einen Stein geworfen hat.

So sass sie lange.

Dann trat sie vor den Spiegel und blickte unbeweglich mit weitgeöffneten Augen hinein.

„Bin ich das?“ fragte sie langsam und laut, und eine glühende Blutwelle schoss ihr in die Wangen. Sie schloss die Augen halb und lächelte. „Ich glaube, er mag mich — ja, ja!“ Sie nickte dem Bild im Spiegel zu. „Ja du, sa!“

Ein plötzliches Knistern in der Zimmerecke liess sie zusammenfahren; zwischen Tapete und Mauer rieselte nur Mörtel herunter, aber sie erschrak. „Dummheit!“ Mit einem Ruck schleuderte sie die Röcke von sich und sprang ins Bett. Da sass sie halbaufgerichtet und flocht das lange Haar in einen Zopf für die Nacht; sie sah aus wie ein Kind mit der hängenden Flechte und den schlanken Armen. Sie verschränkte sie hinterm Kopf und lag dann regungslos ausgestreckt. Eine Stunde verging, die Lampe schwelte, der Docht begann zu verkohlen; mit grossen verträumten Augen blickte sie auf einen Punkt. Die weisse Brust hob und senkte sich in kräftigen Atemzügen; es war Nelda unendlich wohl.

Mit einein hässlich qualmenden Dunst erlosch die Lampe. Sie merkte es nicht. Sie lag mit offnen Augen im Dunkeln; endlich wurden ihr die Lider schwer, ihre Gedanken verwirrten sich.

„Ob er wohl — an — mich — denkt — — armer — — Sinzdorf — morgen — auf Wiedersehn — auf W — —“

Die Zunge gehorchte nicht mehr, der Traum kam und jagte bunte Bilderreihen vorüber. Und alles wob sich um eine Gestalt.

Rheinlandstöchter

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