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ОглавлениеIn der guten Stadt Koblenz donnerten die Karossen. Im Kasino war grosser Ball; Militär und höheres Beamtentum gaben das zweite diesjährige Winterfest.
Wenn ein Ort auch in die Vierzigtausend geht, sämtliche Einwohner nehmen an solch wichtigem Ereignis doch teil, wenn sie auch nur auf der Gasse gaffen und sich von den vorüberfahrenden Wagen mit Schmutz bespritzen lassen. In der Kasinostrasse, vorm Haupteingang, standen die Menschen dichtgedrängt.
„Hau, die is schön!“
„Kuck mal!“
„Die in Weiss! Und die in Rosa — ne, die is nit so schön!“
„Potztausend, is die fein!“
Bei jedem Wagen, der vorfuhr und sich seines Inhalts entledigte, ging die Kritik von neuem los. Wie eine Welle flutete der Schwarm der Neugierigen näher, vorwitzige Buben schlüpften bis ans Trittbrett und stellten Betrachtungen über die Grösse der atlasbeschuhten Füsse an, die sich da hinabschwangen.
Mütter hielten ihre vermummten Kleinen in die Höh:
„Kuckt, wat feine Damens!“
„Die sind glücklich!“ dachte manch armes junges Ding bei sich, das fröstelnd in der Gosse stand, mit begehrlich glänzenden Augen, die klammen Finger in die Schürze gewickelt.
Nelda Dallmer war durchaus nicht glücklich, als sie mit der Mutter über die dunkle Chaussee patschte. Tauwetter. Sämtliches Eis geschmolzen; von den kahlen Bäumen tropfte es nieder in Lachen und Rinnsale, dass sie aufspritzten.
Beide Damen waren hochgeschürzt, darüber weite Mäntel und Tücher um den Kopf; in den plumpen Gummistiefeln steckten die dünnen, weissbestrumpften Wädchen der Rätin und leuchteten gleich Wegweisern vor Nelda her. Missmutig schlenderte diese hinterdrein. Ach, der Ball — und bei solchem Wetter! Die Mutter hatte schon den ganzen Tag lamentiert über das Opfer, das sie der Tochter bringen musste, über die unausbleibliche Erkältung und so weiter, und doch hatte sie mit fiebernder Geschäftigkeit an dem Schlachtopfer herumgeputzt. Wie ein solches liess Nelda alles über sich ergehen.
Als sie fix und fertig, im weissen Tüllkleid, unten in der Wohnstube vorm Pfeilerspiegel stand, ging der Vater mit dem Lorgnon betrachtend um sie herum.
„Du siehst gut aus, mein Kind!“
„Ach ja,“ meinte die Frau Rätin, „hier zu Hause! Aber sind wir erst da, fällt sie doch sehr ab zwischen all den reizenden Erscheinungen. Du solltest wenigstens die Blumen nehmen, Nelda,“ — sie brachte ein paar unmögliche Kornblumen herzu — „das macht gleich lieblicher.“
„Ich danke, Mama!“ hatte das Mädchen kurz erwidert und das blitzblaue Gewinde beiseite geschoben.
„Warum denn nicht?“ Und nun hatte es einen kleinen Kampf gegeben, der damit endete, dass die Mutter mit roten Bäckchen, erhitzt, vorausstapfte, und die Tochter, bleich, mit zusammengepressten Lippen, folgte — ohne Blumen.
Die Damen Dallmer besuchten stets zu Fuss Bälle und Gesellschaften in der Stadt. Ein Wagen über die Brücke kostete hin und her, mit Warten und allem, gegen zehn Mark, das war denn doch zu teuer; und da man zum Vergnügen musste, ging man einfach. Xylanders machten’s ebenso; komisch, dass man sich nie unterwegs traf! Das war so eine unschuldige List der guten Rätin. Sie lauerte hinterm Fenster, bis Hauptmanns vorüber gewandert waren, und blies dann erst selbst zum Aufbruch. Es brauchte doch keiner vom andern zu wissen, dass er zu Fuss ging; man konnte ebensogut gefahren sein.
Es war schon ziemlich spät, als Dallmers am Kasino anlangten, die letzten Wagen rasselten eben vor. Auf der Treppe waren Teppiche gelegt, hellgrau, mit pompös roten Rändern; die schmutzigen Galoschen der beiden Fussgängerinnen liessen hässliche nasse Tappen darauf zurück.
Nun waren sie in der Damengarderobe. Heiss, vollgedrängt. Ein Gewirr von blauen, gelben, grünen, rosa Toiletten. Dazwischen Mütter in steifseidnen Kleidern, raschelnd, sich blähend wie aufgetakelte Fregatten. Erregte Väter, galante Gatten draussen wartend auf dem Gang; vor der Saaltür ein ganzer Trupp junger Männer — Offiziere, befrackte Herren — sie lassen die Ausstellungsobjekte Revue passieren.
„Du — wenig weiss!“ flüsterte Frau Dallmer der Tochter ins Ohr, als sie vorm Spiegel an ihr herumzupfte. „Sehr angenehm für dich! Warte, nein, halt! Hier die Haarnadel muss ich noch mal herausziehen — und was ist denn das? Mein Gott, du hast ja unten die Falbel ganz schief aufgenäht! Nein, so kannst du unmöglich gehen! Gott, Gott, ich habe es zu Hause bei der schlechten Beleuchtung gar nicht gesehen! Nadeln, Nadeln!“
„Lass nur, Mama, es ist ganz gut so!“ Nelda schüttelte gelassen die etwas zerdrückten Röcke. „Komm jetzt ’rein!“
Die beiden drängten sich durch.
„Ah, Frau Rätin! Guten Abend! Ohne den Herrn Gemahl? Und Fräulein Nelda, so strahlend! Ganz entzückend!“
„Nein, wie reizend, dass wir uns treffen!“ sagte beglück! die gute Dallmer und schüttelte Frau Doktor Schmidt die Hand. „Sind Oberkonsistorialrats auch schon hier?“
„Freilich, da stehen sie ja! Sehen Sie nur, wie sie die Töchter wieder gemustert hat — kaum glaublich! Milchen mit dem Rosenkranz über dem finnigen Gesicht, und Tonchen in Hartrosa bei ihren starken Farben!“
„Grässlich,“ stimmte Frau Rätin zu.
Eben kam die geistliche Dame angerauscht; ihre würder volle Gestalt prangte in Seide von einer unbeschreiblichen braunen Farbe, auf ihrem, mit mächtigen Flechten gezierten Haupt bäumten sich drei weisse Straussenfedern. Rechts und links trippelten Milchen und Tonchen in Blau und Rosa.
„Ah, meine teuren Freundinnen,“ — der sonore Kanzelton hatte etwas ungemein Schmelzendes — „seien Sie gegrüsst! Welche Fügung, dass wir uns schon hier treffen! Wir wollen uns nachher zusammensetzen. Ich spiele ja keinen Whist, es verträgt sich nicht mit unserm Stand — ach, man handelt schon gegen seine Überzeugung, dass man überhaupt hier ist! Aber —“ sie zuckte die Achseln und streifte Blau und Rosa mit einem mütterlich stolzen Blick — „was tut man nicht seinen Kindern zuliebe?!“
„Natürlich, natürlich! Nein, wie einzig Fräulein Milchen und Tonchen aussehen! Wie ein Frühlingstraum!“
Blau und Rosa knixten, verschämt errötend, und umschlangen dann Nelda.
„Ich bin schon zu drei Tänzen engagiert,“ wisperte Tonchen mit den Apfelbacken, und Milchen mit dem Finnengesicht musterte schnellen Blicks das weisse Kleid der Kränzchengenossin:
„Du hast nur Satin drunter, nicht? Ich habe Seide, das ist doch viel angenehmer.“ Und dann zwitscherten beide unisono: „Zu nett, dass wir uns gleich getroffen haben, liebste Nelda!“
„Ja, zu nett,“ war die eigentümlich betonte Antwort. Dann schritten alle drei, in lieblich schwesterlicher Eintracht, zur Garderobe hinaus.
Draussen auf dem Gang empfing der Herr Oberkonsistorialrat die Seinen; er reichte seiner Frau den Arm, Blau und Rosa schwebten vor den Eltern her. Die Gruppe an der Saaltür machte mit untertänigen Bücklingen Platz, aber Frau Zängleins scharfes Ohr fing doch eine nur hingehauchte Bemerkung auf. ‚Sie sieht aus, wie ein aufgezäumtes Schlachtross des Altertums‘ — ‚und die beiden Bunten wie die Läufer, die voran plänkeln‘, flüsterte eine zweite Stimme. Frau Oberkonsistorialrätin zuckte zusammen. Heute war ein entschiedener Pechtag, schon beim Aussteigen hatte ein Gassenjunge ‚dat Elefantenbein!‘ gerufen, und die Gaffer hatten gelacht.
„Unverschämt,“ murmelte sie und gab Blau und Rosa einen kleinen Puff in den Rücken. „Haltet euch nicht steif, nicht so wie Nelda Dallmer, die einen Ladestock im Rücken hat. Verneigt euch doch!“ Und Blau und Rosa verneigten sich.
Im Saal standen massenweis junge Damen an den Wänden herum, Tanzkarten in den Händen. Auf der Estrade stimmte die Militärkapelle ihre Instrumente.
Eine erwartungsvolle Stille schwebt über dem grossen, glänzend parkettierten Raum — die Stille vor dem Sturm. Eine Gaskrone und viele Kandelaber strahlen, ein leicht beklemmender Duft von Blumen und Parfüms schwebt in der Luft.
Über dem grossen Kronleuchter hockt etwas Seltsames; man sieht es nicht, aber man fühlt es. Es senkt sich von da oben herab in den Saal, es treibt die jungen Herren zu schwänzeln und zu tänzeln, die jungen Damen zu lächeln und zu äugeln, die biedern Elternpaare verbindliche Dinge zu sagen und im Herzen das Gegenteil zu fühlen. Es ist etwas Merkwürdiges, etwas Lauerndes wie auf der Jagd, was im Saal herumstreicht — gleich wird der Kapellmeister den Taktstock heben — schnedderedengdeng! huss! heissah! fass! Die Hatz geht los!
Nelda Dallmer stand ruhig an der einen Seitenwand, weiss und klar hob sie sich von ihrer bunten, unruhig trippelnden Umgebung ab. Was sich die Mädchen nicht alles zu sagen hatten! Sie waren plötzlich die intimsten Freundinnen, besonders wenn ein Herr sich näherte, einer mit klingenden Sporen und siegreichem Schnurrbart, oder ein befrackter, chapeau claque unterm Arm. Dann steckten sie die Köpfchen zusammen und tuschelten und kicherten und bebten wie Blumen vorm Sturmwind. Und die Herren der Schöpfung strichen herum, schlugen die Hacken zusammen, naschten hier ein wenig Honig und dort, setzten den schärfsten Klemmer auf die Nase und suchten die beste Ware aus. ‚Schwer reich‘ ging am reissendsten ab, dann ‚schön‘ und ‚tanzt gut‘; das übrige wurde verauktioniert.
Neldas Tanzkarte war noch nicht gefüllt. Ein paar Mal war schon der ängstliche Blick der Mutter fragend zu ihr herüber geflogen, sie hatte als Antwort gelächelt. Jetzt setzte die Musik ein, als sollte eine Kavalleriebrigade ins Feuer rücken, die Tänzer stürzten auf ihre Erkorenen los — ein Scharren, ein Beugen in den Knieen — heidi, fort ging’s!
„Darf ich bitten, Fräulein Nelda?“ Hauptmann Xylander hielt dem Mädchen seinen Arm hin. Er sagte nicht ‚gnädiges Fräulein‘; er kannte sie ja schon, als sie noch mit wehenden Zöpfen auf der Chaussee Seilchen sprang.
Der lange Hauptmann mit den kurzsichtigen Augen, um dessen Mund es oft so gutmütig sarkastisch zuckte, war kein grosser Tänzer vor dem Herrn; er stiess mit den Knieen und trat vorzugsweise gern auf fremde Füsse, doch war er Nelda lieber als der schneidigste Ballöwe. Er raspelte kein Süssholz, er sagte nie, was er nicht wirklich meinte. Er war Nelda sympathisch, und ihr jedesmaliges Kotillonbukett stammte entschieden von ihm; das war schon usus.
Mit einem freundlichen Nicken legte sie die Hand auf seinen Arm; sie tanzten davon, ein-, zweimal herum, dann suchten sie ein Plätzchen in einer Ecke.
„Fräulein Nelda,“ sagte Hauptmann Xylander, „machen Sie nicht so finstre Augen, es steht Ihnen nicht. Sehen Sie sich nur einmal die Jugend rund umher an! Ihre Freundinnen verstehen es alle besser, die Blicke spielen zu lassen.“
„Es sind nicht meine Freundinnen.“ Die Antwort klang herb. „Ich danke dafür.“
„Nun, nun, ich wollte Sie nicht beleidigen, pardon!“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Wie konnte ich Sie auch mit den Gänschen auf dem Gänsemarkt vergleichen? Ha ha, Fräulein Nelda, der hübsche Vergleich ist mir zu Ohren gekommen. Sehen Sie, drüben schnattern ein paar recht lustig!“
Er wies mit den Augen auf die andre Saalseite, wo gerade Lena Röhling und Anselma von Koch in lebhaftester Unterhaltung mit ihren Tänzern begriffen waren.
Lena Röhling — Tochter eines Grossindustriellen, Vater machte in Eisenbahnschienen — war klein, dick, lachlustig, sehr begehrt; hätte nicht nötig gehabt, so zu kokettieren, wie sie es eben tat. Doch zweierlei Tuch, besonders wenn ein Adelswappen darauf klebte, war zu ausserordentlich einnehmend. Sie legte den Kopf auf die Seite und blinzelte von unten herauf den jungen Offizier an, schelmische Grübchen erschienen in Wangen und Kinn; man sagte, sie hätte Perlzähne, nun nutzte sie auch jede Gelegenheit sie zu zeigen. Jetzt kicherte sie hell auf, hielt sich mit dem Fächer die Augen zu und hob neckisch drohend das Fingerchen.
Anselma von Koch, die Freundin der kleinen Dicken, machte es anders. Als Tochter des Kommandierenden war sie stets von Leutnants umlagert, die bunten Jacken verdrängten jedes befrackte Individuum aus ihrem Strahlenkreise, aber die moderne junge Dame hatte praktischen Sinn; sie zog das Reelle vor. Heut hatte ihr ein günstiger Wind — ‚Fügung‘ würde die Oberkonsistorialrätin sagen — den kürzlich nach Koblenz versetzten Landrat schon zum ersten Tanz in die Arme getrieben. Hübscher Mann, wenn auch nicht ganz jung, und sehr wohlhabend; sie nagelte ihn gleich ordentlich fest. Es wurde ihr nicht schwer, sie war ein schönes Mädchen mit voller Büste und Wespentaille, dazu hatte sie prachtvolle, blaue Augen und etwas Sieghaftes im Ton. Die Sache konnte sich machen.
Den Leutnants wurde angst, sie massen den unverschämten Zivilisten mit durchbohrenden Blicken und schlugen die Hacken zusammen, dass die Sporen klirrten. „Gnä’ges Fräulein, befehlen Extratour?“ „Gnä’ges Fräulein — ä — ä — so ungnädig heute abend?!“ Es verfing nicht, die Leutnants blitzten ab, Anselma von Koch blieb bei dem einmal für gut Befundenen.
Nelda Dallmer musste laut lachen, und Hauptmann Xylander stimmte mit ein. Eine Weile lachten sie, dann hob das Mädchen, plötzlich ernst werdend, die Augen zu dem Partner, kluge Augen von einem weichen Grau unter dunklen Brauen.
„Tanzen wir, ich werde sonst wieder boshaft, und ich hasse mich, wenn ich boshaft bin.“
„Wie Sie befehlen.“
Sie machten noch eine Tour. Mitten im Drehen fragte Xylander:
„Warum sind Sie boshaft? Wenn Sie nicht wollen, müssten Sie doch so viel Gewalt über sich haben — wie?“
Sie murmelte etwas Unverständliches. „Gewalt über mich? O!“ Die Hand auf seinem Ärmel zuckte. „Ich habe keine Gewalt über mich,“ stiess sie hervor. „Ich könnte manchmal alles zusammenschlagen, mich selbst mit — grässlich — ich kann’s nicht ändern — manchmal könnt ich auch lieb sein — dann muss ich jedes Kind auf der Chaussee küssen — albern — ich kann’s auch nicht ändern! Nein, ich habe keine Gewalt über mich — o nein!“
Sie tanzte beschleunigt fort, fast wild und riss ihn mit; sie kamen aus dem Takt. Gut, dass die Musik mit einem Pankenschlag endete.
Kleine Pause. Die Konversation im Saal wurde lebhafter. Geschwirr, Rauschen von Schleppen, Lachen, Scharren; man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen.
Xylander warf verstohlen einen Blick auf Neldas Tanzkarte — gerade der erste Walzer nicht besetzt, wie unangenehm für das Mädchen!
„Soll ich Sie zu meiner Frau führen? Elisabeth würde sich so freuen mit Ihnen zu plaudern. Sie sind erhitzt, Fräulein Nelda, es wäre besser, Sie pausierten den nächsten Tanz. Bitte, tun Sie es!“
Sie lächelte und sah ihm gerade in die Augen.
„Wie nett Sie sind! Aber verstellen Sie sich nicht. Ich bin nicht erhitzt — und wenn auch! Es ist Ihnen unangenehm, dass ich den nächsten Tanz schimmle. Mir nicht. Aber bitte, bringen Sie mich zu Ihrer Frau!“
Frau Elisabeth Xylander war sehr vergnügt, sie ging so gern auf den Ball, trotz ihrer fünfe. Mit sorgloser Fröhlichkeit, wie eine Siebzehnjährige, gab sie sich dem Wiegen des Tanzes hin. Heute war’s freilich ein heisser Tag gewesen — grosse Wäsche, selbst Buschmann musste dabei helfen — Frau Hauptmann hatte allein die Kinder zu hüten, das Essen zu kochen, und wie immer alles im ungeeignetsten Moment kommt, so war es auch heute gewesen. Wilhelm kehrte mit einer Beule aus der Schule zurüss, dick wie ein Hühnerei; Lollo und Vicky zankten, gingen mit Stöcken auf einander los und zerschlugen den Spiegel über der Kommode. Während die Mutter auf der Diele kniete und die Trümmer zusammen las, kam Karl angekrochen und zerschnitt sich an einem Scherben das Fingerchen. Grosse Heulszene mit Rutenstreichen und so weiter. Heiss und abgehetzt war Frau Elisabeth im letzten Augenblick in den Ballstaat geschlüpft. Der war schon geraume Zeit immer der gleiche, ein weissseidenes Kleid, je nach Bedürfnis zurecht gemacht; allzuviel hatte sie ja überhaupt nicht dem Vergnügen des Tanzes huldigen können, von wegen der fünfe.
Nun stand sie aber, freundlich wie ein Sonnentag, im hell erleuchteten Ballsaal. Die rundlichen Schultern sahen weiss und appetitlich aus dem Festgewand, an der Brust trug sie ein Sträusschen roter Winterbeeren und ein paar Efeublätter — die Kinder hatten’s im Garten zusammengelesen.
„Gut, dass du kommst, Paul,“ rief sie lachend, noch atemlos von der letzten Tour, ihrem Mann entgegen, „und wie schön, dass du Fräulein Nelda mitbringst!“ Herzlich streckte sie dem jungen Mädchen die Hand entgegen. „Hier, Ramer ist wieder in seiner schwärzesten Laune, es will mir nicht gelingen, ihn aufzuheitern. Vielleicht glückt’s unserm losen Züngelchen da besser!“
Sie griff scherzend nach Neldas Ohrläppchen und zwickte es.
„Kommen Sie, Kind, lassen Sie sich miteinander bekannt machen. Paul, stelle mal vor!“
„Gestatten Sie — Premierleutnant Ferdinand von Ramer, mein langjähriger Freund und jüngerer Kamerad vom Kadettenhaus her, jetzt zu meiner grossen Freude hierher versetzt — Fräulein Nelda Dallmer, unsere Nachbarin auf der Chaussee!“
Nelda verneigte sich; sie sah, wie die Augen des fremden Offiziers gleichgültig aufblickten und sich sofort wieder zu Boden senkten. Auf einmal schoss es ihr durch den Kopf — Ramer, Ramer — wo hatte sie den Namen doch schon gehört? Richtig, vor drei, vier Jahren hatte er in sämtlichen Zeitungen gestanden, da regte dieser abscheuliche Spielerprozess alle Gemüter auf. War das etwa der Sohn von jenem berüchtigten Ramer oder sonst ein Verwandter? Sie sah den Fremden mit einem gewissen Interesse an. Er hatte sich halb abgewendet und liess Frau Elisabeth auf sich einreden; er sah nicht mehr jugendlich genug für einen Premier aus, obgleich sein Gesicht hübsch war und seine Haltung eine tadellose.
Xylander trat dicht an Nelda heran und flüsterte, seinen Schnurrbart drehend, hinter der vorgehaltenen Hand: „Sie kennen doch die böse Geschichte? Habe ihn heute zum ersten Mal herausgelotst — armer Kerl, famoser Mensch — seien Sie ein bisschen nett zu ihm, Fräulein Nelda, er hat’s nötig!“ Laut setzte er hinzu: „Empfehle mich den Herrschaften. Du verplauderst wohl den nächsten Tanz mit Fräulein Nelda, Lisabeth? Habe selbst noch eine Pflichttour abzumachen — o je!“ Und mit einem komischen Seufzer chassierte der lange Hauptmann durch den Saal auf ein verblühtes ältliches Mädchen zu, das ihm aufleuchtenden Blicks entgegensah.
Die drei schauten ihm nach. „Wie gut Paul ist,“ sagte der Fremde plötzlich, „noch immer der alte liebenswürdige Mensch!“
„Ja, das ist er,“ nickte Frau Elisabeth stolz, doch mischte sich ein Teilchen Unzufriedenheit in ihren Ton. „Wenn er nur nicht immer so unpraktisch wäre! Selbst mit dem Tanzen ist es so, an die Schönen und Begehrten macht er sich nicht, immer nur, was da so herumsitzt.“ Sie bewegte die Hand bezeichnend nach der verblühten Dame hin. „Ich predige ihm oft, aber er nimmt immer das, was kein andrer mag!“
„Ja, mit mir hat er auch getanzt. Sehen Sie, Frau Hauptmann, und noch hinter zwei Tänzen steht sein Name!“ Nelda hielt der Verblüfften ruhig ihre Tanzkarte hin.
„Aber — aber — Kind — Sie — wie können Sie nur denken?!“ stammelte Frau Elisabeth in tödlicher Verlegenheit.
„O, das macht gar nichts,“ lachte Nelda, „ich nehme es nicht übel. Wenn ich einen so netten Mann hätte wie Sie, wäre mir auch das Allerbeste nur gerade gut genug für ihn. Aber es geht ja im Leben nicht immer nach Wunsch. Ich wäre auch lieber wo anders, als hier!“ Überrascht sah der Fremde auf, sie merkte es nicht. „Finden wir uns beide drein und nichts für ungut!“ Sie hielt der Verlegenen die Hand hin.
Frau Elisabeth war es ganz heiss geworden; ein Glück, dass jetzt ein Herr vom Regiment auf sie zukam und um den nächsten Walzer bat.
„Ich wollte — ich sollte — mein Mann wünschte — nein, nein, ich danke!“
„Aber, gnädige Frau, Sie, als vorzüglichste Walzertänzerin, werden doch nicht pausieren? Ich bitte, ich bitte dringend!“
Die junge Frau schwankte — eben hob der Kapellmeister den Taktstock, die ersten Töne der ‚schönen blauen Donau‘ wiegten durch den Saal — sie sah auf Nelda.
„Natürlich wird die Frau Hauptmann tanzen,“ sagte diese.
Der schweigsame Leutnant von Ramer fuhr wie aus einem Traum auf. „Vielleicht nehmen gnädiges Fräulein inzwischen mit mir vorlieb?“ Er machte Nelda eine tiefe Verbeugung. Sekundenlang sah sie in ein paar schwermütige Augen von unbestimmter Farbe, die mit einer gewissen Bewunderung auf ihr ruhten. Wider ihren Willen errötete sie; sie fühlte es, sie ärgerte sich darüber, und die Glut stieg ihr noch tiefer, bis hinab in den Ausschnitt des weissen Kleides.
Sie stand regungslos und neigte nur zustimmend den Kopf; schon wirbelten die ersten Paare vorüber, auch Frau Elisabeth walzte selig davon. Mit einer wunderlich gemischten Empfindung von Dankbarkeit und Mitleid legte Nelda Dallmer ihre Rechte in die Hand Leutnant von Ramers — eine nervös zuckende heisse Hand, sie fühlte es bis in die Fingerspitzen.
Nie hatte Nelda Dallmer gut Walzer getanzt, heut konnte sie ihn; sie tanzte mit erwachender Lust.