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1.2. Vom Fallen

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Und dann kam die Sekunde, die mein Leben verändert hat.

Ich sitze auf einem Pferd.

Das Pferd scheut.

Ich stürze.

Ich finde mich im Staub der Reithalle wieder. Etwas Warmes läuft meine Schläfe herunter. Meine Tochter schreit und rennt auf mich zu. Ich will aufstehen, mir den Dreck von den Klamotten klopfen und das Pferd für heute absatteln.

Aber ich kann nicht aufstehen, mich kaum bewegen. Ich habe stechende Schmerzen im Rücken. Ich realisiere, dass es vielleicht besser ist, nicht aufzustehen. Als wenige Minuten später die Rettungssanitäter kommen, die mich beherzt wieder auf die Beine stellen wollen, werde ich ziemlich bestimmt und bestehe auf den Notarzt. Was für ein Glück!!

Der Notarzt lässt mir Zeit, mich behutsam und Stück für Stück selbst auf die Trage zu rollen, dann geht es ins Krankenhaus. Jede Unebenheit auf dem Weg dorthin fährt mir in den Rücken wie ein Messer. Die Luftmatratze, auf der ich gebettet bin, hat ein Loch, durch das pfeifend die Luft entweicht. Ich sehe das ängstliche Gesicht meiner Tochter und versuche, sie zu beruhigen.

Endlich kommen wir im Krankenhaus an und ich werde sofort geröntgt.

Diagnose: Doppelter Wirbelbruch.

„Ich werde die Premiere meines nächsten Tanztheater-Stückes nicht tanzen können“, denke ich. Das ist in diesem Moment tatsächlich meine einzige Sorge.

Ich muss sofort operiert werden. Zwei Wirbel sind zertrümmert und ein Knochensplitter ist Bruchteile von Millimetern von meinem Spinalkanal entfernt. Es droht eine Querschnittslähmung. Ich unterschreibe die Papiere mechanisch, sehe in das Gesicht meiner Tochter und meines Mannes und realisiere, dass die nächsten Stunden über mein Leben bestimmen werden. Und es gibt nichts, was ich tun kann. Außer beten.

Als ich erwache, steht eine Armada von weißbekleideten Menschen um mein Bett. Ich bin benommen und sehe nicht richtig, weil meine Kontaktlinsen weg sind. Da stehen diese fremden Männer um mein Bett herum und reden über mich, als sei ich nicht anwesend, verrückt geworden oder schon tot.

„Das ist der Reitunfall“, sagen sie.

Ich fühle mich entwürdigt, ausgeliefert, hilflos. Ein dicker Kloß ist in meinem Hals und die Tränen laufen über mein Gesicht. Sagen kann ich nichts, ich bin fassungslos, wie vom Donner gerührt. Dann gehen die Männer wieder.

Dieser Moment war der schlimmste in meinem Leben. Noch heute schnürt es mir die Kehle zusammen, wenn ich daran denke. Ausgeliefert. Machtlos. Gefangen in einem kaputten Körper. Die Ärzte haben in diesem Moment zwar einfach nur ihren Job gemacht. Aber ich fühlte mich so hilflos, meiner eigenen Identität beraubt. Ich konnte nichts tun außer atmen.

Der nächste Eckpfeiler in meiner Erinnerung ist neun Tage nach dem Unfall. Mein Geburtstag im Krankenhaus. Ich habe–gefühlt–eine lange Eisenstange im Rücken (es ist ein Fixateur intern, 25 cm lang). Statt der Premiere im Theater kommen mein guter Freund und Gitarrist Gerald ins Krankenhaus und Lisa, die Sängerin. Meine Familie ist da und es gibt ein Konzert im Krankenhaus. Die Türen stehen überall offen und Personal und Patienten freuen sich. Ich klatsche den Rhythmus mit und bin sicher, bald wieder auf der Bühne stehen zu können.

In dieser Krankenhaus-Zeit fällt es mir so unendlich schwer, zu akzeptieren, nichts tun zu können. Ich hatte mich immer über meine Arbeit definiert. Meine unermüdliche Schöpferkraft. Jetzt bin ich auf mein Sein zurückgeworfen, etwas, dass ich nie gelernt habe. Nichts tun. Nur sein. Atmen. Fühlen. Sein. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von Spiritualität und bin absolut überfordert mit der Situation. Psychologische Unterstützung lehne ich ab. „Ich doch nicht. Das kann ich selber.“ Ja, genau das denke ich.

Ich darf ein halbes Jahr nicht sitzen. Nur liegen, stehen und an Krücken laufen. Ich gehe meinen Weg durch Reha, Physiotherapie und Schmerzmittel. Ich will mein altes Leben zurück. Dafür bin ich bereit, alles zu geben. Ich arbeite an mir, ich kämpfe, ich bin unermüdlich, diszipliniert und optimistisch. Ich beginne auch wieder zu tanzen, ich bringe sogar mein letztes Tanztheater-Stück noch auf die Bühne. Nach außen mache ich gute Fortschritte, mein Körper heilt. Innen sieht es schwarz aus. Ganz finsterdunkelkohlrabenschwarz. Meine Seele ist verwundet. Ich überstehe den Tag nur noch mit Schmerzmitteln. Alles tut mir weh. Ich kann nichts heben, nicht länger als 30 Minuten stehen, nicht länger sitzen, nicht weit laufen. Nicht Auto fahren.

Es sind so viele liebe Menschen um mich, die mich unterstützen, mir Kraft geben möchten, mir Mut machen wollen. Einmal holen sie mich im Auto mit Liegesitzen zu einer Flamenco-Feier ab.

Niemand erfährt, wie es in mir aussieht. Ich weine nur, wenn ich ganz alleine bin. Manchmal stundenlang. Ich kann nicht mehr für meine Tochter da sein, meine Kraft reicht nur für den nächsten Atemzug, den nächsten Schritt. Ich funktioniere.

Als ich wieder Auto fahren darf, muss ich häufig weinend rechts ranfahren. Ich kann nicht mehr. Als mein Hausarzt mich bei einer Routine-Untersuchung fragt, wie es mir geht, breche ich zusammen. Er empfiehlt mir eine Traumatherapie.

Zu dieser Zeit wandern zwei meiner besten Freunde ins Ausland aus und mein Job bei der Zeitung wird eingespart.

Mein Bewegungsradius beschränkt sich fast nur noch auf Haus und Garten. Der empfohlene Traumatherapeut hat jedoch erst einen Termin in sechs Monaten für mich.

Ich weiß, dass ich so lange nicht warten kann. Immer öfter denke ich tatsächlich über Selbstmord nach. Zu schwer erscheint mir die neue Bürde. Ich empfinde mich als Last für meine Familie. Mein Umfeld glauben zu lassen, ich sei okay und mir geht es gut, kostet mich unendlich viel Kraft.

Und dann …

Ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag. Ich stehe an Krücken im Garten. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Mein Hund spielt mit seinem Ball. Da weiß ich es plötzlich.

Drei Jahre nach meinem Unfall, nach Reha, Physiotherapie, Schmerzmitteln – ist mir an dem Nachmittag plötzlich glasklar: Ich bekomme mein altes Leben nicht zurück. Ich werde nie wieder tanzen können. Punkt. Ich brauche nicht mehr zu kämpfen. Vielmehr muss ich genau dies annehmen: Ich bekomme mein altes Leben nicht zurück. Nie mehr tanzen. Und jetzt? Was bedeutet diese Erkenntnis nun für mich?

Wie ferngesteuert gehe ich ins Haus und nehme den ersten großen blauen Müllsack. Ich stopfe alles hinein: die rauschenden Flamenco-Kleider, die Schuhe, Fächer, CDs, alte Programmhefte–einfach alles.

Mut zu dir

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