Читать книгу Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit - Claudia Karsunke - Страница 11

Begegnungen

Оглавление

27° 28’ 16.53’’ S / 153° 02’ 11.99’’ .O Brisbane, QLD Jonathan saß in seinem Büro in der City und schaute aus dem Fenster hinunter auf den Brisbane River. Die merkwürdigen Ereignisse, von denen Richie ihm erst vor wenigen Stunden berichtet hatte, ließen ihn für diesen Tag Schluss machen mit der Alltagsroutine und in Ruhe über die Entwicklung seiner Kramer-Such-Expedition nachdenken. Nicht, dass er Angst hatte, die Dinge könnten ihm oder seinen Leuten entgleiten. Jonathan fühlte sich eher mit diesem Anruf, den er von Richie erhalten hatte und mit den damit verbundenen Neuigkeiten weiter in seiner Theorie bestätigt. Er hatte sich schließlich selbst lange genug mit Kramer und dessen Entdeckungsreisen in die unbekannten Teile Australiens beschäftigt und kannte die Ausgangslage seiner Such-Expedition sehr gut. Er hatte zusammen mit Richie alle Möglichkeiten in der Theorie durchgespielt, die er für die Mission, die Überreste dieses Mannes zu finden oder zumindest auf dessen Vermächtnis zu stoßen, als wichtig betrachtet hatte. Jonathan ließ Kramer jetzt noch einmal in seinem Geiste erscheinen und die Szene, die Richie ihm nach dem Erlebnis im Springhill-Nationalpark beschrieben hatte, an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Seine Gedanken entfernten sich von diesem Ort und gruben sich langsam tiefer hinein in das Leben und Schaffen dieses Forschungsreisenden, auf dessen Spuren seine Leute unterwegs waren. Jonathan merkte, wie er mehr und mehr von dieser Person in sich selbst entdeckte und wie er schließlich ein Teil von ihm wurde. Gänzlich unbeabsichtigt schlich sich wieder sein Fernsehauftritt und dieser Eklat ein, den er durch seinen Ausstieg aus einer Livesendung besiegelt hatte. Schon einige Male stellte er sich seit diesem Abend dieselbe Frage, ohne jedoch eine Antwort darauf zu erhalten. Seine Vergangenheit barg zugegebenermaßen einen wunden Punkt, aber nicht etwa, weil sie kriminell oder mit Leichen gepflastert war, sondern weil er sie nicht lückenlos kannte. Wer konnte das auch schon von sich behaupten? Seine Geschichte war die eines Mannes, der als Ingenieur in Charleville begonnen hatte. Der alte Morley bot ihm damals einen Job an, den Jonathan nicht ausschlagen konnte. Wann immer in den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts in den abgelegenen Regionen Queenslands auf einer Station ein Brunnen gebohrt werden sollte, machte sich Morley mit seinem Bohrgerät und dem alten Diesel auf den Weg. Er holte für die Farmer und ihr Vieh das Wasser aus der steinigen Erde, das sie so dringend brauchten und das so kostbar war, dass sie diese Investition in ihre und die Zukunft ihrer Viehbestände nicht scheuten. Jonathan hatte seinen Boss stets begleitet, sehr viel über die immense Ausdehnung der unterirdischen Wasservorkommen im so trockenen Landesinnern gelernt und wie man sie aufspürte. Er machte Bekanntschaft mit der Eintönigkeit des Outbacks, den dort lebenden Menschen, erfuhr am eigenen Leibe, was sie in die Abgeschiedenheit getrieben hatte und dort mitunter jahrzehntelang ausharren ließ. In dieser Zeit zeigte ihm Morley stolz diesen alten Brief, den schon sein Großvater von dessen Vater geerbt hatte. Er stammte von einem gewissen Frederic William Kramer und war an Morleys Vorfahren gerichtet, der damals schon eine kleine Farm auf halbem Wege zwischen der Küste und Charleville besaß. Jonathan erfuhr, dass es sich um diesen verschollenen Forscher handelte, der vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versucht hatte, den Kontinent zu durchqueren und nie an seinem Ziel an der Westküste angekommen war. Trotz mehrerer Such-Expeditionen blieb er verschwunden. Niemand fand jemals seine sterblichen Überreste oder die seiner Begleiter. Sein Interesse an diesem Mann war nachhaltig geweckt, als Jonathan in Queensland zum ersten Mal auf einen Hinweis stieß, dass dieser Entdeckungsreisende dort seine Spuren als Wissenschaftler hinterlassen hatte. Während der junge Miller mit Morley im Land unterwegs war, lernte er selbst die ganze Palette der Extreme kennen, die das australische Klima im Laufe der Jahre zu bieten hatte. Er traf die Menschen des Outbacks in den Pubs, er lernte ihre Marotten kennen, und er schätzte sie in ihrer Art, die man nur in dieser Abgeschiedenheit zu schätzen wusste. Er war froh und glücklich, eine ganze Weile dieses unbeschwerte Leben führen zu können. Morley war beliebt bei den Menschen, was auch ihm nutzte. Jonathan trat in seine Fußstapfen, denn irgendwann wollte oder konnte sein väterlicher Chef nicht mehr. Er zog sich zurück und überließ dem Jüngeren seine Firma mitsamt den inzwischen veralteten Bohrgeräten als Sprungbrett für die eigene berufliche Zukunft. Und die seiner Familie. Schon Jahre zuvor waren sich Jonathan und Morleys Tochter Maggie bei einem ihrer Besuche während der Semesterferien begegnet. Sie studierte damals Publizistik in Townsville. Seitdem gehörten er und Maggie zusammen. Zwei Jahre später heirateten sie, und ihr Sohn Thomas wurde geboren. Kramer, der Jonathan noch gelegentlich in der unermesslichen Weite von Outback Queensland auf die eine oder andere Weise begegnet war, trat völlig in den Hintergrund, als der alte Morley starb. Nach dem Tod seines Schwiegervaters verlegte Jonathan den Hauptsitz seines Unternehmens nach Brisbane. Er hatte es Zug um Zug modernisiert, was die Bohrtechnik betraf und sich inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten auch auf dem Gebiet der Entwicklung von Sonnenkollektoren erfreulich hervorgetan, was die Reputation von MorleysPartnership Enterprises weiter verstärkte. Hier, an der Ostküste, fand er optimale Voraussetzungen für die Planung und die besten Mitarbeiter für sein Unternehmen. Außerdem wollte Jonathan, dass sein Sohn in Brisbane zur Schule ging. Er sollte auch dort studieren. Nach Abschluss seines Studiums war Thomas als Jurist für das Unternehmen tätig. Auch er hatte inzwischen ein sehr großes Interesse an dem entwickelt, was ihre Ingenieure für diesen Kontinent leisteten. Thomas sah, genau wie sein Vater, die Notwendigkeit, die Zukunft alternativ zu gestalten, anders, als es die Vergangenheit erlaubt hatte. Auch er würde deshalb stets auf neue Technologien für sein Land setzen. Und auf die Menschen im Outback. Wenn nicht dort, wo sonst konnte man besser neue, vielversprechende technische Entwicklungen austesten? Das Solarversuchsfeld in Windorah war solch ein Projekt, wo es auf gegenseitiges Vertrauen und eine offen geführte Kommunikation ankam, wo neue Technologien getestet wurden und ihre Bewertung objektiv verlaufen sollte. Die Menschen im Landesinneren waren schon immer auf sich selbst angewiesen. Als Pioniere brauchten sie eigene Generatoren, um ihren Strom zu erzeugen. Der Diesel kam über Jahrzehnte von weit her, verpestete die Luft und machte Lärm. Wenn die Maschine ausfiel oder während der Nacht abgeschaltet wurde, gab es keinen Strom. Das erschwerte eine reibungslose Versorgung mit frischen Lebensmitteln. Was lag da näher, als den Leuten ein Sonnenkraftwerk zur Erprobung und beinahe kostenlos zur Verfügung zu stellen? Und gleichzeitig an der Effizienz von Akkus oder anderen alternativen Speichermodulen zu arbeiten? Wo konnten er und die Ingenieure seiner Firma besser und effektiver an ihre Messdaten gelangen als dort, wo für Jonathan alles begonnen hatte? In der weiten Abgeschiedenheit von Queensland. Die Menschen nahmen dankbar an, was er ihnen anbot, da sie sich sicher sein konnten, dass beide Seiten ihren Nutzen aus diesem gegenseitigen Geschäft ziehen würden. Was konnte ihnen also Besseres vergönnt sein, als am selben Strang zu ziehen? Sie wurden Partner. Das allein war das Geheimnis, das sich hinter dem wirtschaftlichen und technologischen Aufschwung das Unternehmens MorleysPartnership Enterprises und Jonathans Erfolg verbarg. Das Kramer-Such-Projekt war sein ganz persönliches Anliegen. Was er für sein Land noch tun konnte und auch tun wollte, versuchte Jonathan durch diese Expedition herauszufinden. Genau zu diesem Zweck hatte er sie ins Leben gerufen. Er hatte Sponsoren dafür interessiert und selbst eine Menge Geld in die Sache investiert, um auch da erfolgreich zu sein. Es war ihm gelungen, die besten Leute zusammenzubringen, die er sich für diesen schwierigen und zugegebenermaßen einzigartigen Auftrag vorstellen konnte. Erst vor wenigen Tagen hatten seine Leute sich auf den Weg in den Norden gemacht. Nach ein paar notwendigen Umwegen war es Richie offensichtlich bereits jetzt gelungen, auf eine scheinbar sehr lebendige Spur zu treffen. Er wirkte bei ihrer Unterhaltung via Satellit noch sehr beeindruckt von dem, was er am Morgen erlebt hatte. Beinahe sprachlos. Daraus ließen sich für seine Suchmannschaft immens wichtige und neue Erkenntnisse für die weitere Vorgehensweise ziehen. Sein Team würde damit hoffentlich auch bei den sterblichen Überresten Kramers landen. Das war Jonathans Anspruch, und er ging jetzt davon aus, sein hochgestecktes Ziel, das lange gehütete Geheimnis um das Schicksal des Forschers, mit dieser ausgewählten Crew tatsächlich zu erreichen.

Meine letzte, verhängnisvolle Erfahrung mit den Unwägbarkeiten einer Entdeckungsreise wie dieser sollte sich nicht wiederholen. Ich setzte mich also mit Mendig zusammen, der sich im Laufe der Monate als der Zuverlässigste und Umsichtigste der Männer entpuppt hatte, und sprach mit ihm über meine Überlegungen. Mein Vormann hatte mir seinerseits Vorschläge gemacht, wie sich unsere Situation praktisch verbessern ließ. Und so begann das Umdenken in meiner Expedition. Ab jetzt, so hatte ich beschlossen, würde ich vorgehen wie ein Pionier, der sich allein oder mit seiner Familie in die Wildnis hinauswagt und auf ein Leben weitab von der Zivilisation einrichtet. Auch ein Siedler ist lange Zeit allein auf sich gestellt. Auch sein Überleben in der Abgeschiedenheit hier draußen hängt von seinen praktischen Fähigkeiten ab, sein eigenes und das Überleben der ihm Anvertrauten zu sichern.

Das alles erschien plötzlich ganz klar vor meinem geistigen Auge. Ich erkannte, dass die Erschließung von neuen Weidegründen für die nachfolgenden Siedler mehr war, als allein die Durchquerung von üppigen Graslandschaften, während mein eigentliches Interesse an diesen Unternehmungen eher meinen botanischen Sammlungen, meinen meteorologischen Messungen und geographischen Aufzeichnungen galt.

Also begann ich, mich plötzlich selbst als einen Teil dieser Besiedelung zu begreifen. Diese neue Art, meine Reise zu betrachten, war genau das, was mir und meiner Mannschaft das Überleben sicherte, soweit es in unserer Macht stand und was mich darüber hinaus auch als Forscher meinem Ziel Stück für Stück näher brachte. Erst wenn der Grundstein gelegt war, würde sich dieser Kontinent weiter öffnen: für meine wahre Leidenschaft, die schon immer den Naturwissenschaften gegolten hatte. Und diese Grundlage war ich bereits dabei, für mich und nachfolgende Entdeckungsreisende zu schaffen.

Diese ganze Reihe von Offenbarungen wurde zum Schlüssel für den bisherigen Erfolg meiner Expedition. Ich hatte alles Notwendige in Bewegung gesetzt, um zusammen mit Mendig diese neue Idee zu verwirklichen. Die meisten meiner Männer kamen von Stations oder halfen bei der Bewirtschaftung kleinerer Farmen mit. Für sie stellte es kein Problem dar, zu dem zurückzukehren, was sie aus ihrem früheren Alltag kannten.

Meine einheimischen Begleiter freuten sich zwar über die nun regelmäßigere Versorgung mit Essbarem, sträubten sich aber strikt dagegen, eigene Vorräte anzulegen. Schließlich konnte ich sie aber so weit bringen, mir oder meinen weißen Männern essbare Wurzeln und wilde Früchte zu zeigen, wenn wir daran vorbeikamen. Die beiden Schwarzen waren jedoch niemals bereit, diese selbst auszugraben oder sogar auf Vorrat zu kochen. Das war in ihren Augen Frauensache. Ihre Aufgabe war eine andere. Jonny und Billy kannten zwar alles, was der Busch für einen Ureinwohner bereithielt, der darauf angewiesen war, eine Weile allein in der Wildnis zu leben. Aber sie waren auch Männer. Sie würden nie mehr wie die Frauen ihres Stammes umherziehen und Knollen und Früchte sammeln, um sie im Lager zu kochen. Sie waren Männer, die ihre Aufgabe kannten.

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit

Подняться наверх