Читать книгу Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit - Claudia Karsunke - Страница 9
4. Tag
Оглавление19° 26’ 55.00’’ S / 140° 43’ 41.00’’ O – Colullah Track, Nord-QLD Ein hochbeiniges Fahrzeug bewegte sich auf der Straße nach Norden. Die Luft vibrierte über dem staubigen Untergrund, während die Reifen des Wagens auf einem Meer von wabernden Luftschichten zu schwimmen schienen. Obwohl die Natur jetzt erst langsam dem Sommer entgegenging, flirrte die Atmosphäre unter der Hitze. Die Sonne stand hoch am Himmel und warf nur kurze Schatten. Da, wo ihre unbarmherzigen Strahlen auf unerwarteten Widerstand stießen. Das Land war in ein hartes Licht getaucht und die Hitze beinahe unerträglich. Mit dem Näherkommen des Fahrzeugs wurden seine Umrisse langsam deutlicher. Sie ließen sich inzwischen sogar trennen von einem zweiten und dann einem dritten Wagen. Auch der Fahrzeugtyp wurde jetzt erkennbar. Es handelte sich eindeutig um Four Wheel Drives, ausgerüstet für die Unwägbarkeiten, die das Landesinnere oft genug für den bereithielt, der es wagte, bis in diese Wildnis und Einsamkeit des australischen Busches vorzudringen. Nach und nach tauchten auch die Insassen hinter ihren Windschutzscheiben auf. Jim wich geschickt den zahlreichen Bodenwellen in der unbefestigten Piste aus, die in unregelmäßigen Abständen erst im letzten Augenblick für ihn erkennbar wurden. Richie und Hans neben ihm hatten ihre Köpfe gesenkt, als der Wagen vorbeifuhr und eine dichte Staubfahne sich über den Rand der Fahrbahn zu beiden Seiten hin ausbreitete. Im nächsten Fahrzeug, das wegen des aufgewirbelten Drecks in gebührendem Abstand folgte, saßen Dianne und Paddy. Auch der Aborigine lenkte seinen Geländewagen mit Bedacht. Die beiden Insassen schauten sich immer wieder an, redeten miteinander und lachten. Auch sie hinterließen eine unübersehbare Wolke von rötlichem Staub. Ihnen folgte in wesentlich geringerem Abstand der dritte Wagen. Annette saß am Steuer und lenkte ein wenig ungeschickt. Sie war allein, und sie geriet immer wieder auf die falsche Fahrbahnseite. Nur mit einiger Mühe konnte sie die Spur halten. „Nun sieh dir das an, Frank. Ich glaube, sie wird es nie raffen, dass wir in Australien Linksverkehr haben. Selbst hier in dieser Gegend ist es ratsam, sich an diese Vorschrift zu halten. Es wäre ja nicht der erste Frontalzusammenprall im Outback.“ Frank kam nicht dazu, auf Bills Bemerkung zu antworten. Annette fuhr gerade an ihrem Kamerastandpunkt vorbei und hüllte die beiden in eine neue Wolke ein. Bill schaltete mit einer Reflexbewegung seine Kamera aus, die während der gesamten Zeit gelaufen war, da er einen Hustenanfall nun nicht länger unterdrücken konnte. Seine Lungen versuchten mit Vehemenz, die Staubpartikel herauszuschleudern und loszuwerden, die die drei Fahrzeuge aufgewirbelt hatten. Sein Gesicht lief von dieser Anstrengung rot an, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich endlich ein wenig beruhigt hatte. „Sind wir hier fertig?“ Frank stand etwas hilflos neben ihm. Bill nickte. Der starke Hustenreiz war noch immer nicht überwunden. „Verdammt, ich hab’s langsam satt, immer den Dreck der anderen zu schlucken. Beim nächsten Mal stellen wir uns weit genug weg von der Piste – und auf jeden Fall gegen den Wind – sonst bleibt mir irgendwann noch die Luft ganz weg!“ Frank nickte zustimmend. Sobald sich der Straßenstaub verzogen hatte, begann er damit, ihre Kamera abzubauen, das Objektiv gründlich zu reinigen und im Koffer zu verpacken. Allerdings blieb es ihm ein Rätsel, warum Bill diese alte Mühle mitgenommen hatte und nicht auf einer Digitalkamera bestanden hatte. Aber Bill berief sich auf die Zuverlässigkeit seiner alten Ausrüstung, die ihn noch nie im Stich gelassen und stets gute Bilder geliefert hatte. Nachdem auch das Mikrofon auseinandergeschraubt und mitsamt den Kabeln verstaut war, fuhr Frank die Teleskopstangen des Stativs ein, klappte es zusammen. Er war sehr geschickt bei dieser Arbeit. Das wusste auch Bill. Deshalb hatte er ihn für diesen Job vorgeschlagen. Mit wenigen Handgriffen war alles fertig. Frank trat auf die ausgefahrene Dreckpiste, die den Grader offensichtlich in diesem Jahr noch nicht gesehen hatte, und hielt Ausschau nach einem sich nähernden Fahrzeug. Er hatte keine Lust, wieder zwei Stunden darauf zu warten, dass man sie endlich vermisste und erst kurz vor Sonnenuntergang auflas. Bei dieser Hitze war diese Vorstellung wirklich kein Vergnügen. Bill dachte wohl auch gerade daran. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, die der Hustenanfall hervorgebracht hatte, und griff zum Walkie-Talkie. Er piepste vorsichtshalber Jimmy an, um ihn daran zu erinnern, dass sie nach dieser Aufnahme einen riesigen Durst hatten. Frank stellte den Koffer mit der Ausrüstung griffbereit in die Nähe der Fahrbahn, aber noch im Bereich der Laubkrone des alten Eukalyptusbaumes, der weit und breit den einzigen großzügigen Schatten spendete. Als er sich entfernte und ein Stück weiter auf die Piste hinausging, hörte er Bill mit Jimmy sprechen. Frank sah noch keine neue Staubfahne, langte in die Beintasche seiner Hose und zog sein Handy heraus. Er gab seinen Pin-Code ein und wartete einige Sekunden. Das Display zeigte zwar genug Saft an, aber der Empfang war einfach zu schwach, um eine Verbindung herzustellen. Frank drehte sich um die eigene Achse und streckte seinen Arm in verschiedene Richtungen aus, aber es nutzte nichts. Es gab auch hier keine taugliche Netzverbindung. Dabei war die Gelegenheit gerade sehr günstig. Ärgerlich stellte er das Gerät wieder ab und ließ es zurück in die Tasche gleiten. Bill hatte sich am Rand der Piste im Schatten neben der Ausrüstung niedergelassen und den Jungen beobachtet. „Das ist ja schon zwanghaft, was du da treibst. Wie heißt sie eigentlich, deine Flamme?“ Frank zögerte einen kurzen Moment, bevor er antwortete. „Jenny... Wieso?“ „Die Sehnsucht muss wirklich riesig sein, dass du es nicht einmal bis zum nächsten Roadhouse aushältst? Ich muss schließlich auch solange warten, bis ich ein Bier kriege.“ Bill rieb sich vorsichtig den Schmutz aus den brennenden Augen. Frank kannte zwar die Spitzen, die sein Chef immer wieder großzügig verteilte, aber er war froh um diesen Auftrag, der ihn endlich dahin bringen würde, wo er sich hin wünschte. Nach diesem Job war Frank frei und konnte endlich gehen, wohin es ihn seit seiner Kindheit trieb: nach Hollywood. Bill schätzte seine Arbeit, und sein Assistent wusste das. Deshalb antwortete er auf diese wiederholte Bemerkung sehr gelassen. „Davon verstehst du offensichtlich nichts, Bill. Ich habe versprochen, ich melde mich, wenn es eben machbar ist. Und jetzt war es gerade möglich, weil wir hier sowieso rumhängen und warten. Aber hier im Nirgendwo nutzt mir dieses Handy offensichtlich wenig.“ „Wie du siehst, läuft der Hase hier draußen ein bisschen anders als in Melbourne.“ Eine immer größer werdende Staubwolke kündigte die Ankunft eines Autos an. Frank trat auf die Piste, um ein Zeichen zu geben. Bill erhob sich. „Das ging ja schneller, als ich dachte. Auf Jimmy ist eben Verlass.“ Während Frank die Ausrüstung holte, kam der Four Wheel Drive rasch näher. Bill trat zögernd auf die Fahrbahn. Als der Wagen stand und die mitgebrachte Staubfahne sich langsam verflüchtigte, tauchte Paddys freundliche Miene hinter dem Lenkrad auf. Er kurbelte die Scheibe hinunter und lachte. „Steigt ein. Die anderen warten schon im Roadhouse auf uns. Wie ich hörte, habt ihr einen fürchterlichen Durst?“ „Wo hast du denn deine Dianne gelassen, Romeo? Hat sie dir etwa den Laufpass gegeben?“ Bill ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür, während Frank die Ausrüstung hinten verstaute. Als Bill einstieg, sah der Aborigine ihm geradewegs in die Augen. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Oder hast du durch deine Kamera etwas beobachtet, was mir entgangen ist?“ Frank stand noch an der offenen Hecktür und konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. „Bill meint, sie passt nicht zu dir. Ein schwarzer Buschranger und eine weiße Universitätsprofessorin. Das kann doch gar nicht gutgehen.“ Bill machte nur eine abschätzige Handbewegung, als wolle er das eigene Zitat damit wegwischen. Frank schlug die Türklappe zu und stieg auf dem Rücksitz ein. „Alles wieder vakuumverpackt. Ich hab Durst von dem vielen Staub, den ihr hier so aufwirbelt. Außerdem brauche ich dringend ein Telefon.“ Bill drehte sich um. „Du nervst ganz schön mit deinem Mitteilungszwang, Junge.“ „Und du nervst mit deiner krankhaften Eifersucht.“ Bill wurde es plötzlich zu viel. „Fahr endlich los, Paddy! Worauf wartest du eigentlich?“ Der Aborigine warf grinsend einen Blick in den Spiegel und ließ den Motor an. Er wendete den Wagen auf der leeren, breiten Piste und fuhr in der Gegenrichtung davon.
19° 12’ 54.42’’ S / 140° 19’ 47.43’’ O – Four Way, QLD Das Lynd & Parker Roadhouse war eine typische Raststätte, wie man sie im Outback von Queensland antraf. Da sie vielen Zwecken genügen musste, gab es hier auch eine Public Bar mit Spielautomaten, ein Restaurant mit Counter Meals und einen kleinen Supermarkt. Das Rasthaus bot ein paar Motelzimmer und einfache Schlafkabinen mit Klimaanlage für diejenigen an, die von der Dunkelheit überrascht wurden und lieber auf den nächsten Tagesanbruch warten wollten, um ihre Reise ausgeruht fortzusetzen. Eine Tankstelle mit Werkstatt gehörte genauso hierher wie Toiletten und Waschräume mit Duschen. Und natürlich gab es öffentliche Telefonzellen, gleich neben einem kleinen, schattigen Kinderspielplatz. Hinter dem Roadhouse standen einige bewohnte Caravans und ein Zelt. Von dort wehte die Luft einen unangenehmen Kohlgeruch herüber, der nur von Cabbage Trees stammen konnte. Auf dem Parkplatz davor drängten sich im Schatten einiger hoher Eukalyptusbäume ein paar Autos. Zwei Road Trains mit jeweils drei Anhängern parkten etwas entfernt an der Straße. Zahlreiche Four Wheel Drives waren neben dem Hauptgebäude unter einem Wellblechdach geparkt. Die Motorhaube eines Fahrzeugs stand offen. Aber niemand war zu sehen. Das Roadhouse trug seinen Namen, weil nicht weit von hier John Lynd und William Parker auf ihrer Expedition vom Süden des Kontinents hinauf zum Carpentaria Golf und zurück am 4. Mai 1859 ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die beiden Entdecker erreichten zwar ihr Ziel im Norden, sie kamen jedoch auf dem Rückweg in der Nähe der Grenze zu Südaustralien um. Dianne stand interessiert vor der Tafel, die an diese beiden Männer erinnerte, die ebenfalls ein Teil der Entdeckung Australiens und ihrer Geschichte waren. Aber das war wieder ein anderes Kapitel. Sie war mit den anderen im Auftrag von Jonathan Miller unterwegs, um mehr über die Umstände des Verschwindens von Kramer herauszufinden. Als Dianne das Gebäude erreicht hatte, öffnete sie die Tür zum Restaurant und ging hinein. An einem der zusammengeschobenen Tische saßen Richie und Hans über ihre Karten gebeugt und versuchten, ihre umfassenden Kenntnisse so zu koordinieren, dass sie für ihre eigene Expedition einen Sinn ergaben. Bisher schien dieses Konzept aufzugehen. Sie hatten den Baum am Alice River untersucht und tatsächlich eine uralte Einkerbung wieder sichtbar machen können. Diese Entdeckung hatte einen Umweg hier herauf in den Norden Queenslands nach sich gezogen. Der Sponsor beharrte darauf, dass das Team noch einen zweiten und dritten Beweis lieferte, damit der Scanner vorzeitig in Serie gehen konnte. Richie kannte noch Plätze am Mackenzie River und am Julia Creek, an denen Kramer seine Markierungen hinterlassen hatte. Er wollte sie zügig testen, um dann frei zu sein für die eigentliche Suche. Der Scanner sprach auch auf diese beiden extrem verwitterten Einkerbungen der ersten und zweiten Reise eindeutig an. Und so erklärten Richie und Jim die Testphase für beendet, als der Konstrukteur sein Okay gab. Nun würden sie zügig weiter nach Nordwesten fahren, um dort auf eine weitere, erhoffte Spur zu stoßen. Immerhin waren dem Team verschiedene Stellen aus Kramers eigenen Skizzenbüchern bekannt, sodass sie den Scanner sicher noch ein paarmal testen konnten, bevor es keine dokumentierten Beweise mehr gab, sie sich nur noch auf vage Indizien stützen konnten und auf ihre Intuition angewiesen waren. „Genau, wenn wir wieder auf einen von Kramers Lagerplätzen treffen wollen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, noch etwas Brauchbares zu finden, wohl am größten...“ Hans deutete auf einen Punkt in der Karte: „…hier.“ Dianne verfolgte die Unterhaltung der beiden, um sich selbst ein umfassenderes Bild des Mannes zu machen, den sie zu finden hofften. Sie stand so, dass sie die Karte auch einsehen konnte. Hans zeigte genau auf den Ort, von dem sie wusste, dass er sie in das Gebiet der Yangman, Jawoyn und vielleicht auch der Mangarayi führen würde. Auf jeden Fall lag der Punkt im District Fitzmaurice. Dianne hatte keine Ahnung, warum ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Aber sie war schließlich die Expertin auf diesem Gebiet. Die Aborigine-Stämme und Clans waren einfach ihr Metier. Sie hoffte sehr, nach ihrer Rückkehr die fehlenden Puzzlesteine gefunden zu haben, und damit die entscheidenden Anhaltspunkte in ihre Doktorarbeit einfließen lassen zu können. Noch war sie tausende von Meilen von Newcastle entfernt, und sie fühlte sich mindestens ebenso weit weg von den fehlenden Antworten. Bis jetzt wusste sie nicht einmal so recht, worauf sie überhaupt eine Antwort suchte. „Und wie weit ist es bis dahin?“ Richie, der so vertieft war in die Karte, dass er ihre Nähe gar nicht bemerkt hatte, schaute überrascht zu ihr auf. „Wir sollten es eigentlich bis spätestens übermorgen schaffen. Das kommt aber auf den Zustand der Piste an.“ Auch Hans ließ für ein paar Augenblicke die Überlegungen ruhen, schaute sich um und lächelte ihre Begleiterin freundlich an. „Wo hast du Jimmy gelassen?“ „Er wird gleich kommen. Irgendwas ist mit dem Motor.“ „No.34.“ Eine Stimme tönte hinter der Theke in den Raum hinein. Niemand reagierte. „Steaksandwich mit viel Zwiebeln.“ Es geschah nichts. Die Bedienung wiederholte die Nummer. „Hier... ich bin das.“ Richies Blick fiel auf einen Bon. „Bitte entschuldigt mich einen Moment.“ Er meldete sich und stand eilig auf, um sein bestelltes Essen abzuholen. Mit schmutzigen Händen kam Jim zur Tür herein und rief in die Richtung, in der sie alle saßen. „Die Luftfilter sind total verstopft. Ich mache sie nur schnell sauber. Dann bin ich da. Wer bestellt mir in der Zwischenzeit eine große Cola und ein Steaksandwich mit viel Zwiebeln und Chips?“ „Ich mach das, Jimmy.“ Annette hatte sehr schnell das Wort ergriffen. Sie war froh, dass sie endlich etwas tun konnte. Sie kam sich in diesen ersten Tagen zunehmend nutzlos vor. Irgendwie war die Reise lückenlos geplant. Das war sie einfach nicht gewohnt. Und sie fragte sich, ob sie auf diesem Trip jemals zum Einsatz kommen würde. Mit dem Fahren war das auch noch so eine Sache. Bill nervte sie mit seiner ewigen Kritik an ihrem Fahrstil. „Ich verspreche, ich beeile mich auch.“ Jim zwinkerte Annette zu und verschwand mit seinen ölverschmierten Händen wieder nach draußen. Mit ihrem Blick folgte Annette ihm durch das Fenster bis zu der offenen Motorhaube. „Du kannst es wohl nie lassen. Wir sind gerade mal eine Woche weg von zuhause, da hast du schon allen Männern in Australien den Kopf verdreht.“ Hans beobachte scheinbar argwöhnisch, wie Annette das Interesse von Jimmy und Richie bereits auf sich gezogen hatte. Dabei wusste er ziemlich sicher, dass sie nur mit ihnen spielte. Diese Frau war seiner Meinung nach zu einer wirklichen und tiefen Beziehung nicht fähig. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Hans plötzlich ein Gefühl von Eifersucht an sich entdeckte, das ihm bisher verborgen geblieben war. „Also, ich sehe nur zwei... und dich natürlich, mein lieber Hans!“ Annette war aufgestanden, um das Essen für Jim zu ordern. Im Vorbeigehen beugte sie sich nun zu ihrem Lebensgefährten hinunter und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Richie hatte herzhaft in sein Sandwich hinein gebissen. Ein paar Zwiebeln quollen seitlich heraus, und Fett tropfte auf den Teller. Als sein Mund wieder halbwegs leer war, mischte er sich in die Unterhaltung ein. „Also, ich finde, du gehst ein bisschen zu weit, Hans. Annette war dir doch bis jetzt treu. Warum sollte sich daran etwas ändern?“ „Nimm sie nur in Schutz, Richie. Sie weiß ganz genau, was ich meine.“ Richie schluckte den Bissen jetzt ganz hinunter und lächelte leicht verunsichert. „Sag mal, du bist doch jetzt nicht etwa auch eifersüchtig?“ „Wer hat die No.35? Nachos mit Käse und Guacamole, extra scharf...“ Lächelnd meldete sich Hans, der diese Nummer vor sich liegen hatte. „Hier... Ich komme.“ Er griff den Zettel und ging zum Tresen, nahm sein Essen in Empfang und trug den Teller zu seinem Platz, während Dianne ihre Bestellung erkannte, sich unaufgefordert erhob und zur Theke ging. „Sagt mal, wie halten wir das eigentlich mit dem Waschen? Ich dachte mir, wo ich momentan sowieso nichts Besseres zu tun habe, könnte ich doch unsere Klamotten waschen. Wir sind schon seit Tagen unterwegs. Und dieser Staub ist inzwischen überall. Ich habe neben dem Waschraum hinten eine Waschmaschine entdeckt. Sie funktioniert. Ich habe sie getestet. Und ein Bügeleisen ist auch da. Wer weiß, wann sich uns wieder so eine Gelegenheit bietet?“ Annette blickte in sprachlose Gesichter. Dianne hatte inzwischen ihr Essen abgeholt. Sie stellte ihren Teller und das Glas mit dem Sodawasser ab und setzte sich auf einen der vier noch freien Stühle, bevor sie in die Runde schaute. Niemand sagte etwas. „Habe ich vielleicht etwas verpasst oder was Unpassendes an mir?“ Dianne sah an sich hinunter, konnte jedoch nichts erkennen, was darauf hindeutete. „Oder was hat euch so die Sprache verschlagen?“ „Ach, Annette und ihr Waschfimmel haben sich eben zu Wort gemeldet. Wir sind kaum unterwegs...“ Hans wendete sich an seine Freundin. „Außerdem hat Jimmy sich dieses Problems, falls es eines ist, sicher längst angenommen.“ So schnell wollte sich Annette nicht geschlagen geben, schon gar nicht von Hans. „Dann rede ich eben mit Jimmy.“ Sie schaute hinaus und sah ihn mit dem Oberkörper bis zu den Hüften in der Motorhaube des Wagens stecken.
Ihr dritter Four Wheel Drive schwenkte in den Parkplatz ein und stoppte neben den beiden anderen Fahrzeugen. Während Bill und Frank heraussprangen und nur sparsam grüßend den freien Platz überquerten, stellte Paddy den Motor ab.
„Gibt’s ein größeres Problem, Jimmy?“
„Nein. Ist nur der Luftfilter.“
„Bei diesem Staub kein Wunder. Am besten, ich sehe bei mir auch mal nach. Der Motor zieht nicht mehr so richtig. Aber zuerst muss ich was essen und was trinken. In der Zwischenzeit kann der Wagen ein wenig abkühlen.“
Jim sah Bill und Frank wortlos in verschiedene Richtungen gehen
„Was ist denn mit denen los? Hattet ihr etwa schon wieder Meinungsverschiedenheiten?“
Paddy verdrehte die Augen.
„Bill ist ja so eifersüchtig.“ „Auf wen? Auf dich oder auf Dianne?“ Jim konnte sich diesen Scherz nicht verkneifen. „Weiß man’s?“ Achselzuckend stieg er aus. Jim lachte, denn er war froh, dass auch der Aborigine die Angelegenheit nicht so ernst zu nehmen schien. „Übrigens... Dianne schmachtet da drinnen schon nach dir.“ „Was kann einem Mann Besseres passieren?“ Paddy schlug die Fahrertür zu. „ Also bis später.“ Lächelnd ging er auf die Waschräume zu. Jim hob den Arm, der bis zum Ellbogen voller rotbraunem Schmutz und Öl war. „Okay, ich bin auch in ein paar Minuten fertig.“ Er fand es inzwischen dringend an der Zeit, sich mit Bill und dessen Unart ein wenig intensiver zu beschäftigen. Jim war zwar nur für den technischen Ablauf der Expedition zuständig, aber er spürte die Spannung, die sich durch Bill langsam aufbaute. Auch Richie hatte es schon längst bemerkt. Sie würden sich wohl etwas überlegen müssen, wie sie dieses Problem beseitigen könnten. Auch, wenn er nur hinter der Kamera stand, um diese Reise für Jonathan zu dokumentieren: Dieser Mann brachte etwas mit, was in dieser Expedition nichts zu suchen hatte. Wenn sie wieder auf neue Spuren Kramers stießen, musste die Sache bereinigt sein, sonst würde dieser potenzielle Unruhestifter ihre Kreise wohl empfindlich stören. Jim war sich sicher, dass das nicht in Jonathans Interesse sein konnte. Er würde ihn also von diesem menschlichen Problem im Zweifelsfall in Kenntnis setzen müssen. Solange er den Eindruck hatte, Bill sei nicht auf seinem Posten, solange musste auch Jim für Ruhe im Team sorgen. Dafür wurde er bezahlt. Gott sei Dank hielten sich die üblichen Neckereien innerhalb der Gruppe in den normalen Grenzen. Schließlich war es nur natürlich, sich irgendwie einander anzunähern. Und dafür gab es viele Wege. Nur Bills Weg schien Jim der eindeutig falsche zu sein. Und das musste sich ändern, sehr bald ändern.
Als Paddy die Telefonzelle auf seinem Weg vom Waschraum ins Roadhouse passierte, winkte Frank ihm lächelnd zu. Der Aborigine nickte freundlich zurück.
Frank wechselte den Hörer an das linke Ohr und drehte sich ein wenig in die andere Richtung.
„Wenn ich es dir doch sage... Nein, habe ich nicht. Vor morgen Abend sind wir bestimmt nicht da... Ja... ich versprech’s. Dann melde ich mich wieder... Nein. Vorher geht gar nichts...“ Er wurde jetzt lauter und antwortete fast zornig. „Ich bin hier im Outback...!“ Er schaute sich auf dem Parkplatz um. Paddy war nicht mehr zu sehen. Der Apparat tutete mehrmals in kurzen Abständen. Frank steckte seine letzte Münze hinein. „Nein, niemand hat bis jetzt etwas gemerkt... Gut...“
Mit einem Klicken war die Verbindung beendet. Die Münze fiel scheppernd in die Kasse. Frank hängte den Hörer ein und verließ genervt die Telefonzelle. „Blöde Kuh!“
Nach einer knapp zweistündigen Rast setzte die Such-Expedition ihre Fahrt fort. Noch immer flirrte die Luft über einer glutheißen Erde und ließ imaginäre Wasserspiegel entstehen, obwohl die Sonne längst ihren Zenit verlassen hatte und sich langsam dem Horizont im Westen zuneigte. Dianne und Paddy bildeten diesmal die Spitze des Konvois. Weit vor ihnen tauchte mitten auf der Piste etwas Dunkles auf, das sich bewegte. Als sie näher herankamen, erkannten sie einen Adler, der offensichtlich auf einem Kadaver saß und sich daran zu schaffen machte. Noch drohte dem Tier keine Gefahr. Aber schließlich erhob es sich mit seinen mächtigen Schwingen etwas schwerfällig in die Luft und verschwand im Buschland, das mit vielen Eukalyptusbäumen durchzogen war. Dianne schaute dem Raubvogel hinterher, bis er auf einem der Bäume gelandet war. Dann starrte sie auf den Kadaver, den Paddy umfahren musste, weil er genau in ihrer Spur lag. Ein Wildschwein.
„Uns sind heute exakt sieben Autos begegnet und mindestens doppelt so viele tote Kängurus, wilde Schweine und Rinder. Ich werde es nie begreifen.“ Dianne schüttelte den Kopf und verzog angewidert das Gesicht.
Der Aborigine sah sie verständnisvoll von der Seite an.
„An diesen Anblick wirst du dich wohl gewöhnen müssen, Honey. Wir sind hier weder an der zivilisierten Küste, noch im Nationalpark. Hier draußen nimmt das niemand so genau. Und wer nachts fährt, der hinterlässt viele solcher Kadaver.“
„Wie die Spuren eines Verbrechens kommt mir das jedes Mal vor, wenn ich so etwas sehe. Es dreht mir den Magen und das Herz im Leibe um.“ Dianne lehnte ein wenig resigniert ihren Kopf an Paddys Schulter.
Plötzlich ragte ein dicker, spitzer Stein aus der Fahrbahn. Der Aborigine wich ihm geistesgegenwärtig und sehr geschickt aus. Dianne setzte sich sofort wieder gerade auf, hielt sich am Griff fest und konzentrierte sich auf die staubige Piste.
„Irgendwie kein Ort für Romantiker, dieses Land hier.“
„Was nicht ist, kann ja noch werden, Honey. Jedenfalls werde ich dir meinen Lieblingsplatz nicht vorenthalten.“ Der Aborigine schaute sie dabei vielsagend an.
Dianne erwiderte seinen Blick erwartungsvoll, war aber nicht allzu überzeugt von seinen Worten.
„Ich kann es wirklich kaum erwarten, Paddy Crocodile.“
Ein dumpfer Knall ließ ihr Fahrzeug plötzlich aus seiner Spur ausbrechen. Reaktionsschnell versuchte der Aborigine gegenzulenken. Das typische, walkende Geräusch und die Unbeherrschbarkeit des Wagens deuteten den Schaden an.
„Das war unser Reifen.“ Er ließ das Auto ruhig zum Fahrbahnrand hin ausrollen und stellte den Motor ab. „Fragt sich nur, welcher?“
Dianne konnte sich eigentlich nur wiederholen. Sie seufzte tief.
„Wie ich schon sagte: kein Ort für eine Romanze!“
Paddy wollte noch nicht aufgeben, dieses bezaubernde Wesen für die Schönheit seines Landes zu begeistern, nicht, bevor sie seinen Lieblingsplatz gesehen hatte. Er zeigte sich ihr von einer Seite, die sie bislang noch nicht kannte.
„Wollen wir wetten? Danach kannst du dich immer noch anders entscheiden.“
Dianne war aus ihren trüben Gedanken gerissen und schaltete jetzt blitzschnell.
„Hinten links.“
„Hinten rechts.“ Er grinste sie herausfordernd und zufrieden an. Endlich hatte sie ihren Humor und ihr betörendes Lächeln wiedergefunden, was er so sehr an ihr schätzte. Der Aborigine schaute Dianne tief in ihre Augen und zog sie an sich heran. Und sie ließ sich bereitwillig zu ihm hinziehen, bis sich ihre Lippen berührten. Mit einem verliebten Kuss besiegelten sie ihre kleine Wette. Als hinter ihnen ein Hupsignal ertönte, löste sich Dianne nur sehr langsam, bis sie Paddy direkt ins Gesicht sehen konnte.
„Sag mal, um was haben wir eigentlich gewettet?“
„Das können wir uns immer noch überlegen.“ Der Aborigine sah in den Spiegel. „Von hinten naht schon Rettung.“ Er stieg aus und ging um das Auto herum. Der linke Hinterreifen klemmte völlig plattgedrückt zwischen der Felge und der Dreckpiste.
„Na, dann wollen wir mal. Beim ersten Mal ist es immer am schwierigsten. Danach wird es leichter.“ Er lachte verschmitzt, als seine Beifahrerin ausstieg, den Schaden begutachtete und protestierte.
„Hey, Moment mal! Diese Wette habe ich eindeutig gewonnen.“ Das Auto mit Richie, Hans und Frank hielt hinter ihnen an. Die drei Männer stiegen aus. „Okay, ich ergebe mich, Honey. Dann muss Frank mir eben helfen.“ Mit einer Handbewegung wendete er sich dem Jungen zu. Der war wie immer sofort bereit. Während er nach hinten ging, um das Werkzeug und den Wagenheber aus dem Auto zu holen, hielt das dritte Fahrzeug neben ihnen an. Jim lehnte sich aus dem Fenster der Fahrertür. „Braucht ihr Hilfe oder gibt’s was zu feiern?“ „Beides, unser erster platter Reifen.“ Paddy deutete lachend zum linken Hinterrad. Jim schaute auf seine Uhr. Die Sonne stand inzwischen schon bedenklich niedrig. Diese Panne war in seinem Zeitplan nicht einkalkuliert gewesen. In etwas mehr als einer Stunde würde die Dämmerung einsetzen. Und vor ihnen lagen noch gut zwanzig Kilometer auf dieser unwägbaren Dreckpiste. „Wenn ihr nichts dagegen habt, dann fahren wir schon mal voraus und richten das Camp ein. Sonst wird es zu schnell dunkel. Sollte euch noch etwas dazwischen kommen, meldet euch bitte über Funk.“ „Okay, Jimmy. Lasst euch nicht aufhalten. Wir kommen hier allein zurecht.“ Richie winkte und Jim gab Gas. Mit wenigen Handgriffen hatten Hans und Richie bereits die Muttern am Rad gelöst, während Frank sich mit dem Reserverad an der Hecktür beschäftigte. Dann bockten sie den schweren Wagen mit dem Heber auf.
Zwei Minuten später sahen sie Jims Auto in der nächsten Bodenwelle verschwinden. Nur die lange Staubfahne verriet ihnen, welchen Verlauf die Piste hinter der Kuppe nahm.
Der Reifenwechsel ging reibungslos. In weniger als zwanzig Minuten waren der Reservereifen aufgezogen, die Schraubenmuttern fest angezogen und das ausgediente Exemplar an der Hecktür angebracht. Es gab zwar noch ein zweites Reserverad, das auf der Motorhaube angebracht war, aber sie würden bei ihrem nächsten Tankstopp auf jeden Fall einen neuen Reifen benötigen. Dieser hier war nicht mehr zu retten. Frank löste den Wagenheber. Das Fahrzeug senkte sich zurück auf seine eigenen Beine und war wieder voll einsatzbereit, nachdem Paddy die Muttern noch einmal kräftig nachgezogen hatte.
Hans und Richie konnten jetzt nicht mehr helfen, würden aber noch auf Frank warten, um dann im Konvoi weiterzufahren, weil es einfach sicherer war.
Hans verlor im Augenblick ein wenig die Zuversicht, was den Erfolg ihrer Mission anbelangte.
„Ich finde, es wird Zeit, dass wir endlich mal auf eine neue Spur stoßen.“
Außerdem würde das die Moral in ihrer Gruppe stärken. Seit vier Tagen fuhren sie nun schon auf staubigen Pisten durch diese Gegend, und es veränderte sich praktisch nichts. Trotzdem musste Kramer hier irgendwo entlang gezogen sein. Vielleicht noch weiter nördlich, um Wasser zu finden? Dieser Kontinent war einfach zu riesig in seinen Dimensionen. Und sie hatten sich vorgenommen, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden. Hans wurde in diesem Moment wieder bewusst, auf was sie sich da eigentlich eingelassen hatten. Sein Freund beruhigte ihn zwar jedes Mal, aber das änderte nichts an den Zweifeln, die Hans immer stärker zu schaffen machten, je länger er selbst auf eine neue Bestätigung wartete. Richie hatte seine Karte aus dem Auto geholt und schaute hinein.
„Also gut, Hans. Wo trifft diese Straße, wie du das hier nennst, wieder mit Kramers alter Route zusammen?“
Sie würden vermutlich noch Tage vergeblich damit zubringen, in dieser trostlosen und trockenen Gegend einen Beweis zu erwarten.
„Am Roper River dürften wir auf jeden Fall etwas finden. Da oben gibt es reichlich Wasser. Wir sollten uns also nicht länger damit aufhalten, hier zu suchen.“
„Da wird Annette aber entzückt sein.“ Hans konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen.
„Warum denn das? Was hat sie denn damit zu tun?“
„Na, sie kann es doch gar nicht erwarten, unsere Sachen zu waschen. Und dazu braucht man bekanntlich Wasser, viel Wasser.“
Richie faltete die Karte zusammen. Was lief da zwischen den beiden?
„Du könntest sie ruhig etwas ernster nehmen, Hans. Schließlich ist sie deine Lebensgefährtin.“
„Hauptsache, Annette vergisst das nicht immer. Du hast ihr ganz schön den Kopf verdreht, mein Lieber, weißt du das?“
Richie schaute ihn verständnislos an. „Wie kommst du denn darauf? Ich finde sie sehr attraktiv, aber sonst...?“ Er schüttelte den Kopf. „Pass lieber auf Jim auf.“
„Um den Burschen mache ich mir weniger Sorgen.“
„Tut mir leid, aber ich kann dir nicht mehr folgen.“ Richie wusste wirklich nicht, worauf Hans hinauswollte.
„Annette steht mehr auf das Unerreichbare, verstehst du? Was sie haben kann, interessiert sie nicht wirklich. Sie weiß es nicht zu schätzen. Damit spielt sie nur.“
„Und wie ist das mit euch beiden? Spielt ihr auch ein Spiel miteinander?“
„Ich hätte sie auf keinen Fall mitbringen dürfen, aber nun ist es zu spät und ...“ Hans zuckte die Schultern, denn er wusste es selbst nicht so genau.
„Und sie wäscht unsere Wäsche. Sieh es doch einfach mal von diesem praktischen Standpunkt aus.“
Hans lächelte.
„Okay, wir können weiter.“
Paddy und Dianne verschwanden bereits in ihrem Fahrzeug.
„Komm, Frank ist auch schon eingestiegen. Es wird Zeit, dass wir zu unserem Lagerplatz kommen. Warst du schon einmal dort?“
Richie folgte seinem Freund die wenigen Schritte zum Wagen.
„Nein, ich weiß nur, dass er im Springhill-Nationalpark liegt. Und ich hoffe, es gibt heute Abend endlich mal wieder eine warme Dusche.“