Читать книгу Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit - Claudia Karsunke - Страница 14
9. Tag
Оглавление15° 44’ 34.31’’ S / 130° 38’ 55.03’’ O – Victoria Hwy, NT Ein Richtungsschild hatte Richie und Hans, die mit Annette im ersten Fahrzeug saßen, auf eine Abzweigung zur Jasper Gorge aufmerksam gemacht. Hans blinkte und bog auf diese Straße ein, deren Asphaltbelag schon nach etwa hundert Metern übergangslos endete und als staubige Dreckpiste mit Wellblechcharakter weiterführte. Hans beschleunigte sein Fahrzeug, um auf den Wellen oben zu bleiben. „Willkommen auf dem Weg zur Jasper Gorge, Freunde.“ Es war Richies Vorschlag gewesen, mit ihrem Wagen einen kurzen Abstecher hierher zu machen, bevor es wieder zurück auf den Victoria Highway ging. „Keine Angst, Annette. So schlimm wird es wohl nicht werden.“ Sie fuhren eine ganze Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die einigermaßen erträgliche Piste wand sich in leichten Kurven hinein in die weitläufige Schlucht und entlang des Victoria-Flusses. Die Farben leuchteten jetzt sehr intensiv, nachdem die größte Hitze des Tages nachgelassen hatte und sie den Sonnenstrahlen im Austausch dafür ein wärmeres Licht verlieh. Das flache Wasser hatte hier eine blaugrüne Tönung, die einen Hauch von Jade ahnen ließ. Während die begrenzenden Felsen sich in bizarren rostbraunen bis rostroten Abstufungen zu beiden Ufern durch die gesamte Länge der Schlucht hinzogen, wechselte die Natur zu ihren Füßen sich mit dem hellgrünen und lichten Laub von Eukalyptusbäumen und Mimosenbüschen ab. Vereinzelt reckten bizarre, fast blattlose Flaschenbäume ihre Äste wie Krakenarme in die Luft. Leuchtende Farbtupfer aus roten, weißen und gelben Blüten stellten sich überall in ihrer ganzen, unglaublichen Fülle zur Schau. Über diesem Eindruck von bescheidener Vollkommenheit öffnete sich ein makellos blauer Himmel und rundete das grandiose Bild ab. Hans und Richie hatten ein paar Zusatzinformationen eingeholt und wollten gerne diesen kleinen Umweg in Kauf nehmen, der sie mitten hinein in eine vermutlich sehr trockene, aber für eine Expedition, wie die von Kramer, gut geeignete Region führen würde. Sie blieben damit ihrer momentanen gedanklichen Richtung treu. Wenn Captain McConnors 1856 auf einer seiner Reisen diese Schlucht passiert hatte, dann war es doch ebenso gut möglich, dass auch Kramer nur wenige Jahre zuvor dieses Gebiet betreten hatte, ohne dass es darüber Aufzeichnungen oder Hinweise gab. Zugegeben, diese Annahme blieb reine Spekulation der beiden. Und es war dafür auch nie ein Beweis gefunden worden. Jedenfalls hatte der Captain selbst kein Wort darüber verloren. „Und du meinst wirklich, Kramer ist hier durchgezogen?“ Annette beugte sich vor und äußerte zum ersten Mal auf ihrer gemeinsamen Reise einen spontanen Gedanken im Zusammenhang mit dem Forscher, dessen Spur auch sie jetzt endlich aufzunehmen schien. Hans blickte in den Innenspiegel und nickte. „Mein Gefühl sagt mir einfach, dass es so war.“ Es ließ ihn sogar sicher ahnen, dass es eigentlich nur so gewesen sein konnte. Er drehte sich kurz zu Richie hin, der schweigend neben ihm saß. Sein Freund schien tief in Gedanken versunken und reagierte nicht. Der Australier ließ schon die ganze Zeit die Umgebung auf sich wirken. Irgendetwas machte ihn stutzig, wenn er auch nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. „Halte doch bitte an. Ich möchte aussteigen und mich hier mal ein bisschen umsehen.“ Hans nickte, ließ den Wagen langsam ausrollen und stoppte am Fahrbahnrand. Nachdem die Staubfahne sich gelegt hatte, stieg Richie aus. „Okay, schauen wir uns die Gegend hier ein wenig genauer an.“ Hans stellte den Motor ab und stieg ebenfalls aus, um erst einmal seine steifen Glieder zu strecken. Richie hielt sich nicht lange damit auf. Stattdessen ging er sehr zielstrebig zum Fluss hinunter und versuchte, die Umgebung regelrecht in sich aufzusaugen. Er pumpte seine Lungen voll und atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus. Dann schaute er sich suchend um. Sein Blick verweilte auf einem der vielen Wattles, die über und über mit ihren gelben Blüten bedeckt waren. Schließlich wanderten seine Augen zu einem ausladenden Baobab, der sich auf bizarre Weise von seinem Hintergrund absetzte. Dann auf das Wasser, um dort zu verweilen. Richie ließ die Oberfläche vorbeifließen und hoffte auf eine Erklärung für sein Gefühl, das nicht weichen wollte. Aber auch hier fand es keine Resonanz. Er verließ seinen Platz und stieg die kurze Uferböschung hinauf. Dort warteten Hans und Annette. Sie hatte sich an ihren Lebensgefährten des letzten Jahres angelehnt. „Und?“ „Es ist etwas da, aber ich kann es nicht greifen. Vielleicht doch nur wieder eine Einbildung.“ Richie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Kommt, lasst uns einfach weiterfahren.“ „Okay.“ Hans gab Annette einen kleinen Schubs, und sie stiegen zurück ins Auto. Ein Four Wheel Drive tauchte hinter der letzten Biegung auf. Aber Hans war schon wieder auf der staubigen Wellblechpiste und beschleunigte zügig, damit die Nachfolgenden ihre Fahrt nicht verlangsamen mussten. Obwohl er als Fahrer sehr aufmerksam auf die tückische Fahrbahn schaute, ließ er seine Blicke immer wieder kurz nach rechts und links gleiten, als wollte er sich jetzt auch etwas genauer in dieser Schlucht umschauen. Sie zog ihn irgendwie magisch an. In ihm stieg plötzlich eine vage Ahnung auf, die kein besonders gutes Licht auf diesen Landvermesser warf und die gleichzeitig ein paar Fragen aufkommen ließ. Konnte es sein, dass damals absichtlich Indizien oder sogar Beweise unterschlagen worden waren, weil McConnors den Ruhm als Entdecker für sich alleine ernten wollte? Hatte er einen lästigen Rivalen, der schon vor ihm diese Schlucht betreten hatte, einfach ignoriert? Oder vielleicht sogar vorhandene Spuren für die Nachwelt unkenntlich gemacht? Wenn Kramer hier gewesen war, dann hatte es sicherlich auch Anzeichen dafür gegeben. An einem Fluss wie diesem hätte er seine Markierungen zweifellos hinterlassen, solange er ausreichend Wasser gefunden hatte. Es kamen für Hans plötzlich drei Möglichkeiten in Betracht. Entweder hatte sein Ururgroßonkel diese Schlucht nie betreten, weil er mit seiner Expedition so weit nach Westen gar nicht vorgedrungen war. Wenn er sie doch entdeckt hatte, dann konnte es sein, dass der Fluss zu dieser Zeit kein Wasser führte. Oder er hinterließ auch hier seine Markierungen, und gefundene Beweise waren zerstört worden. Jedenfalls hatte es damals offiziell keine Hinweise auf Kramers Expedition gegeben. Für Hans war in diesem Augenblick der Grat, der die Tatsache selbst und das Verschweigen einer Tatsache voneinander trennte, nur ein sehr schmaler. Schon verlangte die nächste Frage nach einer Antwort. Hatte es vielleicht noch mehr von diesen Beweisen gegeben, die, aus welchem Grund auch immer, von demjenigen, der auf diese Spuren gestoßen war, verschwiegen worden waren? Er wusste nicht so recht, wie er dieses anwachsende Chaos von unbeantworteten Fragen in seinem Kopf eindämmen sollte. Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er paranoid geworden wäre, was seinen Vorfahren betraf, beschloss Hans, in Ruhe seine Gedanken zu ordnen und die Sachlage am Abend mit Richie und den anderen zu diskutieren. Im Moment wurde er hier als Fahrer gebraucht, und die Strecke, die noch vor ihnen lag, benötigte seine ganze Aufmerksamkeit. Diese staubigen Wellblechpisten konnten sehr unangenehm werden, wenn man nicht eine konstante Geschwindigkeit zwischen achtzig und neunzig Kilometern in der Stunde einhielt. Also würde sich Hans zunächst wieder auf das Fahren konzentrieren und hoffen, dass sich die aufgewühlten Moleküle in seinen Synapsen schnell und von ganz allein beruhigten, bevor er, Richie und Annette wieder mit den anderen zusammentrafen, die bereits auf dem Weg zu ihrem heutigen, gemeinsamen Ziel waren.
Nachdem sie die Jasper Gorge bis zu ihrem natürlichen Ende durchfahren hatten, ohne neue Erkenntnisse daraus ziehen zu können, wendete Hans den Wagen und kehrte zum Victoria Highway zurück. Hier trennten sie nur noch knappe einhundert Kilometer von Kununurra. Für heute würde dort Schluss sein. Morgen wollten sie sich in dieser Stadt umsehen, der Richie, obwohl er keine Ahnung hatte, warum, sehr viel Bedeutung beimaß. Im nahegelegenen Nationalpark würden sie heute ihre Zelte aufschlagen und erst einmal die Nacht verbringen. Dieser Tag war, vermutlich wegen der Erfolglosigkeit ihrer vergeblichen Bemühungen bei den Aborigines, sehr ermüdend gewesen. Der eintönige Highway tat sein Übriges, aber er brachte sie immer noch am schnellsten an ihr Tagesziel. Inzwischen hatte ihr Four Wheel Drive das Nordterritorium verlassen. Die Grenze lag seit etwa fünfzehn Minuten hinter ihnen, als schon das Hinweisschild zum Diamond Valley auftauchte.
Am Eingang zum Park warteten die beiden anderen Fahrzeuge seit einer halben Stunde auf die Nachzügler. Frank hantierte mit dem Wasserschlauch am unteren Ende des Wassertanks herum und schob ihn in den Nachfüllstutzen am Wagen. Jim ging zu den Neuankömmlingen und begrüßte sie.
„Schön, dass ihr da seid. Sobald alle Wasservorräte aufgefüllt sind, suchen wir unseren Platz. Er muss da gleich um diesen Felsen herum liegen.“
15° 45’ 38.22’’ S / 128° 45’ 02.25’’ O – Diamond Valley Campground, WA Auf den ersten Blick schien dieser Nationalpark für ihre Absichten sehr gut geeignet, und so waren Annette und Richie ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Als Verantwortlicher für den Erfolg der Such-Expedition wollte Richie seinen Leuten einfach Zeit geben. Deshalb hatte er auch vorgeschlagen, heute auf diesem Platz, einige Kilometer außerhalb von Kununurra, zu übernachten und zwei Stunden eher als gewöhnlich ihre Zelte aufzurichten. Bis morgen sollte die Crew erst einmal ausruhen. Alle wirkten ziemlich erschöpft, als sie endlich die Fahrzeuge geparkt hatten und begannen, sich einzurichten. Auch dieser Park war nur sehr spartanisch mit dem Nötigsten für eine Übernachtung ausgerüstet. Aber Feuerholz war, wie so oft, ausreichend vorhanden. Sie mussten sich nur bedienen. Ganz bewusst wählten Richie und Jim gemeinsam diese Orte aus, weil sie so der Natur am nächsten waren. Nur die Zeltwände trennten sie nachts von der Umgebung. Sie wurden nach und nach eins mit dieser Umgebung, wie Jim und Richie aus ihren eigenen Erfahrungen wussten. Dieses Einswerden mit der Natur löste bei ihnen selbst jedes Mal einen willkommenen Mechanismus aus, den Richie für diese Expedition unbedingt nutzen wollte. Paddy dachte ganz genauso. Als Aborigine war er sogar in diese einzigartige Natur der Kimberleys hineingeboren worden und in ihr ganz zuhause. Für den Erfolg ihrer Mission war es Richie in Absprache mit Jonathan sehr wichtig, dass auch die Übrigen davon profitierten, obwohl sie möglicherweise jetzt noch nicht lange genug unterwegs waren. Bis alle in den Genuss der vielen Vorzüge kamen, die das Leben in der freien Natur jedem anbot, der in der Lage war, es zu verstehen und anzunehmen, würde es vielleicht noch mehrere Tage dauern. Es nutzte also wenig, wenn sie sich zu sehr mit dem Vorwärtskommen beeilten, auch wenn sie sich bei Beginn ihrer Suche ein Zeitlimit von vier Wochen gesetzt hatten.
Wie mir jetzt mit jedem Tag des wiederholten Vordringens in dieses riesige Land klarer wurde, würde sich auch lange Zeit nach mir vermutlich niemand so weit vorwagen. Ich hatte mir wieder sehr viel vorgenommen. Inzwischen war ich mit meinen Leuten bis zu diesem Punkt vorgedrungen, den wir vor einigen Tagen erreichten.
Die Ureinwohner hatten uns, bis auf wenige Ausnahmen, kaum belästigt. Manche waren geflüchtet, als unser Tross sie im Vorbeiziehen überraschte. Andere, die zudringlich wurden, konnten meine Männer mit Gewehrschüssen in die Luft vertreiben. Die Wilden in den meisten Gegenden, durch die wir kamen, schienen friedliebend zu sein. So war diese Expedition bisher von feindlichen Angriffen verschont geblieben.
Bei dieser dritten Reise hatte ich mir vorgenommen, manches anders zu handhaben als die beiden Male zuvor. War ich zuvor immer darauf angewiesen gewesen, täglich Wasser und Nahrung für uns und die Tiere zu finden, während wir gleichzeitig in unbekanntes Neuland vordrangen, so erkannte ich inzwischen aus der letzten, schmerzlichen Erfahrung dieses doppelte Wagnis als solches und hatte mich eines Besseren besonnen. Damit reduzierte ich auf umsichtige Weise das Risiko meiner schwierigen Unternehmung und verdoppelte gleichzeitig die Chance auf ihren Erfolg. Bis jetzt gab mir diese neue Strategie eindeutig Recht. Wir kamen gut voran, auch, wenn es dadurch immer wieder zu Aufenthalten kam.
Jim hatte die Aluleiter angelehnt und das Dachzelt ihres Wagens aufgestellt, als die beiden anderen Fahrzeuge endlich mit gefüllten Wassertanks und in kurzem Abstand ankamen. Dianne und Paddy stiegen aus ihrem Auto aus, während Bill gleich die etwas versteckt liegende Buschtoilette aufsuchte.
Frank und Hans schauten sich interessiert in der Umgebung um. Dunkelrote bis schwarze Felsendome, teilweise mit Spinifex-Gras bewachsen und von den extremen Temperaturschwankungen abgeschliffen, beherrschten das Profil dieses Parks, wie ihn die Natur im Laufe vieler Erdzeitalter geschaffen hatte. Auch Dianne drehte sich beeindruckt um die eigene Achse.
„Na, gefällt es dir hier, Honey?“ Paddy stand neben ihr und sprach so leise, dass außer ihr ihn niemand verstehen konnte.
„Hier bist du also zu Hause.“ Und sie wiederholte diese Worte noch einmal für ihn. Diesmal war nicht zu überhören, dass Dianne viel geübt hatte und inzwischen dem Tonfall der Yalmangully sehr nahe gekommen war.
Der Ranger lächelte.
„Nicht genau hier, etwa hundert Kilometer weiter nordwestlich in den Kimberleys.“
Sie gingen die wenigen Schritte zurück zu ihrem Fahrzeug. Paddy begann, das Zelt auf dem Dach zu entfalten und aufzustellen, während Dianne sich in seiner Nähe auf die Holzumrandung des Platzes setzte, ihm zuschaute und schließlich ihren Blick über diese beeindruckende Kulisse schweifen ließ, die heute den malerischen Rahmen für ihr Lager bilden würde. Als sie sich satt gesehen hatte, lächelte sie ihn an.
„So langsam beginne ich dich zu verstehen, Paddy Crocodile.“
Bill hatte sich inzwischen aus der Kühlbox ein Bier geholt und ging auf Frank zu, der mit dem Aufbau des Dachzeltes auf ihrem Wagen begonnen hatte. Sein Boss schaute sich ganz genau in der Gegend um, bis er weiter hinten eine auffällige Felsformation entdeckte und zeigte in diese Richtung.
„Jetzt dürfte es ein bisschen zu spät sein, Frank. Das Licht kommt falsch an, aber morgen früh, gleich nach Sonnenaufgang, werden wir ein paar Bilder von hier einfangen. Auch von den Felsen da drüben.“ Er nahm einen Schluck aus der Flasche. „Wir haben zwar schon genug schöne Bilder für Jonathan, aber solange sich nichts Aufregenderes anbietet, können wir auch nichts Aufregenderes filmen.“
Frank hatte weiter gearbeitet und war jetzt soweit mit dem Aufbau fertig.
„Okay Bill, ich bin rechtzeitig mit der Ausrüstung da.“ Er stieg die Leiter hinunter und ging zu Jim, um ihm seine Hilfe anzubieten. Der war gerade damit beschäftigt, den Tisch und ihre Klappstühle aufzustellen. Jim schüttelte den Kopf.
„Mach einen Augenblick Pause, Junge. Ich bin fast soweit. Später kannst du gerne unser Barbecue übernehmen.“
Für genügend Feuerholz war bereits gesorgt. Deshalb folgte Frank Bill zu der Holzbegrenzung, um sich zu setzen und den Ort ein wenig auf sich wirken zu lassen. So, wie es aussah, war für heute Drehschluss. Bill trank sein Bier. Und das tat er immer erst, nachdem er seinen Job erledigt hatte. Sein Boss konnte sein, wie er wollte, darin jedenfalls war er ein Profi.
„Wann kommen wir denn wieder an eine Waschmaschine, Jimmy? Wir müssen unbedingt waschen.“
Frank sah, wie Annette bei Jim ein kurzes, unverständliches Kopfschütteln auslöste.
„Da wirst du dich wohl noch ein paar Tage gedulden müssen, Süße...“ Jim schaute sie lachend an. Aber wenn du Lust auf ein Schäferstündchen hast, das kann ich dir schon heute Abend bieten.“
Annette schüttelte vehement den Kopf.
„Kein Bedarf, Jimmy. Heute Abend habe ich nämlich schon was vor.“
„Na, vielleicht klappt’s ja morgen?“
„Ja, vielleicht.“ Annette beeilte sich, diese Unterhaltung mit dem blonden Australier zu beenden und ging zielstrebig zu Frank hinüber. Sie griff ohne jegliche Vorwarnung hinten an den Kragen seines Polohemdes und schaute hinein. Erschrocken zuckte er zusammen.
„Sag mal, schnappst du jetzt vollkommen über? Was soll das denn werden?“ Frank schüttelte sie wütend ab.
Irritiert über seine harsche Reaktion, zog Annette ihre Hände beschwichtigend zurück.
„Du hast doch meine Größe. Also...“
„Also was?“ Frank war stocksauer.
„Entschuldige. Ich wollte nur mal nachsehen, ob du vielleicht...? Ich habe kein einziges frisches Oberteil mehr im Koffer.“
„Du nervst ganz schön mit dieser Endlosnummer, weißt du das?“
„Aber ich hab keine sauberen Sachen mehr.“
„Du kannst eine von meinen haben.“ Dianne spazierte Hand in Hand mit Paddy vergnügt an den beiden vorbei und schmunzelte.
Annette seufzte erleichtert.
„Danke Dianne, du bist klasse.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich kann doch schließlich nicht dreimal hintereinander dasselbe Shirt anziehen.“ Sie blickte in Diannes verständnisvolles Gesicht.
„Schon gut, Annette. Sobald wir zurück sind, gebe ich dir eins von meinen.“
Während die beiden Verliebten ihren Weg hinein in das Gewirr der Felsendome fortsetzten, schaute sich Annette sehr erleichtert um. Richie war nirgendwo zu entdecken. Auch Hans nicht. Bestimmt hatten sie ihre Köpfe wieder in diese vergilbten Karten gesteckt oder sie durchforsteten die Kramer’sche Datenbank des Laptops nach bislang unentdeckten Gemeinsamkeiten. Wenn das so war, wusste sie auch, wo sie die beiden Männer fand.
Bills Blick schien sich auf dem Weg zwischen den eng zusammenstehenden Felsen zu verlieren, die Dianne und den Aborigine jeden Augenblick zu verschlucken drohten. Er saß noch immer neben seinem Assistenten auf der Abgrenzung und trank sein Bier. Ohne ihn anzusehen, wandte er sich an Frank.
„Was hältst du davon, wenn wir uns da drin auch mal umsehen, Junge? Es ist noch hell genug. Schaden kann es jedenfalls nichts, wenn wir uns jetzt schon ein paar Gedanken machen, wie wir dieses Motiv auflösen. Dann haben wir die Bilder morgen früh auch schneller im Kasten.“ Ohne die Antwort abzuwarten, erhob er sich und ging, wie in Trance, hinter den beiden her.
„Okay, ich komme mit.“ Frank ahnte, was seinen Boss tatsächlich bewegte. Er grinste, bis er zu ihm aufgeschlossen hatte.
Als die Weißen kamen, drangen sie auch in das Stammesgebiet der Barunggan vor und nahmen sich, was sie zu benötigen meinten. Sie nahmen ihnen den Platz weg, und sie raubten ihre Frauen, ihre Mütter und ihre Schwestern. Wer sich ihnen und ihrer Gier in den Weg stellte, wurde erschossen. Oder verjagt. Der Clan von Billy und Jonny wich den Eindringlingen aus, soweit das möglich war. Als Nomaden durchstreiften sie weiterhin den Busch und hielten sich nie lange an einem Ort auf. War die Nahrung erschöpft, sorgten sie zwar für das darauffolgende Jahr vor, indem sie einfach ein paar Früchte zurückbehielten, ihre Samen in die Erde steckten und sich darauf verließen, dass sie bei ihrem nächsten Besuch hier wieder genug zu essen fanden. Schon immer hatten sie es so gemacht. Sie kannten die Plätze genau und wussten, wo sie wann reife Früchte und Wurzeln oder jagdbare Tiere fanden. Die Weißen aber ließen ihnen immer weniger Raum übrig, um weiter so ihr Überleben sichern zu können, wie schon die unzähligen Generationen vor ihnen seit Beginn der Traumzeit es getan hatten. Die europäischen Eindringlinge nahmen die fruchtbarsten Plätze für sich selbst in Besitz und überließen die Eingeborenen dem sicheren Tod. Um nicht zu sterben, verdingten sich viele Aborigines als Arbeiter auf den immer zahlreicher werdenden Farmen, obwohl ihnen diese Art Arbeit von Natur aus fremd war. Die Not, die dieselben Weißen über ihr Volk gebracht hatten, zwang sie jetzt in ihre Dienste. Als Gegenleistung erlaubten ihnen die neuen Herren des Landes ihrer Ahnen, zusammen mit ihren Familien auf den Farmen zu leben – in gebührendem Abstand von den weißen Arbeitern. Man zwang sie in die Kleider der Weißen, und man erwartete von ihnen Loyalität für diese großzügigen Gesten. Der Besitzer der Station, auf der Billy und Jonny zuvor arbeiteten, unterstützte meine Expedition nach Swan River, und ich lieh mir die beiden mit dem Einverständnis ihres Bosses für diese Unternehmung aus. Sie kannten sich im Busch aus wie die weißen Männer in ihrer Westentasche, und so begleiteten sie mich jetzt auf dieser langen Reise. Sie würden dennoch niemals unsere Gewohnheiten annehmen. Sie blieben das, was sie von Natur aus waren: Aborigines. Das Wissen ihrer Ahnen lag tief in ihnen verborgen. Es leitete sie, wohin sie auch gingen. Jonny und Billy hüteten es, wie jeder ihrer Brüder es hütete. Keiner von ihnen würde es je wagen, dieses Wissen an einen weißen Eindringling zu verraten. Sie trugen das Vermächtnis ihrer Ahnen in sich, wie es von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Und sie würden eher sterben, als dieses Vermächtnis preiszugeben. Sie hatten ihre Mütter bis zu dem Tag begleitet, wo sie für dieses Ritual weggeführt wurden, das sie zu Männern machte. Schon Tage vorher waren die Frauen des Stammes voller Unruhe gewesen, und die Jungen hatten gespürt, dass sich etwas ereignen würde, was ihnen Angst machte. Niemand wusste, was geschah, und niemand hatte jemals ein Wort darüber gesprochen. Aber in jedem Jahr passierte das Gleiche, und es war ungewiss, wer als nächster an die Reihe kam. Irgendwann waren sie selbst es gewesen, die das Lager und ihre Mütter ohne Vorwarnung verlassen und einem alten Mann nachts in den Busch hinaus folgen mussten. Einige Zeit später kehrten sie verändert zurück und lebten von da an mit den Männern ihres Stammes. Sie gingen mit ihnen auf die Jagd und lernten nun von ihren Vätern. Es war auch ihnen strengstens untersagt, etwas über das weiterzusagen, was sich da draußen zugetragen hatte. Welche Erfahrung hinter ihnen lag und ein Teil ihres Lebens wurde, blieb für alle Zeit allein ihr persönliches Geheimnis.
15° 45’ 41.94’’ S / 128° 45’ 06.10’’ O – Diamond Valley, WA – Eingang zum Tal der Träume Am Fuße eines markanten Felsens, der weithin sichtbar die Gegend überragte, blieben Dianne und Paddy stehen. Sie schauten nach oben zu dieser alles überragenden Steinformation, die eindeutig einem Zweck zu dienen schien. „Sieh mal, Honey, das ist der Wächter des Tals, das dahinter liegt. Es war einmal eine der heiligsten Stätten der Aborigines und jeder, der es ohne das Wissen der Ahnen betreten hat, musste sterben. Nur ein paar Auserwählte und die Ältesten unserer Stämme haben sich hier zu geheimen Zeremonien getroffen. In diesen Zusammenkünften sind sie den Ahnengeistern begegnet, die ihnen den Weg gewiesen haben, den sie zu gehen hatten. Heute ist dieses Gebiet ein Nationalpark, wie so viele andere heilige Versammlungsorte meines Volkes auch. Sie sind für jeden zugänglich, aber den meisten Besuchern bleibt die Kraft verborgen, die von diesen Plätzen ausgeht. Und für uns sind sie für immer entweiht. Mit dem Verlust der heiligsten Kraftorte hat mein Volk seine Wurzeln und die Orientierung verloren, ohne die so viele von meinen Brüdern und Schwestern ihren eigenen Weg nicht mehr finden.“ „Lass uns hineingehen, Paddy, ja? Oder glaubst du, dass es für dich und mich zu gefährlich ist?“ „Wenn du möchtest, gerne. Der Park ist öffentlich. Und ich glaube nicht, dass es uns schaden wird, wenn wir das Tal betreten.“ Er setzte sich in Bewegung und zog Dianne hinter sich her. „Komm Honey, bevor die Sonne zu tief sinkt. Dann verliert dieser Ort nämlich seinen Zauber.“ Lachend liefen sie den schmalen, sich leicht windenden Weg entlang, tiefer in die langsam enger werdende Schlucht hinein. Vor ihnen öffnete sich die Landschaft zu einem weiten Talkessel. Paddy kletterte auf einen Felsvorsprung, und seine Liebste folgte ihm. Sie ließen sich nebeneinander darauf nieder. Ein bisschen erschöpft von der schier endlosen Fahrt und eng an Paddy geschmiegt beobachtete Dianne, wie die Sonne die gegenüberliegende Seite anstrahlte und die Felsen in ein wunderschönes und warmes Licht tauchte. Die Büschel aus Spinifex bildeten einen blassgrünen dreidimensionalen Tupfenteppich inmitten des rostbraunen Ockertons des scheinbar glühenden Urgesteins. „Ein wirklich schöner Platz ist das hier. Und zur Abwechslung ist das ein sehr romantischer Ort. Findest du nicht auch?“ Dianne schaute sehr verliebt in die schwarzen Augen des Rangers, der ihre Gefühle mit einem zärtlichen Kuss auf ihre Stirn erwiderte. „Ja, ein wunderschöner Ort.“ Dann wiederholte er diesen Satz, wie er das inzwischen fast immer tat, wenn sie allein waren. „Ein Platz zum Verlieben. Wie sagt das ein Yalmangully?“ Paddy beantwortete gern ihre Frage. Dianne wiederholte das Vorgesagte wieder und wieder, bis auch dieser Satz perfekt aus ihrem Munde kam. Als Belohnung küsste er sie voller Hingabe. Und auch seine gelehrige Schülerin gab sich ein weiteres Mal dem Gefühl ihrer Liebe hin.
Beinahe unmerklich mischte sich in die friedliche Atmosphäre des Tales ein Schwirren. Der Ranger löste sich von Dianne und lauschte aufmerksam. Das Geräusch schwoll an und füllte die Luft immer intensiver. Paddy richtete sich auf und schaute sich um. Ihre Fahrzeuge mit den aufgeschlagenen Dachzelten waren von dieser Stelle aus nicht zu sehen. Die vielen Biegungen der engen Schlucht versperrten ihm den Blick zurück. Stattdessen entdeckte Paddy einen Reiter, der wie aus dem Nichts aus dieser Richtung auftauchte und auf sie zukam. Neben ihm ging ein Aborigine. Ehrfurchtsvoll und ängstlich verlangsamte er seine Schritte, als er den drohend auf sie herabschauenden felsigen Wächter des Tals entdeckte. Der Weiße auf dem Pferd hielt an und schaute interessiert ebenfalls zu dem markant geformten Stein hinauf.
„Dieser Felsen ist eine weithin sichtbare Landmarke. Ich werde ihn in meinem Skizzenbuch festhalten.“ Der Mann zog ein Heft und einen Stift aus der Satteltasche und begann, ohne zu zögern, die Gesteinsformation zu skizzieren. Als er damit fertig war, trieb er sein Pferd weiter vorwärts. „Komm, Billy, das möchte ich mir mal näher anschauen.“
Der Schwarze zögerte und folgte ihm dann doch ein paar Schritte, um erneut zu verharren. Keine Sekunde lang hatte er den Blick von der Gestalt abgewendet.
„Halt, Sir! Wir dürfen dieses Gebiet auf keinen Fall betreten.“
„Und warum nicht?“
Der Schwarze deutete angstvoll nach oben.
„Der Wächter des Tals verbietet es uns. Und hören Sie nicht das Schwirrholz? Es ist ein verbotener Ort.“ Er griff beherzt nach dem Zügel am Maul des Pferdes und wollte den Reiter zum Umkehren bewegen.
Der Weiße schüttelte verständnislos den Kopf und hielt offensichtlich nichts von diesem Argument.
„Aber, das ist nur eine geologische Formation und nichts Außergewöhnliches. Ich will mich hier einfach mal umschauen, verstehst du? Geologisch erscheint mir diese Gegend höchst interessant.“
„Aber wir müssen hier umkehren, Sir! Es ist zu gefährlich. Wir werden sterben... “
Der Reiter beugte sich ein wenig hinab.
„Wovor hast du solche Angst, Billy?“
„Dies ist der Eingang zu einem sehr heiligen Ort. Wer ihn betritt, muss sterben...“ Billy flehte ihn fast an und zerrte erneut am Zügel. Das Pferd trat unsicher auf der Stelle.
Der Weiße schüttelte mitleidig den Kopf über diese Panik, die seinen schwarzen Begleiter ergriffen hatte, und beruhigte gleichzeitig das Tier.
„Ho... Das ist doch nur wieder eins von euren Märchen und wissenschaftlich durch nichts bewiesen.“
„Aber Sir...“ Der Aborigine versuchte es ein letztes Mal, das Pferd mitsamt seinem Reiter zurückzuhalten. Es reagierte nur mit einem ungehaltenen Wiehern. Noch kämpfte Billy offensichtlich darum, in seiner Verzweiflung ernst genommen zu werden.
„Wer diesen Ort ohne Erlaubnis der Ahnengeister betritt, muss sterben, Sir!“
„Wenn deine Angst vor euren eigenen bösen Geistern so groß ist, dann geh zurück ins Lager und sage Bescheid, dass ich die Gegend hier noch bis Sonnenuntergang untersuchen werde. Ich bin vor Einbruch der Dunkelheit zurück im Camp.“
„Mister Kramer, Sir... bitte tun sie das nicht!“
„Ich lasse mich einfach nicht beeindrucken von eurem Zauber, verstehst du? Ich bin Naturwissenschaftler und glaube nur an das, was ich selbst sehe. Und in diesem Moment sehe ich nur diese enge Schlucht und diesen Felsen da oben. Ich beabsichtige durchaus nicht, diesen Ort, den du als heilig bezeichnest, zu entehren. Ich bin Christ und werde lediglich meine geologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Gegebenheiten ziehen.“ Verärgert über diese Art der Verzögerung, gab er seinem Pferd die Sporen. Das Tier schreckte auf und setzte sich mit einem Galoppsprung vorwärts in Bewegung.
Billy ließ kraftlos die Zügel fahren und schaute seinem Herrn von Panik ergriffen hinterher.
„Aber Sie werden uns alle in Gefahr bringen, Sir...! Das ist das Tal unserer Träume.“
Der Weiße trieb jetzt sein Pferd in die Schlucht hinein, die sich vor ihm immer mehr verengte. Er konnte die letzten, verzweifelten Worte des Schwarzen offensichtlich nicht mehr hören. Das Schwirren füllte die Luft immer stärker aus und verschluckte beinahe seine Worte.
Paddy und Dianne hatten stumm die Szene beobachtet, die sich in einiger Entfernung von ihnen abspielte. Sie schauten sich ungläubig an.
„Träume ich oder passiert das da gerade wirklich? Vielleicht kneifst du mich mal!“
Der Aborigine konnte sich auch nicht erklären, was vor sich ging, aber er hörte weiterhin deutlich das Schwirrholz, dessen Klang immer noch eindringlicher zu werden schien.
„Hörst du das auch, Honey?“
Dianne nickte irritiert. Was war hier los? Träumten sie gerade oder war das alles real? Sie sah wortlos zu, als Paddy sich neben ihr wie selbstverständlich erhob und den Reiter, nachdem der den Felsenwächter schon passiert hatte, von seiner erhöhten Position aus ansprach. So laut, dass er nicht zu überhören war.
„Stopp! Bleiben Sie stehen! Sie dürfen auf keinen Fall weiter in diese Schlucht hineinreiten!“
Der Weiße drehte seinen Kopf irritiert in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Als er den Schwarzen endlich auf seinem Felsvorsprung entdeckte, rief er zu ihm hinauf.
„Was willst du von mir?“
„Das Tal der Träume ist uns Aborigines heilig, Sir. Sie dürfen es auf keinen Fall betreten. Wenn Sie nicht auf der Stelle umkehren, werden Sie schon bald ein toter Mann sein!“
Das Pferd tänzelte auf der Stelle. Ärgerlich antwortete Kramer.
„Willst du mich jetzt etwa auch von meinen wissenschaftlichen Untersuchungen abhalten?“
Paddy schüttelte den Kopf über die Hybris dieses Mannes.
„Sind die tatsächlich so wichtig, dass Sie das Tal unserer Träume dafür betreten und entweihen müssen? Dieser Ort ist für jeden tabu, der nicht eingeweiht wurde. Egal, ob schwarz oder weiß.“
Kramer winkte ab.
„Das entspringt doch nur eurer Phantasie.“
In Paddy stieg eine unbändige Wut hoch.
„Ich warne Sie jetzt zum letzten Mal, Sir. Kehren Sie um! Reiten Sie zurück zu Ihren Leuten, und reiten Sie nicht weiter da hinein!“
Der scheinbar Unbeirrbare trieb sein Pferd mit einem unsanften Tritt in die Flanke vorwärts.
„Auch du wirst mich nicht aufhalten, Aborigine!“
Der Ranger stieg sehr flink die Felsen in die Schlucht hinunter. An der engsten Passage, die den Reiter noch vom Tal ihrer Träume trennte, stellte er sich dem Weißen in den Weg und griff überraschend in die Zügel. Das Pferd scheute und bäumte sich augenblicklich auf.
„Lass sofort los!“
Sobald das Tier stillstand, griff der Mann nach seinem Gewehr und wollte es aus dem Halfter herausziehen. Aber Paddy reagierte blitzschnell und verhinderte auch dies.
„Sie werden sterben, noch bevor Sie die Küste erreichen und die Ergebnisse Ihrer Reise der Welt mitteilen können, Sir.“
Der Weiße schüttelte verächtlich lachend den Kopf.
„Mit dieser Drohung wirst auch du mich nicht von meinem Vorhaben abhalten können!“ „Kehren Sie um, Sir! Noch ist es möglich!“ Der Aborigine hielt den Zügel fest mit seiner Rechten. „Wer bist du, dass du es wagst, mir derart zu drohen?“ „Mein Name ist Paddy Crocodile vom Stamm der Yalmangully. Als Ranger des...“ „Und wenn schon.“ Der Reiter trat seinem Pferd verärgert in die Seiten. Es versuchte, dem Druck nachzugeben, aber Paddy versperrte ihm auch jetzt noch den Weg. Er machte einen weiteren Versuch, diesen Weißen zur Vernunft zu bringen. „Ich verspreche Ihnen: Ihr Name wird im Munde aller Aborigines sein, als derjenige, der das Tal unserer Träume entweiht hat!“ „Ach, scher dich doch zum Teufel, du Narr!“ Er versetzte seinem Pferd einen unerwartet groben Fußtritt und galoppierte mit dem erschrockenen Tier in die Schlucht hinein. Paddy flog zur Seite und prallte unsanft gegen einen Felsen. Dianne hatte sich bis jetzt ruhig verhalten, die Szene gebannt verfolgt und gehofft, ihr Liebster könnte diesen verdammten Idioten rechtzeitig umstimmen. Dann wäre ihr Auftrag bereits erledigt, und die Ureinwohner hätten ihre Träume behalten. Aber wie es gerade aussah, war diese Such-Expedition wohl doch noch nicht so bald zu Ende. Dianne stieg schnell hinunter in die Schlucht und half dem Aborigine auf die Füße. Er hatte ein paar unschöne Schrammen davongetragen. Paddy griff sich benommen an die Stirn und schüttelte vorsichtig seinen Kopf. Es dauerte einige Sekunden, bis er wieder ganz klar denken konnte. Kramer war längst aus seinem Blickfeld verschwunden. „Komm, Honey, wir müssen ihm folgen!“ Der Ranger zog Dianne eilig hinter sich her. Sie erreichten kurz darauf den weiten Talkessel. Die sinkende Sonne fiel noch immer auf die rotglühenden Felsendome. Diesmal sahen sie jedoch noch viel mehr als die blassgrünen Tupfer aus Spinifex zwischen den angestrahlten Steinformationen. Dieses Tal war überall wie von funkelnden Edelsteinen durchwirkt. Voller Ehrfurcht blieb Paddy stehen und trat sogar noch einen Schritt zurück. Dianne, offensichtlich vom gleichen überwältigenden Anblick erfüllt, wagte nur zu flüstern. „Ist es das? Das Tal eurer Träume?“ Der Aborigine beantwortete ihre Frage, ohne seine Augen von diesem Zauber abzuwenden. „Ja, Honey. Das muss das Tal unserer Träume sein, von dem mir mein Großvater erzählt hat. Und er wusste es von seinen Ahnen.“ „So etwas Wunderschönes habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen.“ Paddy schaute sie jetzt doch kurz an. „Ich auch nicht, Honey.“ Die Felsendome waren überall mit diesen funkelnden und glitzernden Steinen durchsetzt, die in der sinkenden Sonne die ganze Kraft ihres inneren Feuers zu entfalten schienen. So, wie sie strahlten, musste es sich um Diamanten handeln. Dianne konnte ihren Blick kaum von diesem grandiosen Schauspiel abwenden. Bis sie diesen Irren entdeckte, den sie für Kramer halten musste und der in einem entfernten Winkel des Tales damit begonnen hatte, die funkelnden Juwelen aus dem Gestein zu brechen. Dafür benutzte er offensichtlich einen Geologenhammer, soweit sie das aus der Entfernung erkennen konnte. „Da, Paddy. Das gibt’s doch nicht. Wie kann dieser Mann es wagen, die Steine einfach herauszubrechen? Los, komm! Wir müssen ihn wenigstens davon abhalten.“ Schon zog Dianne den Ranger am Arm, aber der hielt sie zurück. „Nein, Honey, bleib hier! Dazu ist es jetzt zu spät. Der Weiße hat dieses Tal schon mit seinem Betreten entweiht. Nun werden alle Aborigines mit dem Knochen auf ihn zeigen, und das hat noch niemand überlebt.“ Dianne schaute ihn betroffen an. „Du glaubst also auch an diesen magischen Fluch der Aborigines?“ „Nach allem, was ich in den letzten Minuten gesehen und erlebt habe, ja. Vergiss nicht, Honey, auch ich bin einer von ihnen. Und ich kenne die Strafe, die einer solchen Missachtung unserer Gesetze folgt.“ Der Eindringling machte sich an einem weiteren funkelnden Stein zu schaffen. In Dianne stieg eine noch ungekannte Wut hoch. Am liebsten hätte sie diesem Frevel sofort persönlich ein Ende gesetzt. Plötzlich wurde ihr Blick abgelenkt, als sie aus dem Augenwinkel auf der anderen Seite des Tales, im Schatten der Felsen, eine zweite und daneben eine dritte Gestalt wahrnahm, die dort herumkletterten. Auch eindeutig Weiße. Sie machte Paddy darauf aufmerksam, der ihr bis dahin wie gelähmt erschien. Er erkannte die Männer sofort. „Bill und Frank... Verdammt, was machen die hier?“ Dann schaute Dianne wieder zu Kramer hinüber. Er war verschwunden. Sie suchte vergeblich die Felsen nach ihm ab. Er war weg und mit ihm dieses unglaubliche Glitzern und Funkeln. Dieser allgegenwärtige Zauber der letzten Augenblicke hatte sich in ein Nichts aufgelöst.
Paddy hatte die Veränderung in dem Moment gespürt, als er die Kameraleute erkannte. Auch das anhaltende Schwirren war von einer Sekunde zur nächsten abgerissen. Jetzt hörte er nur noch die Grillen, die zu dieser Tageszeit mit ihrem Konzert begannen, das bis in die späten Abendstunden hinein anhalten würde, um mit der hereinbrechenden Kühle der Nacht langsam zu erstarren.
Er und Dianne sahen sich an. Nur sehr langsam drang diese erneute und unerklärliche Veränderung der Umgebung in ihr Bewusstsein vor. Das, was sie soeben mit diesem Kramer erlebt hatten, passte in keinerlei Schema.
„Das ist nun schon das zweite Mal, dass wir diesem Menschen begegnet sind. Und wir kommen einfach nicht an ihn heran.“ Dianne war ziemlich durcheinander. Aber es musste irgendeine Erklärung geben. Also versuchte sie, für sich selbst eine halbwegs plausible Antwort zu finden. „Was meinst du, Paddy, ob Bill und Frank was gesehen haben? Sie waren doch auch in diesem Tal und müssen das unübersehbare Funkeln der Steine und diesen Mann gesehen haben?“
Der Ranger zuckte die Schultern.
„Wir werden sie fragen. Komm, wir gehen zurück zu den anderen. Wir können hier nichts mehr tun.“
Dianne bemerkte den niedergeschlagenen Ton in der Stimme ihres Liebsten. So kannte sie ihn bisher nicht. Aber es wunderte sie auch nicht, nach allem, was ihm und seinen Leuten von diesem Weißen in ihrem Tal der Träume da soeben angetan worden war. Ihr Paddy hatte es sogar mit eigenen Augen mitansehen müssen und konnte es nicht verhindern. Er musste es als eine schlimme, persönliche Niederlage ansehen, dass er sein Volk nicht besser hatte beschützen können. Obwohl er sich diesem Reiter entgegengestellt hatte, war es ihm nicht gelungen, ihn aufzuhalten.
Inzwischen hatten sie Bill und Frank, die von ihren Felsen heruntergestiegen waren, fast erreicht. Dianne konnte es kaum erwarten, ihre Frage loszuwerden.
„Ihr habt den Mann, Kramer, doch bestimmt auch gesehen?“
Bill schaute sie verdutzt an. Dann ließ er seinen Blick zu Paddy hinüber gleiten, der zur Bestätigung nickte. Kopfschüttelnd ließ er seinen Blick schweifen.
„Und wo, bitte, soll das gewesen sein? Ich habe niemanden gesehen. Du, Frank?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
Dianne zeigte in die Richtung, wo die Juwelen gerade erst herausgebrochen worden waren.
„Hier in diesem Tal. Da drüben auf der anderen Seite. Er ist auf einem Pferd geritten.“ Sie hatte es vorgezogen, nicht mehr zu verraten. Wenn die beiden ihn nicht gesehen hatten, würden sie ihr vermutlich sowieso kein Wort glauben.
„Soll das heißen, er war hier?“ Frank drehte sich jetzt auch interessiert um und suchte den Kessel ohne Ergebnis ab.
„Ja, und jetzt ist er verschwunden. Wir dachten, dass ihr ihn von da oben auch hättet sehen müssen.“
In Bill gärte es erneut. Reichte es nicht, dass diese Frau ausgerechnet diesem Schwarzen schöne Augen machte? Nein. Jetzt tischten sie ihm schon zum zweiten Mal eine Story von diesem Kramer auf.
„Eure Phantasie ist diesmal wohl mehr als nur ein bisschen mit euch durchgegangen, was? Oder sind das vielleicht doch eher die Hormone?“
Frank, der spürte, dass Bill wieder von seiner krankhaften Eifersucht beherrscht wurde, gab schnell die Antwort.
„Du vergisst, Bill, dass Richie ihn auch schon mit eigenen Augen gesehen hat.“
„So, hat er das?“ Immer, wenn Bill sich auf den Arm genommen fühlte, konnte er neuerdings seinen Ärger kaum zügeln. Und jetzt fühlte er sich schon wieder verschaukelt. „Meine Meinung ist, dass ihr uns alle an der Nase herumführt! Ich jedenfalls glaube euch kein Wort!“ Für heute war sein Bedarf gedeckt. „So, und jetzt gehe ich zurück und trinke in Ruhe mein Bier.“ Er drehte sich bereits auf dem Absatz herum.
Dianne und Paddy hatten die mahnende Wächtergestalt des Tales hinter sich gelassen und waren auf dem Weg zurück in ihr Camp. Kramer blieb verschwunden, obwohl Dianne sich immer wieder umgesehen hatte, um ihn vielleicht doch noch irgendwo zu entdecken. Mit jedem Schritt, den sie sich von diesem Diamond Valley entfernte, wuchsen ihre Zweifel. Hatte sie vielleicht das Zusammentreffen mit diesem Weißen einfach nur geträumt?
Dagegen sprach allerdings, dass auch der Aborigine ihn gesehen und sich ihm tatsächlich in den Weg gestellt hatte. Seine unübersehbare Beule am Kopf war noch weiter angeschwollen.
Schon von weitem sahen sie Annette und Richie auf sich zukommen. Kaum in Hörweite begann Richie zu rufen.
„Ich habe die Neuigkeit schon von Frank gehört, Paddy. Wo ist er? Was ist passiert?“
Annette entdeckte die Verletzung am Kopf des Aborigine, als sie kurz darauf zusammentrafen.
„Wer hat dich denn diesmal so zugerichtet? Das sieht ja schlimm aus!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff Richie wieder das Wort. Seine Aufregung war in seinem geröteten Gesicht abzulesen. „War er es tatsächlich? Ich kann es gar nicht glauben, dass er bis hierher gekommen ist!“ Annette mischte sich erneut ein. „Euch beide darf man offensichtlich nie aus den Augen lassen. Oder?“ „Ja. Es sieht ganz so aus.“ Dianne lächelte sie an. „Nun erzählt endlich, was da drinnen geschehen ist?“ Richie glühte vor Enthusiasmus. Er konnte jetzt einfach nicht länger auf die Details warten. Die Geschichte langweilte Annette inzwischen so sehr, dass sie beschloss, Richie mit seinem Lieblingsthema den beiden zu überlassen. „Okay, ich sehe mich noch ein bisschen in der Gegend um.“ Als sie keine Antwort bekam, spazierte sie allein auf die Schlucht zu.
Es war inzwischen dunkel und das Feuer der Ort, an dem sie sich am Abend alle versammelten, um über die Ereignisse des fast vergangenen Tages zu reden oder über das, was sie für den nächsten Tag planten. Bis auf Jim und Annette saß das Team um die Feuerstelle herum.
Dianne hatte sich an Paddy angelehnt und beobachtete die Flammen, während Frank gerade ein dickes Holzstück tiefer in die Glut hineinschob. Bill holte sich eine der letzten kalten Dosen aus der Kühlbox, trank sein Bier und beteiligte sich nicht an ihrem Gespräch. Er hatte sich ganz in seinen Unmut zurückgezogen und dachte offensichtlich nach. Richie und Hans hatten wieder ihre Karten vor sich ausgebreitet, ohne sie jedoch zu beachten.
Paddy richtete sich auf. Sein Kopf schmerzte noch immer, wenn er sich bewegte. Aber das schien wirklich nicht das Schlimmste zu sein, das ihn quälte. Es waren die Selbstzweifel, die mit wachsender Intensität an ihm nagten.
„Ich hätte es verhindern können, wenn ich mich ihm nur konsequenter in den Weg gestellt hätte!“
Dianne drehte sich zu ihm um und protestierte zum wiederholten Mal vehement gegen diese Art von Selbstzerfleischung.
„Aber Paddy, wir waren so überrascht über das, was wir sahen. Und außerdem hat er dich regelrecht über den Haufen geritten. Hast du das denn vergessen?“
„Warum sollte er so etwas tun? Er war ein begnadeter Naturwissenschaftler. Etwas anderes hat ihn nie interessiert.“ Hans wollte nicht wahrhaben, was die beiden über seinen Ururgroßonkel behaupteten. „Und er war auch kein gemeiner Strauchdieb.“
„Aber wir haben es mit eigenen Augen gesehen, wie er diese Edelsteine aus dem Fels herausgebrochen hat.“ Auch diesmal blieb die Zeugin des Geschehens bei ihrer Version und versuchte die Aussagen glaubhaft zusammenzubringen. Aber es gelang ihr nicht wirklich. Das, was Hans über seinen Verwandten sagte, passte so gar nicht zu dem, was sie beide in der Schlucht und in diesem Kessel erlebt hatten. Eindeutig war es, dass dieses Tal der Träume entweiht wurde und dass die Aborigines ohne ihre Träume schon über viele Generationen hinweg keine Chance hatten, sich in der Gegenwart der Weißen zu behaupten.
„Wir müssen unbedingt wissen, wo er steckt. Vielleicht finden wir so unsere Träume wieder...“ Paddy richtete sich nur kurz auf und sank dann erneut in sich zusammen. Seine Augen starrten ausdruckslos in die Flammen. Die Schmach, die er für sein gesamtes Volk durch sein vermeintliches Versager erlitten zu haben glaubte, nagte nach dieser letzten fatalen Begegnung wie ein unsichtbarer Zahn an ihm.
„Seit dem Tag, an dem ich die Kramer’sche Expedition am Springhill gesehen habe, versuche ich die Lösung unseres Auftrags zu finden, Paddy. Und ich werde es weiterhin versuchen.“ Richie war sehr bemüht, den Ranger in seiner Niedergeschlagenheit aufzufangen. Bisher war es ihm nicht gelungen. Niemandem. Sie hatten inzwischen schon drei Beweise für Kramers Existenz. Und sie wussten nun definitiv, dass er auch hier in diesem Tal war. „Wenn dir das auch nicht gefällt, was geschehen ist: Du kannst es nicht ändern. Niemand kann es ungeschehen machen. Du musst es leider so akzeptieren und einfach noch Geduld haben. Ich bin mir ziemlich sicher, wir finden ihn. Wir haben die besten Voraussetzungen dazu. Wir sind hier auf der richtigen Spur.“
Auf Richie machte Paddy seit der Begegnung im Diamond Valley den Eindruck eines wandelnden Schattenwesens. Wenn es so war, wie die beiden glaubhaft geschildert hatten, dann traf den Aborigine keinerlei Schuld an dem Frevel, den ein anderer zweifellos begangen hatte. Und dieser andere war eindeutig ein Weißer gewesen. Aber war es tatsächlich der gesuchte Kramer? Was bislang nur im Reich ihrer eigenen Vermutungen kursierte, schien an diesem Abend, an diesem Ort und in dieser Runde zur Gewissheit geworden zu sein. Paddy hob den Kopf.
„Mein Volk braucht unbedingt seine Träume zurück. So kraftlos können wir nicht mehr leben.“
Bill stand genervt auf und klopfte dem Aborigine im Vorbeigehen auf die Schulter.
„Na dann, viel Glück, Kumpel. Ich gehe jetzt schlafen. Wenn ihr mich braucht, sagt Bescheid.“
Richie sah zu ihm auf.
„Okay, Gute Nacht.“
Auch Frank erhob sich, schob noch das bereits ausgebrannte Ende eines halbverkohlten Astes bis zur Mitte des Feuers und verabschiedete sich ebenfalls.
„Mich entschuldigt ihr bitte auch. Ich will noch mal telefonieren.“
„Okay, dann machen wir an dieser Stelle Schluss für heute. Gute Nacht.“ Richie erhob sich und reckte seine steifen Glieder. „Ich werde mir noch kurz die Beine vertreten.“ Er schaute sich um. „Sag mal Hans, wo sind eigentlich Annette und Jim abgeblieben?“
Hans saß noch am Feuer bei Paddy und Dianne. Er hatte sehr konzentriert und fast ungläubig zugehört. Und es widerstrebte ihm, den Worten der beiden zu glauben. Nun schaute er sich einigermaßen beunruhigt um.
„Keine Ahnung, Richie.“ Er hatte sie nach dem Essen nicht mehr gesehen.
„Sie ist vermutlich bei Jim.“ Dianne erinnerte sich, dass Annette noch gar nicht das Poloshirt bei ihr abgeholt hatte. „Vielleicht solltest du doch mal nachsehen, wo sie steckt, Hans.“
„Annette ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.“ Diese Frau ging ihm bisweilen tierisch auf die Nerven, seitdem sie unterwegs waren. Er hätte sie niemals mitbringen dürfen. Wo sie erschien, wirbelte sie überall in kurzer Zeit alles durcheinander. Hans merkte plötzlich, wie wütend er auf sie war.
Nebeneinander spazierten Annette und Jim den schmalen, unbeleuchteten und sandigen Weg entlang. Um sie herum zirpten noch immer vereinzelt Grillen, während sich über ihnen beinahe grenzenlos der sternklare Nachthimmel wölbte.
„Meinst du wirklich, wir finden diesen Kramer? Irgendwie scheint mir das alles ein bisschen verrückt, was wir hier machen.“
Jim hatte seinen Arm um Annettes Schultern gelegt und hörte ihr aufmerksam zu.
„Unsere Ausrüstung ist die beste, die du dir überhaupt vorstellen kannst.“
„Also ich glaube das erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe, Jimmy.“
„Wenn du mich nach meiner ganz ehrlichen Meinung fragst, dann sind wir leider noch ein ganzes Stück von unserem Ziel entfernt.“ Er lächelte sie an. „Du musst also noch eine Weile durchhalten.“
„Ich werde mein Bestes geben.“ Annette war bereit, auf dieser seltsamen Reise noch weiter mitzuspielen. Schließlich hatte sie ihre Teilnahme an dieser Expedition selbst forciert. „Wenn wir nur öfter eine Waschmaschine für unsere Klamotten ...“
„Sag mal, kann das sein, dass du an dieser Stelle...“ mit einer eindeutigen, kreisenden Handbewegung an seiner Stirn unterstrich der blonde Australier seine Frage, „... eine kleine Macke hast?“
„Was unterstellst du mir, Jimmy?“ Die große Einschränkung ihrer kreativen Möglichkeiten machte Annette das Leben auf dieser Reise zugegebenermaßen ziemlich zu schaffen. Dennoch verteidigte sie sich gegen diese Idee mehr als entrüstet.
„Ach, das war nur so ein Gedanke... Was hältst du davon, wenn wir uns hier ein wenig niederlassen?“
Bevor Annette ihm eine Antwort gab, setzte er sich auf die Erde und zog sie zu sich hinunter.
„Wir könnten gemeinsam die Sterne beobachten und den Grillen lauschen.“
Widerwillig ließ sie sich neben ihm nieder.
„Aber nur für einen Moment. Die anderen vermissen uns bestimmt schon.“
Jim lehnte an einem Felsen und blickte in den Himmel.
„Vergiss sie! Schau... Das da oben ist der Orion. Und da ist das Kreuz des Südens, siehst du?“ Er zeigte ihr die beiden Sternbilder und suchte ein wenig mehr Körperkontakt.
Als er merkte, dass sich Annette sträubte, schwenkte er um.
„Mir kannst du doch nichts vormachen, Süße. Zwischen Hans und dir läuft doch schon lange nichts mehr.“
„Oh doch, bei uns ist alles in bester Ordnung. Auch, wenn es für dich vielleicht nicht so aussieht. Wir verstehen uns prächtig.“
„Außer da, wo es drauf ankommt, vermutlich?“
Wütend sprang Annette auf.
„Was fällt dir ein, Jimmy? Jetzt gehst du eindeutig zu weit! Das geht dich überhaupt nichts an!“
Jim schmunzelte nur.
„Ich habe also Recht!?“
„Nein, hast du nicht! Und jetzt lass uns zu den anderen zurückgehen!“
Jim ergriff ihre Hand und zog sie wieder zu sich herunter. „Komm her zu mir, kleine Kratzbürste!“
Obwohl Annette sich wehrte, ließ er nicht locker.
„Lass deine Finger von mir!“ Schließlich konnte sie sich aus seinem Griff befreien und rannte allein zurück in die Dunkelheit, aus der sie vorhin gemeinsam gekommen waren.
Das Feuer war bereits weit heruntergebrannt, aber die Ereignisse des späten Nachmittags ließen weder Hans noch Richie los. Eine alte Karte lag ausgebreitet auf ihren Knien. Der Australier deutete auf die Kimberley-Region, die sich westlich von hier bis zur Küste des Indischen Ozeans erstreckte und im Süden von der Great Sandy Desert begrenzt war. Sie hatten heute den östlichen Rand dieses Gebietes erreicht und würden sich bald entscheiden müssen, in welcher Richtung sie ihre Suche fortsetzten. Müde faltete Richie die Karte zusammen und beobachtete seinen deutschen Kumpel, an dem noch immer heftige Zweifel nagten.
„Du glaubst diese Geschichte nicht. Weder die eine noch die andere, stimmt’s?“
Hans schüttelte ein weiteres Mal den Kopf, als könnte er so die unliebsamen Gedanken endlich loswerden, die immer um das kreisten, was sich nach Diannes und Paddys Aussage vor ein paar Stunden in diesem Tal ereignet hatte.
„Weißt du, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, Richie. Überleg doch mal. So etwas ist doch eigentlich unmöglich!“
„Aber habe ihn doch auch gesehen.“
„Schon, aber irgendwie... Ich weiß auch nicht... Ich kann es einfach nicht glauben! Diese Geschichte lässt meinen Ururgroßonkel in einem ganz anderen Licht erscheinen als bisher.“
Richie stand von seinem Campingstuhl auf und klopfte Hans aufmunternd auf die Schulter.
„Schon gut, mein Freund. Wir sind beide müde. Das alles bringt heute nichts mehr. Morgen sehen wir weiter. Ich werde jetzt auch schlafen gehen. Gute Nacht.“
„Okay, Richie, gute Nacht.“ Hans schaute ihn unsicher lächelnd an und erhob sich ebenfalls. „Ich glaube, ich werde doch mal nachsehen, wo Annette bleibt.“
Während er Richie schon ein paar Minuten später die Leiter zum Dach hinaufklettern sah, stand Hans noch in Gedanken vertieft da und zog die dicken Holzscheite soweit aus der Glut heraus, damit das Feuer erlosch. Plötzlich tauchte Annette aus der Dunkelheit neben ihm auf.
„Gut, dass du noch nicht schläfst.“
Hans nahm sie erst jetzt richtig wahr.
„Da bist du ja wieder. Wo hast du denn gesteckt?“
Annette wartete, bis Richie im Zelt verschwunden war.
„Es ist so schön da draußen, Hans.“ Sie senkte ihre Stimme, bevor sie weitersprach. „Ich möchte, dass du mit mir schläfst.“
Hans traute seinen Ohren nicht. „Lass dieses Spiel, ich bin sehr müde.“
„Das ist kein Spiel.“
„Das meinst du doch nicht im Ernst?“
„Komm schon, bevor ich es mir wieder anders überlege!“ Sie packte ihn fest am Arm.
„Okay, okay, ich komme ja freiwillig mit!“ Mit einem leisen, konspirativen Lachen gab er nach. Widerstandslos ließ er sich von ihr in die Dunkelheit hineinziehen. „Was ist denn plötzlich mit dir los?“
Der zuerst monotone und dann durchdringende Ton eines Didgeridoos weckte Paddy aus seinem Schlaf. Alarmiert schlug er die Augen auf und lauschte. Dann folgte ohne Vorwarnung ein lautes und markerschütterndes Kriegsgeheul. Der Aborigine setzte sich auf. Auch Dianne bewegte sich. Schlaftrunken zog sie ihren Liebsten am Arm.
„Was ist denn los, Paddy Crocodile? Lass uns weiterschlafen. Es ist noch mitten in...“
Ein Speer durchbohrte mit einem messerscharfen Riss die dünne Zeltwand und blieb am Fußende in der Matratze stecken. Dianne schreckte schreiend hoch.
„Mein Gott! Was war das denn?“
„Los komm, Honey. Nichts wie raus hier!“ Paddy fingerte bereits nach seinen Sachen. In Windeseile schlüpfte er in seine Hose und zog den Reißverschluss des Zeltes auf. Vorsichtig schaute er sich um. Auch Dianne hatte sich, so schnell es in dieser Dunkelheit möglich war, angezogen und war bereit, ihm nach draußen zu folgen. Noch zögerte er.
„Was ist? Kannst du was erkennen?“
Von ihrem Parkplatz war nicht mehr viel übrig. Ihre Fahrzeuge standen zwischen ein paar Büschen mitten in der freien Natur, am Rand eines Lagers, umringt von Ochsen, Mulis und Pferden, die alle wild durcheinander schrien und sich zu befreien versuchten. Etwas weiter entfernt kämpften weiße Männer mit Gewehren gegen wütende Aborigines. Die wurden angeführt von einem alten, weißhaarigen Mann. Ein weiterer Speer schwirrte nah an Paddys Kopf vorbei. Im letzten Moment konnte der ausweichen. Dann landete die Waffe im Reifen des Wagens nebenan. Die Luft entwich mit einem lauten Zischen. Es war höchste Zeit zu handeln.
Mit einem Satz sprang Paddy aus dem Zelt heraus und vom Autodach auf den Boden, während Dianne über die Leiter hinunterkletterte, so schnell sie konnte.
„Los, Honey, unter den Wagen!“ Der Ranger drängte sie kriechend unter das Fahrzeug. „Beeil dich!“ Ohne weitere Verzögerung folgte er nach. Zwei weitere Speere verfehlten sie nur knapp. Ein Bumerang prallte geräuschvoll von ihrer Windschutzscheibe ab. Hier schien sich etwas zu wiederholen, was sie schon einmal erlebt hatten. In Mataranka.
Endlich in sicherer Deckung neben Paddy liegend, machte Dianne ihrem Ärger Luft.
„Kannst du mir sagen, was das soll? Wir liegen friedlich im Bett und werden diesmal von Schwarzen mit Speeren und Bumerangs bombardiert?“
Ohne auf ihre Frage einzugehen, wies er sie mit Handzeichen an, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Jim kam aus der Dunkelheit angekrochen. Die Tiere als Deckung nehmend, war auch er unter ihrem Wagen gelandet.
„Was ist los? Wo kommen die so plötzlich her? Das sieht aus wie ein Überfall, den deine Brüder da wohl speziell für uns inszeniert haben!“
Der Aborigine machte sich ganz offensichtlich Sorgen über das, was sich um sie herum abspielte. „Das sieht nicht nur so aus. Das ist ein Überfall. Sind die anderen in Sicherheit?“ „Ich hoffe schon. Ich war draußen in der Schlucht und habe mir eine Weile die Füße vertreten. Als ich vor ein paar Minuten zurückkam, flogen mir plötzlich die Speere um die Ohren. Gesehen habe ich keinen von uns.“ Paddy nickte und überlegte nur einen Augenblick. „Okay, ich kümmere mich um Richie, Annette und Hans. Weck du Bill und Frank!“ Jim zog sich bereits zurück, um die beiden Gefährten in Sicherheit zu bringen. „Aber, bleib immer in Deckung, Jimmy!“ „Worauf du dich verlassen kannst, Kumpel.“ Damit war er auch schon zwischen den Tieren verschwunden. Geschickt nutzte er ihre Körper aus, um unbeschadet an das Fahrzeug zu gelangen, in dem Bill und Frank schliefen. Bestimmt waren auch sie wach und warteten nur auf eine gute Gelegenheit, um ihr Zelt zu verlassen, falls sie das nicht schon getan hatten. Sie waren dort oben keine Sekunde sicher. Paddy kroch vorwärts, hinaus aus seiner Deckung und richtete sich auf, um sich einen besseren Überblick über ihre Lage zu verschaffen. Um sie herum herrschte das Chaos. Kramer und seine Leute schossen wild um sich. Heulend rannten einige Aborigines weg oder sie fielen zu Boden, nachdem sie von einer Gewehrkugel getroffen worden waren. Wieder landete ein Speer neben dem Ranger. Er streifte knapp sein Hosenbein und blieb abrupt in der Erde stecken. Je länger der Kampf um ihn herum andauerte, desto wilder und aufgeregter zerrten die Tiere an ihren Fußfesseln. Einige schafften es, sich endlich loszureißen und rannten in ihrer Panik davon.
Jim hatte den Wagen erreicht, in dem das Kamerateam auf dem Dach schlief. Frank schaute völlig irritiert aus dem einen Spalt breit geöffneten Zelt. Im Stoff steckte ein Speer.
„Was ist los, Jimmy? Ich habe nur kurz telefoniert. Plötzlich brach die Verbindung ab. Und das Geheule war da.“
Jim winkte dem Jungen.
„Los, komm schnell runter und kriech unter das Auto. Da bist du am sichersten.“
„Was ist mit Bill? Er ist noch im Zelt.“ Frank öffnete den Reißverschluss vollständig, um hinausschlüpfen zu können.
Jim mahnte durch Zeichen zur Eile.
„Er soll auch sofort herauskommen!“
Franks Kopf verschwand wieder im Zelt, aus dem ein leises Stöhnen zu hören war.
„He, Bill, wach endlich auf! Ein Überfall... Bill, wir müssen hier raus und unter den Wagen!“
Jim wurde nervös. Je länger sie brauchten, um sich in Sicherheit zu bringen, desto größer war die Gefahr, dass es doch noch einen von ihnen erwischte.
„Verdammt, ihr zwei. Beeilt euch doch!“
„Bill hat was abgekriegt.“ Franks Kopf erschien wieder in der Zeltöffnung.
„Dann hilf ihm heraus!“
Es ging nicht. Der Speer hatte sich in Bills Schulter gebohrt. Das hintere Ende ragte aus dem Zeltdach heraus.
Jim erfasste blitzschnell die neue Situation und trieb den Jungen an.
„Brich ihn einfach ab!“
Mit einiger Mühe gelang es Frank, den Schaft ein Stück oberhalb der Spitze abzubrechen.
Bill schrie vor Schmerzen auf.
„Au, verdammtes wildes Pack...!“ Er war jetzt frei und konnte mit Franks Hilfe und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Zelt und vom Wagen herunterklettern, obwohl die Spitze noch in Bills Schulter steckte. Als die beiden schon eine Minute später unter den Wagen krochen, fühlten sie sich dort zumindest vorerst in Sicherheit.
Richie hatte Schutz unter dem Fahrzeug gesucht und verfolgte das merkwürdige Geschehen um sich herum, als er den Aborigine sah. Er gab ihm Zeichen.
„Ich bin hier unten. Los, komm her!“
Paddy warf sich auf den Boden, rollte sich bis zum Wagen und kroch in die Deckung.
„Wo sind Annette und Hans?“
„Keine Ahnung.“
„Okay. Bleib hier liegen! Hinter dem Rad bist du einigermaßen sicher.“ Richie nickte und schob sich ein Stück weiter nach hinten, bis er besser von der Achse verdeckt wurde. „Und was ist mit Annette und Hans?“ Der Ranger beobachtete konzentriert die Lage. Sie schien sich weiter zuzuspitzen. „Die müssen sich jetzt selbst helfen. Ich muss zurück.“ Er verließ seine Deckung und lief gebückt im Schatten einiger Büsche zurück zu Dianne. Blitzschnell kroch er unter das Auto, unter dem sie sich nicht gerührt hatte. Große Anspannung lag auf ihren Gesichtszügen. „Was geht hier eigentlich vor?“ Als sie ihren Liebsten wieder neben sich spürte, bemerkte der ihre Erleichterung. „Ein klassischer Überfall, Honey.“ Er deutete in eine Richtung, in der hinter angebundenen und wild ausschlagenden Ochsen angreifende Männer zu erkennen waren. „Sie haben das Expeditionslager überfallen.“ In ihrem Versteck wurden Dianne und Paddy Zeugen eines erbitterten Kampfes zwischen dem Eindringling ins Tal der Träume und einem Aborigine, der ihr Anführer zu sein schien. Dieser Schwarze schleuderte seinen weißen Feind wütend zu Boden und schrie ihn dabei an. „Du hast unsere Träume gestohlen, Mann.“ Der wehrte sich in Rückenlage, so gut es ging, gegen diesen Wütenden, der sich inzwischen auf ihn gestürzt hatte, um ihn an der Gurgel zu packen. „Und du wirst dafür sterben!“ Während der Beschuldigte mit aller Kraft versuchte, sich von seinem Angreifer zu befreien, trat ein am ganzen Körper bemalter, weißhaariger Aborigine neben ihn. Er hielt die Spitze seines Speeres auf die Brust des Weißen gerichtet und sagte etwas. Der andere Schwarze ließ von ihm ab. Erst jetzt sah auch der am Boden Liegende den erhobenen Speer, der, zum Angriff bereit, direkt auf sein Herz zielte. „Der Hüter unserer Träume...“ „Wie bitte?“ Dianne sah in Paddys versteinertes Gesicht. „Ich habe euch nichts gestohlen.“ Ohne den Blick von der Speerspitze abzuwenden, griff der Weiße suchend in seine Rocktasche und zog einen kleinen Stoffbeutel heraus. „Das hier drin sind nur geologische Mineralproben.“ Während der Alte versuchte, ihm das Säckchen abzunehmen, sah sich der Bedrängte suchend um und entdeckte sein Gewehr. Er griff blitzschnell zu und bedrohte plötzlich den Aborigine mit der geladenen Waffe. „Scher dich mit deinen Wilden zum Teufel!“ Paddy wollte aus seiner Deckung herausspringen, um diesem Wahnsinnigen das Gewehr zu entreißen, bevor er abdrücken konnte. Der Alte war zurückgewichen und holte aus, um den Speer in die Brust des Weißen zu rammen. Im letzten Augenblick gelang es diesem jedoch, dem Stoß auszuweichen. Dann zerriss ein gewaltiger Schuss die Luft, und der alte Aborigine sank langsam in sich zusammen. Seine Leute rannten laut schreiend davon, als sie sahen, was mit dem Ältesten ihres Clans geschehen war. Leblos blieb er liegen, während Kramer sich erhob und den Staub von seinen Kleidern klopfte. Nun gab es für Paddy kein Halten mehr. Mit wenigen Sprüngen war er bei dem weißen Mann, der ihn feindselig anschaute und erneut sein Gewehr spannte. Diesmal war der junge Aborigine, der so plötzlich vor ihm stand, schneller. Er entriss ihm die Waffe und schrie ihn voller Zorn an. „Du hast uns unsere Träume gestohlen und den Hüter unserer Träume getötet. Dafür wirst du sterben, Mann!“ Der Blick des Weißen schien den Aborigine durchbohren zu wollen. „Dich kenne ich doch... Scher dich mit deinen Leuten zum Teufel, du Narr!“ „Wenn du mich vor wenigen Stunden auch noch in den Staub getreten hast, dann sage ich dir jetzt: Du wirst für diese Tat sterben!“ Dianne beobachtete gebannt, wie Paddy einen herumliegenden Speer ergriff und ihn auf den Oberkörper des Mannes richtete. „Jetzt bin ich der Hüter unserer Träume. Und ich sage dir: Deine Reise endet hier!“ Dianne war entsetzt, als der Aborigine tatsächlich ausholte. „Liebster, nein, nicht! Er muss weiterleben! Es wurde schon genug Blut vergossen.“ Paddy zögerte, als er ihre Stimme hörte. Wie hypnotisiert stand er da und rührte sich nicht vom Fleck. Dianne schlüpfte aus ihrer Deckung hervor. „Du kennst doch unseren Auftrag, seinen Spuren zu folgen. Nur so werden wir wissen, wie weit er damals gekommen ist.“ Mit ausdruckslosem Gesicht ließ der Aborigine schließlich den Speer sinken. Kramer nutzte diesen Moment der Irritation, um den angerichteten Schaden zu begutachten und seine eigene Lage einzuschätzen. Paddy stand noch immer bewegungslos da. Jim war aus seinem Versteck hervorgekommen, packte seinen Kameraden und schüttelte ihn. Er reagierte nicht. „He, was ist los mit dir, Paddy Crocodile? Komm wieder zu dir, Kumpel!“ Nichts änderte sich an der Miene des Aborigine, auch nicht, als Dianne ihn liebevoll umarmte. „Komm, Liebster. Zuerst müssen wir das Vermächtnis dieses Mannes finden.“ Sie versuchte es noch einmal, indem auch sie ihn kräftig schüttelte und ihn in seiner Sprache anredete. Sie hoffte, ihn auf diese Weise zu erreichen. „Paddy Crocodile, Liebster...“ Er schaute sie jetzt mit leerem, durchdringendem Blick an, sagte jedoch keinen Ton. „Komm, wir müssen weiter! Jonathan wartet... Unser Auftrag wartet.“ „Ich werde ihm folgen, Honey. Der alte Hüter unserer Träume ist tot. Ich habe bereits seinen Platz eingenommen.“ Der Yalmangully antwortete ihr in seiner Muttersprache. „Ab jetzt werde ich die verlorenen Träume meines Volkes hüten.“ Richie und Frank hatten ihren Unterschlupf ebenfalls verlassen und standen neben Jim. Die Männer drängten Dianne zu einer Übersetzung. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, Paddy will jetzt die Träume der Aborigines bewachen.“ „Wie will er das denn machen?“ „Ganz einfach, Frank: Er ist jetzt der neue Hüter ihrer Träume.“ Jim konnte es kaum fassen, was gerade mit seinem Gefährten geschah. Aber er hatte das Gefühl, dass er mit seiner Vermutung richtiglag. „Ja, das ist er wohl.“ Diannes Worte klangen hohl. Sie wendete sich wieder ihrem Liebsten zu und sah, dass er dahin starrte, wo Kramer zuletzt gestanden hatte. Paddy ging jetzt ein paar Schritte in diese Richtung. Kramer und sein Lager mit den Tieren waren im Nirgendwo verschwunden. Die Aborigines mit ihren Verwundeten und Toten ebenso. Niemand hatte bemerkt, wie die gesamte Expedition zusammen mit ihren Tieren langsam verblasst war. Bis auf die drei Fahrzeuge war von ihrem Camp jedoch noch nichts zu erkennen. Sie standen irgendwo mittendrin in der Natur, zwischen Sträuchern, Büschen und Felsen. „Paddy, komm wieder zu dir!“ Ein Gefühl der Verzweiflung breitete sich in Dianne aus, als sie die neue Lage erkannte. „Geh nicht weg! Wir suchen ihn gemeinsam, ja? Ich brauche dich doch so sehr.“ Die letzten Worte wiederholte sie in seiner Sprache, der Sprache dieses Yalmangully aus den Kimberleys. Der Aborigine drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er ihr antwortete. „Ich konnte ihn nicht davon abhalten, das Tal zu entweihen und unsere Träume zu stehlen. Und es ist mir nicht gelungen, den Hüter unserer Träume zu beschützen. Ich bin jetzt der neue Hüter der Träume meines Volkes. Und ich werde ihm folgen.“ Er sagte das alles in seiner Muttersprache. „Leb wohl, Honey. Es war sehr schön, dir begegnen zu dürfen.“ Dianne lief hinter ihm her, aber er entfernte sich immer weiter von ihr. Verzweifelt warf sie sich ihm an den Hals. „Nein, Liebster, du darfst nicht einfach so gehen! Ich habe dich doch auch gerade erst gefunden.“ Obwohl sie auch diese Sätze in seiner Sprache gesagt hatte, löste er sich sanft und sehr entschlossen aus ihrer Umklammerung. Dann sah er sie eindringlich an. „Geh du deinen Weg, denn ich muss meinen Weg gehen. Lebe wohl, Honey, ich liebe dich.“ „Paddy, nein... Bitte, bleib hier!“ Sie musste hilflos zusehen, als ihr Liebster wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen Kramers Richtung folgte, bis auch seine Gestalt zwischen den Büschen immer mehr verblasste und schließlich ganz von der nächtlichen Umgebung absorbiert war. Dianne brach in Tränen aus. Ihre Verzweiflung schien grenzenlos. „Komm. Jetzt beruhige dich doch!“ Jim nahm sie tröstend in seine Arme. „Aber er kann doch nicht einfach so weggehen.“ Sie schluchzte an seiner Schulter. „Für ihn gelten andere Gesetze. Er ist und war immer ein Aborigine, vergiss das bitte nicht.“ Aber Dianne war in ihrem Schmerz einfach nicht bereit, dies zu akzeptieren. Ihre Tränen suchten sich ihren eigenen Weg.
Frank war sofort zu Bill gerannt, als er den Schrei hörte. Erschrocken beugte er sich über seinen Boss. Mit verzerrtem Gesicht lag Bill noch immer halb unter dem Fahrzeug. Er hatte aus dieser Perspektive alles beobachten können und schließlich versucht, mit einem plötzlichen Ruck seiner rechten Hand, die Spitze des Speeres aus der linken Schulter zu ziehen. Ein stechender Schmerz begleitete dieses erfolgreiche Befreiungsmanöver. Sein Oberkörper bäumte sich auf. Er stieß einen lauten Schrei aus und knallte mit dem Kopf gegen das Wagenblech, bevor er ohnmächtig wurde.
Sein Oberkörper lag außerhalb des Wagens, sein Hemd war von frischem Blut durchtränkt.
„Er braucht dringend einen Arzt. Die Wunde blutet ziemlich stark.“
Jim schätzte die Ernsthaftigkeit der Verletzung ab. Er musste die Wunde auf jeden Fall sofort verbinden.
„Ich kümmere mich um ihn. Hol schon mal die Erste-Hilfe-Box.“
Frank erhob sich wortlos. Dianne hatte sich kaum beruhigt. Das Entsetzen über ihren unerwarteten Verlust war unleugbar in ihrem Gesicht abzulesen.
Richies Enthusiasmus blitzte trotz der dramatischen Absurdität, in der sich ihre Such-Expedition plötzlich befand, wieder auf. Vielleicht gerade deshalb.
„Wir wissen jetzt, dass Kramer diese Steine hat. Und wenn wir ihm auch folgen, dann schlagen wir gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Wir finden Paddy, Kramer und diese Diamanten. Was haltet ihr davon?“
Während Jim nur den Kopf schüttelte, schien sich Diannes Miene bei seinem Vorschlag etwas zu erhellen.
„Bleib auf dem Teppich, Richie! Wie viele Jahrzehnte willst du denn unterwegs sein? Nicht nur auf mich wartet in ein paar Wochen der nächste Job. Also, vergiss diese Idee einfach!“
Frank kam mit dem Verbandskasten zurück. Jim sah sich um. Inzwischen erinnerte äußerlich fast nichts mehr an den Überfall auf Kramers Lager. Alle Spuren eines Kampfes waren verschwunden. Nur der platte Reifen an einem der Fahrzeuge, Bills tiefe, blutende Wunde und die Lücke, die Paddy mit seinem Verschwinden vor allem bei Dianne hinterlassen hatte, blieben real.
„Okay, Leute, wie es aussieht, ist der Spuk endgültig vorbei.“ Er suchte in der Box nach einer sterilen Kompresse und dem passenden Verband.
Vergnügt kamen Hans und Annette aus der Schlucht zurück. Sie schlenderten den kurzen Weg bis zum Camp entlang und merkten sofort, dass etwas nicht stimmte. Dianne stand mit stark verquollenen Augen da und starrte unablässig in eine Richtung. Jim hockte am Boden und verarztete die Schulter von Bill. Der war aus seiner Ohnmacht erwacht und stöhnte laut vor Schmerzen. Noch immer umklammerte er die abgebrochene, blutige Speerspitze mit seiner Hand. Frank half, Bills Hemd aufzuschneiden. Jim betrachtete kritisch die klaffende Wunde.
„Ich glaube, da hast du noch mal Glück gehabt, Bill. Ich werde dich jetzt erst einmal verbinden, und gleich morgen früh bringen wir dich zum Doc.“
Hans und Annette sahen sich sehr irritiert im Camp um.
„Was ist denn bloß los? Es sieht ganz so aus, als hätten wir schon wieder etwas verpasst.“ Eine Antwort bekam Hans nicht.
Dianne starrte weiter in die Nachtschwärze und sprach leise vor sich hin.
„Leb wohl und pass gut auf dich auf, Liebster.“ Dann wiederholte sie diesen Satz und fügte noch einen weiteren in Paddys Sprache hinzu. „Wo auch immer du steckst: Ich liebe dich. Und ich werde dich sehr, sehr vermissen.“