Читать книгу Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit - Claudia Karsunke - Страница 12

7. Tag

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14° 55’ 19’’ S / 133° 07’ 58’’ O Mataranka, NT Das Konzert der vielfältigen Tierstimmen ließ darauf schließen, dass der Campingplatz von üppiger tropischer Vegetation umringt war. Es war später Nachmittag und noch immer unangenehm heiß. In der feuchten Luft, die den Eindruck entstehen ließ, dass es noch heißer als gewöhnlich war, dröhnten die Zikaden beinahe unerträglich laut und schrill in den Ohren, so dass man seine eigene Stimme anheben musste, um diesen Lärmpegel zu übertreffen. In der Mitte der großen Rasenfläche, auf der sich Zelte, Reisemobile und Allradfahrzeuge in möglichst diskretem Abstand voneinander verteilt hatten, stand ein offenes Gebäude. Es beherbergte die sanitären Anlagen des Platzes. Mit einem dicken Bündel von ordentlich übereinandergelegten Wäschestücken auf dem Arm trat Annette aus der Laundry heraus. Auf ihrem Weg zur Wäscheleine stieß sie beinahe mit Richie zusammen, der gerade den Eingang ansteuerte. „Gut, dass du gerade kommst. Hilf mir doch bitte mal mit den Sachen. Mit einer Hand kann ich sie sonst so schlecht aufhängen.“ „Ich wollte eigentlich zur Toilette.“ Richie deutete lächelnd auf sein Ziel. Mit ihren Augen versuchte die Deutsche seinen Blick einzufangen und ihn von der Vordringlichkeit ihres Anliegens zu überzeugen. „Das kannst du doch auch noch danach machen, oder?“ Richie verzögerte seine Schritte. Dann resignierte er und drehte um. „Also gut.“ Annette packte den Wäschestapel auf seinen Arm und marschierte vorweg. „Hier drüben. Diese Leine nehmen wir.“ Die Sachen, die schon zum Trocknen dort hingen, sahen alle irgendwie gleich aus. Es war die offizielle Kleidung, die ihnen der Sponsor zur Verfügung gestellt hatte. Auf jeden entfielen drei Polo-Shirts, bzw. Blusen in verschiedenen Farben, zwei Sweatshirts und zwei lange Hosen, deren Beine sich durch Reißverschlüsse jederzeit zu Bermudas oder zu Shorts verkürzen ließen. Trotz der Farbvielfalt, die den gesamten Regenbogen repräsentierte, waren die meisten Hemden uni rot, grün und blau. Richie schaute Annette fragend an. Die Teile ließen den Betrachter eher auf die Mitglieder einer Hockeymannschaft schließen. „Kannst du mir sagen, wie du die später alle noch auseinanderhalten willst?“ Annette nahm ein Stück nach dem anderen von dem Stapel und klammerte es auf die Leine. Nun kam die Unterwäsche an die Reihe. „Daran, Richie, ist doch logisch oder?“ Während sie auf die Wäsche auf Richies Arm deutete, schüttelte er nur verständnislos den Kopf. „Deiner Logik soll ein normaler Mensch folgen können.“ „Aber wieso denn? Schau her! Ich erklär’s dir!“ Annette hielt die Boxershorts hoch, die obenauf lagen. „Jimmy zum Beispiel trägt die unter seinen Sachen. Hans bevorzugt diese Art Slips.“ Annette griff nach seinem modischen schwarzen Slip und hängte ihn auf die Leine. „Paddy findet offensichtlich so was originell.“ Diesmal zog sie einen dunkelgrünen Slip mit einem eingewebten Krokodil hervor, um ihn festzuclipsen. „Und Frank steht auf diese bunte Hawaiiausgabe.“ Es blieben zwei Modelle übrig, ein paar einfarbig mittelblaue Boxershorts und ein schwarzer Slip mit Eingriff „Darüber bin ich mir noch nicht so ganz sicher.“ Sie befestigte den Slip an der Leine. „Könnte das deiner sein?“ Sie wiegte den Kopf ein wenig hin und her und wartete aus den Augenwinkeln heraus auf Richies Reaktion. Er war zwar der älteste von ihnen, aber diese Einschätzung seiner Person rief seinen ganzen Protest hervor. „Danke für die Blumen. Ich dachte nicht, dass du mich so siehst.“ Annette spielte die Irritierte und beschwichtigte ihn sofort. „Dann gehört er vermutlich doch Bill.“ Verärgert drückte Richie Annette die restlichen Wäschestücke in die Hand und wendete sich abrupt zum Gehen. „Entschuldige mich, aber ich muss jetzt wirklich...“ Langsam bekam er einen Eindruck von dem, was Hans gemeint hatte, wenn der sich über Annettes Art ausließ. Er würde sich künftig bedeckt halten, wenn sie wieder versuchen sollte, ihn aus der Reserve zu locken. „Oh, entschuldige Richie. Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.“ Sie schaute ihm triumphierend hinterher, bis er in der Herrentoilette verschwand. Sie schüttelte den Kopf, als sie den vorerst letzten Slip an der Leine befestigte. Aber sie musste zugeben, dass er zu Bill irgendwie am besten passte. Dann kehrte sie, zufrieden mit sich selbst, zurück in die Waschküche, wo eine weitere Maschine auch bald fertig sein musste. Erst danach würde auch sie sich ein ausgiebiges Bad in diesem Thermal-Swimmingpool zwischen den Palmen gönnen, für den dieser Ort bekannt war. Dieses Erlebnis, von dem alle schwärmten, die je hier gewesen waren, wollte sich Annette auf gar keinen Fall entgehen lassen.

Der Ranger sprach den Satz bewusst sehr langsam und ganz deutlich aus. Schließlich sollte Dianne ihn nachsprechen.

„Mein Name ist Paddy Crocodile. Ich bin vom Stamm der Yalmangully in den Kimberleys.“

Sie wiederholte seine Worte, aber irgendwie hörte es sich so komisch an, dass beide in ein lautes Gelächter ausbrachen. Dianne hatte erhebliche Mühe, den Satz korrekt und verständlich für jemanden vom Yalmangully-Clan wiederzugeben.

„So ähnlich, Honey. Versuch’s einfach noch einmal! Mein Name ist Paddy Crocodile und ich bin vom Stamm der Yalmangully in den Kimberleys.“

Wieder hatte der Aborigine sehr akzentuiert gesprochen. Diesmal klang die Wiederholung dem Original schon sehr viel ähnlicher. Beim dritten Mal hatte Dianne es endlich geschafft. Sie hatte ihren Liebsten darum gebeten, ihr einfach ein wenig von seiner Sprache beizubringen.

„Sehr gut, Honey. Das wird immer besser. Vielleicht brauche ich mal eine Dolmetscherin, und dann weiß ich ja jetzt, wo ich die finde.“ Er stand zufrieden von der Holzbarriere auf, die den Campingplatz von der Umgebung trennte und zog seine gelehrige Schülerin hoch. Der Chor der dröhnenden Zikaden war inzwischen weitestgehend verstummt, ein sicheres Zeichen, dass es ein wenig kühler geworden war und die Sonne bald untergehen würde.

„Komm, es wird Zeit! Ich zeig dir jetzt meinen Lieblingsplatz.“

Paddy ging auf dem schmalen Weg vorwan und Dianne folgte ihm in kurzem Abstand, nachdem sie den angrenzenden Busch betreten hatten. Niedrige Palmen mit ausladenden Fächern, die bei jedem Anklopfen wie vollreife Wassermelonen klangen, wechselten mit hohen und schlanken Palmen ab, die in einen intensiv blauen und wolkenlosen Himmel ragten. Hin und wieder schreckten die beiden ein Wallaby auf, das im lichten Unterholz davonhüpfte. Oder sie vertrieben mit ihrem Lachen einen Bush Turkey, der im Boden scharrte. Das Krächzen der Sittiche und Kakadus in den Kronen schallte weithin hörbar.

Der Pfad führte das ungleiche Paar einige hundert Schritte durch diesen dichten Hain aus Palmen. Sie passierten eine natürliche Quelle, die kristallklar aus der Erde sprudelte und deren blassblaues Wasser als schmaler Bachlauf zum nahegelegenen Fluss hin ablief. Auf ihrem Weg dorthin speiste die Quelle einen natürlichen Swimmingpool inmitten einer von der Natur geschaffenen Halle aus Fächerpalmen. Das, was Dianne hier sah und mit all ihren Sinnen erlebte, machte diesen Park zu einem wahren, unverwechselbaren Paradies.

„Na, habe ich dir zu viel versprochen, Honey? Was hältst du von einem erfrischenden Bad? Solange wir den Pool noch für uns alleine haben... “ Paddy stand bereits in seinen Badeshorts am gemauerten Rand des Beckens. Geduldig wartete er darauf, dass Dianne sich satt gesehen hatte an dieser gewaltigen Kulisse, in der sie sich fasziniert umschaute.

„Bisher habe ich immer gedacht, so etwas gibt’s nur im Film.“

„Komm! Das Wasser ist sehr angenehm und kühl. Das Prickeln solltest du auf keinen Fall versäumen!“ Der Aborigine war schon ein paar Stufen in den Pool hineingestiegen. Endlich gelang es Dianne, sich von der einmaligen Umgebung loszureißen. Sie zog elegant ihre Sachen aus. Der perfekt sitzende einteilige Badeanzug, der zum Vorschein kam, unterstrich noch, was sie trotz ihrer sportlichen Figur sowieso schon war: eine wirkliche Lady. Auch sie stieg die Stufen hinab und tauchte vollkommen unter. Das Wasser war so tief, dass sie nicht stehen konnte. Dafür war es glasklar. Sie ließ sich untergehen.

Paddy sah, dass sie unter Wasser schwamm. Er sprang ihr lachend hinterher. Erst am anderen Ende des Pools tauchten beide wieder auf.

„Puh, das war großartig. Aber die Strömung ist stärker, als ich dachte.“ Dianne war ein bisschen außer Puste. Aber sie war gut trainiert, und daher betrachtete sie dieses Bad als eine willkommene Bereicherung ihres sonstigen Fitnessprogramms.

Sie schwammen und tauchten noch eine ganze Weile und fühlten sich belebt durch dieses Wasser, das sehr angenehm auf der Haut prickelte und trotzdem an Weichheit nicht zu überbieten war.

Dann änderte sich die Stimmung. Schon von weitem hörten Dianne und Paddy Stimmen herübersschallen. Damit wurde es unruhig am Pool. Mit dem Frieden, den sie bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten, würde es bald vorbei sein.

„Komm, ich zeig dir noch mehr. Das hast du bestimmt noch nicht in natura gesehen. Wollen wir wetten?“ Der Aborigine stieg aus dem Pool. Dianne folgte ihm gerne, weil der Lärm wesentlich schneller näher kam, als ihr lieb war. Außerdem hatte Paddy ihren Sportsgeist wieder entflammt.

„Um was wetten wir denn diesmal?“

„Um dich, Honey?“ Er sah sie ein kleines bisschen herausfordernd an.

Sie überlegte nur einen kurzen Moment.

„Einverstanden. Und wenn du verlierst, Liebster?“ „Dann natürlich um mich...“ Dianne brach in ein schallendes Gelächter aus. „Was gibt’s da zu lachen?“ Paddy wurde angesteckt von ihrer guten Laune. „Diesmal hätte ich eigentlich nichts dagegen zu verlieren.“ Ihr Lachen verwandelte sich plötzlich in ein betörendes Lächeln. Verliebt schaute der Ranger ihr in die Augen und senkte seine Stimme, die weich und zärtlich klang. „Ich auch nicht, Honey.“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn ganz nah an sich heran. Nur schwer konnte sich Paddy aus ihrer Umklammerung befreien. Nach einem nur gehauchten Kuss lösten sie sich voneinander. „Wir sollten uns beeilen, bevor es hier ungemütlich wird!“ Sie schlüpften beide in ihre Sachen. Dann führte er sie auf einem ausgetretenen Fußweg weiter in den Busch hinein. „Hey, wohin entführst du mich?“ „Keine Angst, wir sind gleich da!“ Die Geräuschkulisse veränderte sich jetzt mit jedem Schritt mehr. Die tierischen Laute kamen eindeutig aus den Kronen der Palmen und Bäume, die vor ihnen wuchsen. Dianne hatte Mühe, den Lärm zu übertönen. „Was ist das denn für ein Höllenspektakel?“ „Wirst du gleich sehen.“ Paddy zog sie noch etwa fünfzig Meter weiter und blieb schließlich direkt am Fluss stehen. Das Gekreische kam vom gegenüberliegenden Ufer. In den Bäumen hingen viele tausend fliegende Füchse wie überdimensionale Fledermäuse mit ihren Köpfen nach unten an den Ästen. Mit den Füßen klammerten sie sich fest. Ihre weiten Flugarme hatten sie wie enge Mäntel um ihre Körper geschlungen. Dianne sah dem Gewusel und Geflatter mit Interesse zu. Ständig waren diese Tiere in Bewegung. Sie verließen ihren Platz und flatterten umher, um ihre Körper an einem anderen Ast wieder aufzuhängen. Paddy hatte den Arm um Diannes Taille gelegt, und sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, als sie es fühlte. „Ein faszinierendes Schauspiel.“ Sie hatte zwar schon oft fliegende Füchse an der Küste in New South Wales gesehen. In ihrer Kindheit gab es sie noch wesentlich zahlreicher als jetzt. Aber diese Unmasse von Tieren sah sie tatsächlich zum ersten Mal. „Wenn du willst, kannst du das jeden Abend haben, Honey. Ich bin hier so gut wie zu Hause.“ Er wiederholte die beiden letzten Sätze in der Sprache seines Volkes. Die Frau an seiner Seite reagierte diesmal nicht. Der bellende Lärm und dieses faszinierende Naturschauspiel lenkten sie zu sehr von seinen Worten ab. „Das sind unsere fliegenden Füchse.“ Der Aborigine wiederholte auch diesen Satz ein zweites und drittes Mal in seiner eigenen Sprache. „Eigentlich sind es Flughunde. Wenn du genau hinhörst, dann hörst du ihr Bellen.“ Erst jetzt registrierte Dianne, was Paddy gesagt hatte. Sie sah ihn lächelnd an und versuchte die Worte zu wiederholen, soweit sie sie akustisch verstanden hatte. Mitten im Satz verstummte sie, weil Gewehrschüsse die Luft zerrissen. Alarmiert flogen nun alle Tiere beinahe gleichzeitig auf und flatterten aufgeregt durch die Luft. Die Schüsse nahmen kein Ende. Die beiden Zaungäste gingen automatisch in Deckung und schauten sich irritiert um, da die Kugeln offensichtlich ganz in ihrer Nähe abgefeuert wurden. „Was soll das denn? Dass hier Krieg herrscht, hast du mir bisher verschwiegen, Ranger.“ Dianne sah ihn verärgert an. Paddy war genauso überrascht von dem, was vor sich ging, und zuckte seine Schultern. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. In diesem Park ist Jagen strengstens verboten. Und das ganze Gebiet gehört zum Nature Park.“ „Das scheint sich aber noch nicht überall herumgesprochen zu haben.“ Dianne wollte ihren Unmut nicht verbergen und war entschlossen, diesen Frevel zu beenden. Als Paddy sah, was sie vorhatte, gab er ihr ein Zeichen. „Bleib in Deckung, ich sehe mir das mal aus der Nähe an!“ „Okay, aber sei vorsichtig, Liebster! Die Wettschulden sind noch nicht bezahlt, und ich bestehe diesmal auf einer korrekten Einlösung.“ Obwohl ihre Bemerkung eher wie ein Scherz klang, war Dianne in Wirklichkeit sehr beunruhigt über die gefährliche Lage, in die sie geraten waren. Paddy lächelte und verschwand im Unterholz in die Richtung, in der immer neue Schüsse fielen. Dianne schaute ihm hinterher, bis sie ihn aus dem Blick verlor. Sie war beeindruckt von der Geschmeidigkeit, mit der er sich in seiner gebückten Haltung bewegte. Plötzlich steigerte sich das undurchsichtige Geschehen. Aufgeregtes Hundebellen und Winseln vermischte sich mit dem Kreischen der Opfer in der Luft. Noch konnte Paddy nichts erkennen, also richtete er sich weiter auf und schlich ein paar Schritte vorwärts. Eine Kugel schlug einen Meter neben ihm in einem Baumstamm ein und hätte ihn beinahe getroffen. Reflexartig suchte der Aborigine erneut Deckung zwischen den Büschen. Verdammt, was ging hier vor? „Die sind ja wohl verrückt geworden!“ Dianne war ihm unbemerkt nachgeschlichen und jetzt erst richtig wütend. Trotzdem zog sie es vor, zu flüstern. Erstaunt drehte sich der Ranger um. „Was machst du hier?“ „Auf dich aufpassen, Schatz!“ Paddy lächelte sie an. Eine Frau wie sie war ihm noch nie begegnet. Sie war so anders, so unverfroren. So schön. Aus ihrer Deckung heraus versuchten sie nun gemeinsam, die Situation zu erfassen. Die Kugeln flogen ihnen um die Ohren, sobald sie sich erhoben, um mehr erkennen zu können. Was sie erkannten, waren lediglich drei abgemagerte Hunde, die in einiger Entfernung am Ufer entlangtrabten und ein paar tote Tiere in ihren Schnauzen trugen. Jetzt stand Paddy in seiner ganzen Größe auf, um der Sache ein Ende zu bereiten. „Aufhören mit dem Geballer! Ich bin der Ranger. Ihr sollt sofort aufhören! Das hier ist ein Nature Park.“ Seine Stimme dröhnte laut durch das Dickicht. Zur Unterstreichung des Ernstes der Situation, griff er an seinen Gürtel, um einen Warnschuss in die Luft abzufeuern. Vergeblich, denn er war nicht im Dienst. Seine Waffe hatte er zurückgelassen. Als nichts geschah, und weiterhin geschossen wurde, schaute Dianne ihn fragend an. „So viel zu deiner Autorität, Paddy Crocodile! Die reagieren überhaupt nicht.“ „Es gibt genug Weiße, die sich über alles hinwegsetzen, Honey. Ich erlebe das in den Kimberleys ziemlich oft.“ Dianne war nachdenklich geworden. Zweifel schlichen sich langsam bei ihr ein, und es gelang ihr nicht, einen ganz bestimmten Gedanken länger zu unterdrücken. Schon wieder peitschte eine Kugel über sie hinweg. Schnell duckten sie sich ab. Ein getroffener Flying Fox fiel unweit entfernt ins Wasser. Wieder kam einer der Hunde bellend angelaufen und versuchte, das tote Tier vom Ufer aus zu packen. „Was denkst du? Wenn Richie nun doch keine Halluzinationen gehabt hätte?“ „Was hat das denn mit dieser planlosen Ballerei hier zu tun?“ Paddy schaute sie wütend an. Dann schien auch er langsam zu begreifen, worauf sie hinauswollte, und er beruhigte sich. „Du meinst doch nicht etwa, dass wir es hier mit demselben… Kramer?“ Dianne nickte zögernd. „Könnte doch immerhin sein, oder?“ Die Gewehrschüsse wurden weniger. Stattdessen tauchten jetzt vier oder fünf ausgemergelte und zerlumpte männliche Gestalten zwischen den Baumstämmen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses auf, die mit sehr abenteuerlich aussehenden, altmodischen Gewehren auf den Schultern suchend durch den Busch streiften und ihre jaulenden Hunde zurückpfiffen. Die zahlreich erlegten Tiere sammelten sie ein und trugen sie bündelweise weg. Paddy sah sich zunächst in seinem Argument bestätigt. „Ich sehe zwar diese Männer da, und sie sind eindeutig weiß.“ Der Anblick ihrer vorsintflutlichen Waffen machte ihn allerdings stutzig. „Weißt du eigentlich, wie dieser Kramer aussah?“ Dianne hatte sich offensichtlich an Richies Geschichte festgebissen. „Nein, nicht genau.“ „Eben..., ich auch nicht.“ Dianne nickte.“ Und was machen wir jetzt?“ Der Aborigine reckte seinen Kopf vorsichtig in die Höhe und lauschte. Alle Tiere hatten in ihrer Panik die Schlafbäume verlassen, und um sie herum war alles friedlich. Die Männer und ihre Hunde waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. So unerwartet, wie das Getöse begonnen hatte, so plötzlich war der Spuk vorbei. Dianne schaute Paddy fragend an. „Hast du dafür eine Erklärung, schwarzer Mann?“ „Nein, so etwas habe ich noch nie erlebt.“ Die Sonne war inzwischen so tief gesunken, dass sie bereits hinter den Baumkronen verschwand. Bald würde sie untergehen. Die beiden Verliebten schauten sich tief in die Augen. „Haben wir das vielleicht alles nur geträumt, schöne Frau?“ Sie zuckte ihre Schultern. „Über das Träumen weißt du als Aborigine wohl mehr als ich, die ich gerade erst bei der Sprache deines Volkes angekommen bin.“ Dianne hatte ihren Humor wiedergefunden, der ganz zweifellos britischer Natur war. Paddy hatte seinen Blick seit einigen Minuten nicht mehr von ihr gewendet. Nun streckte er seine Hand aus und strich ihr damit zärtlich über die gerötete Wange. „Du bist hoffentlich keine Halluzination?“ Seine Stimme klang sehr sanft. „Wenn ich ganz ehrlich sein soll, weiß ich inzwischen gar nichts mehr.“ Und Dianne war in diesem Augenblick sehr ehrlich zu sich selbst. „Egal, Honey. Ich liebe dich.“ Zärtlich wiederholte er auch diesen Satz in der eigenen Sprache. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Paddy Crocodile, aber ich liebe dich auch.“ Sie lächelte ihn an. Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, wiederholte sie diesen letzten Satz in der Sprache dieses Yalmangully. „Ich liebe dich...“ Der Ranger zog sie liebevoll an sich heran und umarmte sie. Dianne spürte seine Kraft und wehrte sich nicht dagegen. Sie hatte keinen Grund dazu. Sie hatte inzwischen sogar den Eindruck, dass ihr die Kontrolle mit jeder Sekunde, die sie zögerte, mehr entglitt. In Paddys starken Armen sank sie auf den weichen Waldboden. Noch einmal schafften es Diannes Lippen, sich von seinen Lippen zu lösen. Seufzend gestand sie sich und ihm ein: „Ach, hätte ich mich doch niemals auf Jonathans Angebot eingelassen.“ Doch diese Einsicht kam einfach zu spät. Sie hatte sich bereits in ihr Schicksal gefügt. Der allerletzte Funken eines Aufbegehrens gegen das, was mit ihr geschah, erlosch. Und es war ihr völlig gleichgültig, was die anderen über sie dachten.

Der nach drei Seiten offene Pub war bis auf wenige Plätze besetzt. Zehn Minuten zuvor war wieder ein Überlandbus angekommen, bereits der dritte für diesen Tag in Mataranka, einem der wenigen Zwischenstopps auf der langen Strecke zwischen Adelaide ganz im Süden des Kontinents und Darwin im hohen Norden und in entgegengesetzter Richtung. Hier hielt jeder Fernbus, der auf dieser Linie fuhr. Die zahlreichen Rucksackreisenden nutzten die willkommene Unterbrechung für einen Imbiss oder ein erfrischendes Bad im Thermalpool. Manche blieben für ein paar Tage hier und richteten sich auf dem Campingplatz häuslich ein, andere drängte es zur Weiterfahrt. Sie luden ihr Gepäck in den Bauch des Busses, der in spätestens einer Stunde zu seiner nächsten Etappe startete. Die frühen Abendstunden waren die Zeit des Tages, zu der sich an diesem Ort die meisten Menschen begegneten.

Hans, Jim und Bill saßen an einem der Tische vor ihren halbvollen Gläsern und beobachteten schon seit einer ganzen Weile dieses Schauspiel, das sich am Abendhimmel über ihren Köpfen abspielte.

„Das hört ja überhaupt nicht mehr auf.“ Richie kam staunend die wenigen Stufen zur Terrasse hinauf und steuerte den Tisch der Kameraden an.

Mit zunehmender Dämmerung hatte sich zu ihrem Erstaunen die Luft von Osten her gefüllt mit einer immer größer werdenden Wolke aus flatternden, schwarzen Bats, die alle in westliche Richtung über das Pub hinwegstrebten. Und dieses Gewirr nahm noch immer kein Ende. Hans hatte so etwas noch nie gesehen, obwohl er schon zweimal mit Richie in diesem riesigen Land unterwegs gewesen war.

„Das müssen zehntausende sein!“

Annette kam aufgeregt angelaufen.

„Seht doch mal! “ Auch sie war von diesem Spektakel überrascht worden. Unverzüglich wollte sie die Übrigen informieren.

Frank folgte ihr kurz darauf. Gelassen holte er sich eine Cola von der Bar und setzte sich an den Tisch. Er würde es später noch mal versuchen. Im Moment machte das Warten keinen Sinn. Die zwei Telefonzellen in der Nähe des Eingangs waren derart belagert von den zahlreichen Rucksacktouristen auf der Durchreise, dass er und Annette beschlossen hatten, ihre Anrufe so lange zu verschieben, bis der letzte Bus abgefahren war. Frank hatte bereits sein Handy an den Strom gehängt, um den Akku für die nächsten Tage aufzuladen, die sie sicher wieder mal irgendwo im Busch verbringen würden.

„Wo wollen diese riesigen Fledermäuse denn bloß alle hin?“ Fasziniert beobachtete Annette das grandiose Schauspiel über ihren Köpfen.

„Das, meine Liebe, sind Flying Foxes, Fliegende Hunde.“ Jim beantwortete ihre Frage gerne. „Tagsüber hängen sie in ihren Schlafbäumen. Nachts schwärmen sie aus und fallen in der Umgebung über die reifen Früchte her.“

Langsam lichtete sich diese aufgeregte Wolke. Schließlich kamen nur noch vereinzelte Nachzügler angeflattert, um sich ebenfalls in der Dunkelheit zu verlieren.

Richie schien nachzudenken. Fast automatisch schob er seine gestapelten Karten zu einem Fächer auseinander. Jim beobachtete ihn dabei. Viel hatten sie wirklich noch nicht erreicht.

„Hast du mit Jonathan gesprochen?“

„Ja, vorhin. Wir haben weiterhin seine volle Unterstützung. Wir sollen einfach dranbleiben. Er sagte, die Fernsehleute versuchen, ihn permanent unter Druck zu setzen, aber das beeindruckt ihn scheinbar wenig. Er hält uns den Rücken frei. Die beißen sich an Jonathan die Zähne aus, wie ich ihn kenne. Das gibt uns ein bisschen mehr Spielraum. Und den haben wir auch dringend nötig.“

Bill hatte sein Bier ausgetrunken und war wortlos aufgestanden. Jetzt kam er mit einem gefüllten Glas von der Bar zurück. Er stellte es vor seinem Platz ab, bevor er sich setzte.

„Vor dieser Sheila Young sollte er sich in Acht nehmen. Die kenne ich zur Genüge. Die kann ihm wirklich gefährlich werden.“

Hatte Jonathan diesen Namen bei ihrem Gespräch überhaupt erwähnt? Richie reagierte nicht weiter auf Bills Bemerkung. Frank jedoch wurde aufmerksam, als der Name fiel.

„Dass du an niemandem ein gutes Haar lässt, ist ja inzwischen bekannt. Aber was hast du gegen Sheila?“

Bill antwortete diesmal sehr bestimmt, denn er hatte sie kennengelernt, und deshalb wusste er, von wem er sprach.

„Diese Frau schreckt wirklich vor nichts zurück, mein Junge. Die geht über Leichen, wenn es nur ihrer eigenen Karriere dient.“

„Also Bill, jetzt übertreibst du wirklich.“ Frank hatte das Gefühl, dass sein Boss wieder mal zu stark polarisierte.

Bill musterte seinen Assistenten von der Seite her.

„Du bist ihr doch nicht etwa auf den Leim gegangen? Sie kommt nämlich auch aus Melbourne.“

„Wie kommst du darauf? Ich kenne sie kaum. Wir sind uns mal zufällig begegnet, und da hat sie auf mich einen eher netten Eindruck gemacht. “

„Da hast du wohl Glück gehabt.“ Für Bill war diese Sheila wirklich ein Fall für sich. Die hatte schon mehr als einen auf dem Gewissen. Deshalb wollte er sich auch nicht so schnell wieder beruhigen. Man würde ihm später also auch keinen Vorwurf machen können, wenn er Recht behalten sollte.

Richie hatte die Unterhaltung zwischen den beiden Kameraleuten nur am Rande mitbekommen. Seine Gedanken kreisten immer wieder um dieselbe Sache. Inzwischen hatte er zwei Karten aufgeschlagen und sinnierte leise vor sich hin.

„Wir können sowieso nur unseren Vermutungen nachgehen. Wir verlassen morgen das Gebiet, von dem wir sicher annehmen konnten, dass es tatsächlich alte Spuren von Kramer gibt. Und wir haben darüber hinaus nur wenig erfahren, das uns weiterhilft. Nun sind wir noch mehr als bisher auf unsere Intuition angewiesen.“ Richie faltete die Karten zusammen. Dabei wirkte er irgendwie deprimiert. Als er dann noch etwas hinzufügte, wurde seine Stimme wieder entschlossener. „Aber ich bin mir trotzdem ganz sicher, wir werden etwas finden.“

„Fragt sich nur, wo und wann, Richie?“ Annette stellte ihr Glas ab.

„Sei einfach still! Er versteht mehr als jeder andere von uns von der Materie.“ Hans reagierte säuerlich auf ihre Bemerkung.

„Ja, so viel, dass er schon Halluzinationen hat.“ Bill hatte sein nächstes Bier fast leergetrunken.

„Das ist überhaupt noch nicht bewiesen.“ Hans reichte es für heute. Diese ständigen Pöbeleien nervten ihn zunehmend. „Dass du deinen Job beherrschst, kannst du auch noch zeigen, wenn du das meinst. Vorausgesetzt, du bist dann noch fähig, scharf zu sehen und findest den richtigen Bedienknopf an deiner Kamera.“ Hans fühlte, wie eine Wut in ihm hochstieg, die er nicht länger unterdrücken wollte. Sie kam einem Gefühl der Ohnmacht gleich. Schließlich waren sie alle für denselben Auftraggeber unterwegs, um diese schwierige Aufgabe, das Rätsel um seinen Vorfahren, zu lösen. So, wie die Dinge sich momentan entwickelten und aus dem Ruder zu laufen drohten, hatte Jonathan sich offensichtlich in einem entscheidenden Punkt geirrt, als er dieses Such-Team zusammenstellte: In der Auswahl des Kameramanns!

Bill schnaufte wütend über diese Zurechtweisung, sagte jedoch nichts. Stattdessen trank er sein Glas leer und stand auf, um sich ein frisches Bier zu holen.

Lachend kamen Paddy und Dianne leichtfüßig die drei Stufen herauf. Annette musterte die beiden Gestalten von oben bis unten. Sie sahen ziemlich derangiert aus.

„Wo habt ihr beide euch denn herumgetrieben?“

Der Aborigine legte lächelnd seine Jacke auf die Lehne eines freien Stuhls.

„Entschuldigt Kollegen, wir hatten noch eine private Wette einzulösen. Hat ein wenig länger gedauert als geplant.“

„Das ist nicht zu übersehen. Worum ging es denn diesmal?“ Jim grinste ihn breit an.

Die beiden sahen einander an und begannen zu lachen.

„Du wirst es nicht glauben, aber das ist uns im Eifer des Gefechts völlig entfallen!“

Ihre Fröhlichkeit steckte die Übrigen am Tisch an. Paddy suchte in seiner Tasche nach Kleingeld, um an der Bar ihre Drinks zu holen. Diannes Haare waren ein wenig zerzaust. Sie wollte sich gerade setzen, als Bill mit einem gefüllten Bierglas zurückkam.

„Na, Frau Professor. Wie fickt er denn so, dein schwarzer Ranger?“

Auch Paddy hörte die Bemerkung, denn Bill hatte sie laut genug geäußert. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging drohend die wenigen Schritte, die sie trennten, auf den Angetrunkenen zu.

„Du bist ein Riesenarschloch, Bill, weißt du das?“ Wütend schrie Dianne ihn an. Erst im letzten Moment hielt sie den Ranger zurück, bevor er dem Mann an die Gurgel gehen konnte.

„Bill, halt dein verdammtes Maul! Du bist eine Zumutung, wenn du getrunken hast.“ Jim war auch aufgesprungen und mischte sich fast gleichzeitig ein. „Kann es dir überhaupt jemand recht machen? Und lass es nicht permanent an einem von uns aus, wenn du nicht darüber hinwegkommst, dass dir deine Frau weggelaufen ist! Was Dianne und Paddy miteinander haben, geht dich überhaupt nichts an! Und wir sind hier auch sonst nicht im Kindergarten! Merk dir das endlich!“ Jim war außer sich vor Zorn. Schon seit Beginn ihrer Reise war ihm Bills negatives Benehmen ein Dorn im Auge. Mit seiner letzten Beleidung hatte er eindeutig eine Grenze überschritten. Damit war auch Jim der Kragen geplatzt.

Bill sagte keinen Ton, trank sein Glas in einem Zug leer und knallte es auf den Tisch.

„Ach, macht doch euren verdammten Mist alleine!“ Er erhob sich ein bisschen unsicher und torkelte die wenigen Stufen hinunter. Alle Gäste schauten ihm betroffen und kopfschüttelnd hinterher, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte.

„Von allen guten Geistern verlassen, dieser Mensch.“ Paddy hatte sich schon wieder beruhigt. Er stand neben seiner Liebsten und hatte den Arm um ihre Taille gelegt. „Ein armer Irrer!“ Der Aborigine konnte sicher sein, dass im Augenblick alle so dachten, die die Szene mitbekommen hatten. Dianne schüttelte verständnislos und wütend den Kopf.

„Manchmal widert dieser Kerl mich einfach an. Und ich werde wohl nie verstehen, warum Onkel Jonathan ausgerechnet ihn angeheuert hat.“ Dann ließ sie sich endlich auf ihren Stuhl fallen und begann, ihre erfreulichen Neuigkeiten zu erzählen, die sie noch gar nicht hatte loswerden können. „Ratet mal, wem wir unterwegs begegnet sind?“ Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. „Ich wette, ihr kommt nie drauf!“ „So, wie ihr ausseht?“ Jim lachte laut. „Dem Terminator?“

Nach allem, was ich zu Beginn meiner Reise wissen konnte, war ich davon ausgegangen, dass mein Weg mich zunächst nach Nordwesten führen würde, bevor ich ihn auf der Länge von Port Essington nach Südwesten fortzusetzen beabsichtigte. Sobald ich die Tropen bei etwa 23° erreichte, wollte ich mich nach Westen wenden und in dieser Breite die Wüste umgehen, die schon Captain Sturt Jahre zuvor auf seinem Weg vom Süden herauf hatte scheitern lassen. Mein Wissen um die zahlreichen Flüsse hin zum Carpentaria Golf, die ich schon einmal überquert hatte, gab mir auch weiterhin Selbstvertrauen. Sie würden meiner Expedition das Leben spendende Wasser garantieren, das unser weiteres Vorwärtskommen sehr erleichterte. Offen blieb indessen, wie weit südlich diese Flüsse entsprangen. Ich war zuversichtlich, was diesen Punkt betraf, und so gab ich das Zeichen zum Abmarsch. Mein Tross setzte sich erneut langsam in Bewegung.

Da ich die Tropen längst überschritten hatte und mich etwa auf 20° südlicher Breite befand, bewegte ich mich sehr viel weiter nördlich, als ich das ursprünglich beabsichtigt hatte. Ich konnte immer dem Wasser folgen, seitdem ich den Welfare und seine Zuflüsse verlassen hatte. Dadurch hatte ich mehr Zeit benötigt. Die Vorratshaltung tat ein Übriges. Bisher sah ich mich dennoch in meinem Vorhaben bestärkt, und es blieb abzuwarten, welchen Weg meine Expedition vorfinden würde auf ihrem weiteren Vordringen bis zum Indischen Ozean.

Mein Ziel war der Swan River. Ich könnte nach eigener Einschätzung wohl noch zwei Jahre benötigen, um dorthin zu gelangen. Was auch immer geschah: ich würde meinen Traum wahrmachen: Und dieser Traum war und blieb die Durchquerung des Kontinents von Osten nach Westen.

Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit

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