Читать книгу Jonathans Erbe – Expedition in die Vergangenheit - Claudia Karsunke - Страница 7
Kramer-Such-Expedition
Оглавление27° 23’ 11’’ S / 153° 07’ 22’’ O – Brisbane International Airport Im Ankunftsterminal des International Airport von Brisbane herrschte reges Treiben. Jedes Mal, wenn eine der großen und vollen Maschinen aus Übersee hier landete, war es so. Obwohl noch sehr früh am Morgen, hatte der Tag hier schon lange begonnen. Angekommene Passagiere, die die strengen Einwanderungsbeamten schon vor dem Morgengrauen hatten einreisen lassen, schoben ihre Trolleys mit großen Gepäckstücken durch die riesige Halle. Manche schauten sich unsicher und suchend nach einer Transportmöglichkeit ins Zentrum oder zu ihrem Hotel um. Andere winkten fröhlich den vertrauten Gesichtern der Wartenden zu, die sie in der Menge entdeckten. Der Terminal belebte sich mit jedem Ankömmling in der Halle mehr, bis schließlich der Strom derer langsam wieder versiegte, die Australien heute zu ihrem Fernziel gemacht hatten. Es waren in der letzten Zeit wieder sehr viele Menschen, die hierher kamen und Brisbane als Ausgangspunkt für einen Ferientrip ins Landesinnere oder auch nur zu einem ausgedehnten Verwandtenbesuch nutzten. Japaner und Chinesen fielen neuerdings täglich zu Tausenden ein und bereiteten damit den hier lebenden Menschen inzwischen Mühe, sie freundlich zu empfangen. Ohne auf nennenswerten Widerstand gestoßen zu sein, hatten diese Neuankömmlinge bereits einen großen Teil des australischen Kuchens unter sich aufgeteilt, während viele andere Bewohner selbst nur zuschauen konnten. Das gefiel den Leuten natürlich gar nicht, und sie waren nicht gerade gut auf die asiatische Invasion zu sprechen, die sich nun noch zusätzlich zu den Hochzeitsreisenden aus Japan oder zu den Kurzurlaubern in die Sonne Queenslands in den Terminal ergoss. „Das sind sie!“ Richies angespannter Gesichtsausdruck löste sich augenblicklich, als er Hans Kramer entdeckte, der sich durch die Reihen derer schob, die noch nicht so genau wussten, was sie auf diesem Kontinent erwartete. Hans kam aus Deutschland. Er lebte in Berlin, und dieser Erdteil empfing ihn nicht zum ersten Mal. Zusammen mit Richie hatte er schon zwei Reisen weit hinein ins Landesinnere unternommen, um nach verbliebenen und noch auffindbaren Spuren seines Ururgroßonkels zu suchen, der vor mehr als 160 Jahren und fünf Generationen vor ihm selbst auf einer Expeditionsreise verschollen war. Schon früh hatte sich Hans für dessen Schicksal interessiert, das gleichzeitig zur Geschichte Australiens gehörte. Als auch für Hans diese verdammte Mauer aufging, die Deutschland über Jahrzehnte in zwei Teile teilte, da führte ihn sein erster Weg ins Reisebüro. So war er endlich selbst hier gelandet und hatte eher zufällig Richie Schwarz getroffen, der sich schon sehr lange mit den Details der Kramer‘schen Expeditionen beschäftigte. Sein Spezialgebiet war die Geschichte der Erforschung Australiens im neunzehnten Jahrhundert durch die Europäer. Ihre gemeinsamen Reisen und Entdeckungen hatten Hans und Richie zu Freunden werden und die wertvolle Vorarbeit für diese Expedition leisten lassen, die nun anstand und an der sie beide teilnehmen würden. Hans war eigentlich Ingenieur. Sein letzter, befristeter Vertrag war gerade rechtzeitig ausgelaufen, und eine Verlängerung zögerte sich noch hinaus. Hans fühlte sich also frei für die Herausforderung, die hier in Australien auf ihn wartete. Der Ankömmling freute sich, als er Richie im Pulk der Wartenden hinter der Barriere erblickte, und er lächelte zurück. „Komm, da sind sie.“ Hans gab der jungen Frau neben sich einen kleinen Schubs und schob ihren beladenen Trolley zielstrebig vorwärts, bis sie endlich vor Richie standen. „How was the trip, Hans? Nice to have you back here.“ Richie umarmte seinen Freund herzlich und wendete sich dann der jungen Frau an dessen Seite zu. Sie war seinem neugierigen Blick nicht entgangen. „Darf ich dir Annette vorstellen? Sie hat sich einfach nicht davon abbringen lassen, mitzukommen, als sie hörte, dass ich nach Brisbane fliege. So ist sie eben. Was sie sich vorgenommen hat, wird gemacht.“ Hans hoffte, Richie würde sie irgendwie im Team unterbringen. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, welche Rolle seine momentane Lebensgefährtin bei dieser Expedition einnehmen sollte. Normalerweise war sie eher ein wenig schwierig, wenn sie auf ihren gewohnten Lebensstandard in einer Metropole wie Berlin verzichten musste. Und diese Expedition versprach alles andere als eine Luxusreise zu werden. Sobald sie im Outback ankamen, würden sie alle auf viel verzichten müssen, was gerade Annette so sehr schätzte. Hans hatte wirklich arge Bedenken, ob es ihrer Arbeit zuträglich sein würde, wenn Annette dabei wäre. Aber bisher hatte er kein Argument gefunden, das sie überzeugt hätte, freiwillig auf ihre Teilnahme an dieser Reise zu verzichten. Und was nun kam, das hatte nicht er zu entscheiden, denn auch Hans war nur Teil einer Mannschaft, die sich zusammenfinden sollte, um endlich das Rätsel dieses verschollenen Mannes, seines eigenen Ururgroßonkels, zu lüften. Dabei wussten weder Richie noch sein Freund so recht, wie sie es anstellen sollten. Noch fehlten ihnen ein paar wichtige Details und die entsprechenden Leute. Aber Hans war sich ziemlich sicher, dass ihr Team schon in den nächsten Tagen komplett sein würde. So hatte er sich sehr entspannt ins Flugzeug gesetzt und auf den Weg nach Australien gemacht. Richie schaute Annette sehr freundlich und offen an. Sie gefiel ihm. „Ich bin Richie und das ...“ Er blickte sich um, aber sein Fahrer war bereits mit dem Gepäck unterwegs zum Auto. „Okay, dann wollen wir auch mal. Ich habe zum Empfang für euch ein Hotelzimmer im Pacific Court reservieren lassen. Da ist auch unser Treffpunkt. Am besten, ihr beide schlaft euch erst einmal aus. Ein Flug nach Down Under hat es ja meistens in sich.“ Bei diesen Worten blickte er Annette recht tief in ihre blauen Augen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er wusste natürlich von Hans und seinem Problem, Annette abzuschütteln. Offensichtlich war es ihm nicht geglückt. Was sein Freund ihm allerdings verschwiegen hatte, war die Tatsache, wie hübsch diese junge Frau war und wie unbefangen sie auf Richie wirkte. Er schätzte sie auf Anfang Dreißig. Annette hatte augenscheinlich diesen extrem langen Flug auf die andere Seite des Globus ohne die typischen Symptome von Müdigkeit gut verkraftet. Und sie wirkte offen und fröhlich. Richie konnte also Hans‘ Bedenken in diesem Punkt nicht nachvollziehen. Die junge Deutsche strahlte den Australier zufrieden an, als er sie und Hans zum Auto begleitete, das sie ohne Umwege ins Hotel fahren würde. Eine Dusche wäre jetzt, nach diesem entsetzlich langen Flug, das einzig Wahre. Annette hatte nichts gegen ein bisschen Luxus einzuwenden. Und sie würde ihn natürlich in vollen Zügen genießen. Genauso hatte sie sich Australien immer vorgestellt.
27° 58‘ 58.30‘’ S / 153° 25‘ 43.58‘‘ O – Gold Coast City, QLD Die Sonne war soeben aufgegangen. Annette stand auf dem Balkon des Zimmers im siebten Stockwerk des Pacific Court. Sie konnte den Blick einfach nicht von diesem grandiosen Schauspiel abwenden. Sie war tatsächlich in Australien gelandet. Hätte man ihr dies noch vor ein paar Wochen prophezeit, sie hätte ungläubig ihren blondgelockten Kopf geschüttelt. Und nun war sie doch genau da, wo sie schon immer sein wollte: weitab von dem ganzen Irrsinn, dem sie in Berlin, der alten und neuen Hauptstadt Deutschlands, jeden Tag begegnete. Hier, auf der anderen Seite der Weltkugel fand sie, da war Annette sich sicher, den gebührenden Abstand zu ihrem gewohnten Leben in Deutschland. Dort hatte sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert und, wie nicht nur Annette feststellte, manches zu seinem Nachteil. Das Leben hatte merklich an Tempo zugelegt, und wer da nicht mithalten konnte oder wollte, war schneller draußen, als ihm lieb war. Das hatte auch Annette erfahren. Obwohl noch keine fünfunddreißig Jahre alt, zog sie es inzwischen vor, mit dem Erbe ihrer Eltern im Rücken das Leben zu genießen, einen interessanten Job zu machen und die Alltagshektik den Mitmenschen zu überlassen, soweit das möglich war. Annettes Konzept ging auf. Sie verdiente gutes Geld als Produktdesignerin. Sie war rund um die Uhr damit beschäftigt, etwas Neues zu kreieren und es von anderen auf den Markt bringen zu lassen. Egal, was ihre Auftraggeber von ihr wollten, sie schaffte es bisher noch jedes Mal, diese teilweise wirklich verrückten Vorstellungen und Wünsche auf den Punkt zu bringen und das perfekte Ergebnis zu liefern. Allerdings fühlte sie sich in letzter Zeit ausgebrannt und müde. Daher hatte sie beschlossen, erst einmal so richtig auszuspannen und Berlin für einige Wochen weit hinter sich zu lassen. Die Idee, Hans nach Australien zu begleiten, passte also wunderbar in ihr eigenes Konzept, und sie wäre töricht gewesen, hätte sie nicht zugegriffen. Geldsorgen hatte sie keine. So war nur ein Anruf nötig, um Hans mit zwei Businessclass-Tickets nach Brisbane zu überraschen, Besuchervisum inklusive. Annette schätzte es, wenn sich die Dinge, die sie sich vornahm, so reibungslos aneinanderfügten. Sie wusste sich dann immer auf dem richtigen Weg. „Kommst du jetzt bitte, Annette? Wir wollen schon mal anfangen.“ Hans stand erst wenige Augenblicke hinter ihr. Auch er genoss diesen grandiosen Ausblick auf den endlosen Horizont und den grünblauen Pazifik mit den weißen Brandungswellen, die sich in einem beinahe weißen Sandstrand verliefen. Die Sonne hatte inzwischen ihre Farbe geändert und an Kraft und Intensität so stark zugenommen, dass man den Blick abwenden musste, um die Augen vor den Strahlen zu schützen. Keine Wolke trübte diesen Himmel. „Nur noch einen Moment. Ich kann mich gar nicht sattsehen.“ Annette lehnte sich an den Körper von Hans, der seinen Arm um ihre Taille legte. Wenn er ehrlich war, dann waren es diese Sonnenaufgänge, die ihn in Australien immer besonders willkommen hießen. Wie konnte man sich diesem Naturereignis verschließen, zumal dann, wenn dieser feuerrote Ball direkt vor dem offenen Fenster aufsteigt, hinter dem man erwacht, getrennt nur durch diese unendliche Weite des Pazifiks. Ein Schwarm kreischender Möwen kreuzte die Idylle. Hans löste die Verbindung, die nur wenige Sekunden gehalten hatte. „Komm, die anderen warten auf uns.“
Als sie das Zimmer 403 betraten, empfing Richie die beiden mit einem freundlichen Lächeln.
„Ich glaube, wir können jetzt anfangen.“
Annette suchte sich einen Sitzplatz, während Hans es vorzog, sich stehend an die Kommode anzulehnen. Richie begann mit seiner Vorstellung.
„Das ist Jim Logan. Er hat unsere Ausrüstung organisiert: Die Autos, die Zelte, die Klamotten und alles, was wir im Outback an technischem Equipment benötigen werden.“
Jim war ein typischer Australier mit einem gebräunten, drahtigen Körper und blonden, von der Sonne ausgebleichten Haaren. Er war der technische Leiter dieser Expedition. Annette schätzte ihn auf Ende Dreißig. Und er sah richtig gut aus.
„Hi, ihr könnt mich Jimmy nennen: Organisator, Überlebenskünstler, Improvisationen aller Art. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich normalerweise als Buschpilot. Nice to meet you.“
William Hall war der Kameramann dieser Gruppe, von der Annette nur wusste, dass sie eine gemeinsame Sache unterstützten. Dass allerdings ein Filmteam dabei sein würde, wunderte sie nun doch ein wenig.
„Hi, jeder nennt mich Bill. Frank ist mein Assistent. Er kümmert sich um die Ausrüstung und ist zuständig für den Ton.“
Bill war Mitte bis Ende Vierzig und machte einen sehr gestressten Eindruck, während sein Assistent in Annettes Augen sehr aufgeweckt schien und nichts anbrennen ließ. Er war wohl mit Abstand der Jüngste in diesem Team.
„Hi...“ Ein Klopfen unterbrach Frank. Er öffnete die Tür, weil er gleich daneben stand.
Richie lächelte erfreut, als er die Frau erkannte.
„Hi, Dianne, schön, dich zu sehen. Wir haben dich bereits vermisst und trotzdem schon mal angefangen. Die meisten kennst du ja.“
Eine sehr gepflegte, schlanke Person schwebte mit mehreren Papierrollen unter dem Arm ins Zimmer und legte seufzend das Bündel auf dem Tisch ab.
„Entschuldigt bitte die kleine Verspätung. Es gab ein paar Probleme, an diese Karten zu kommen. Im Archiv hatten sie Mühe, die alten Originale überhaupt zu finden. Und dann hat es ewig gedauert, bis sie kopiert waren. Aber nun sind wir endlich komplett.“ Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich in den noch freien Sessel sinken und holte erst einmal tief Luft.
„Für alle, die mich noch nicht kennen: Dianne Smith. Ich arbeite als Ethnologin an der Universität von Newcastle. Eigentlich schreibe ich an meiner Doktorarbeit, hänge aber zurzeit ein wenig durch. Ich dachte, dieses Abenteuer, das sich Onkel Jonathan da ausgedacht hat, bringt mich auf meinem Gebiet weiter.“ Sie ließ ihren Blick kurz in die Runde schweifen. „Oder zumindest auf andere Gedanken.“
Dianne war unüberhörbar britischer Herkunft. Sie musste irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein. Sie war attraktiv, brünett, offensichtlich sehr gebildet und elastisch in ihren Bewegungen. Ihre distinguierte Sprache unterschied sich in ihrer Feinheit sehr von der Ausdrucksweise der Übrigen, die vermutlich alle in Australien geboren oder irgendwann eingewandert waren und diesen für Annettes Ohren recht sonderbaren Akzent hatten.
Der Einzige, der noch nicht vorgestellt worden war, lehnte geduldig lächelnd am Wandschrank. Er war von schwarzer Hautfarbe und vielleicht Ende Dreißig. Annette konnte sein Alter nicht besonders gut einschätzen. Dafür fehlte ihr die nötige Übung. Jetzt richteten sich alle Blicke auf diesen Mann. Er war ihr wegen seiner Andersartigkeit sofort ins Auge gefallen. Irgendwie erschien es ihr typisch, dass er erst jetzt an die Reihe kam.
„Hi, ich heiße Paddy. Paddy Crocodile. Wie ihr alle seht, bin ich ein Aborigine und trotzdem mit von der Partie. Wer ein Problem damit hat, soll sich melden, damit wir es gleich hier aus dem Weg räumen können.“ Er ließ seinen Blick im Zimmer umherschweifen.
Außer Bill, der etwas sagen wollte, dann jedoch einen Rückzieher machte, schauten ihn alle freundlich an. Richie ergriff wieder das Wort.
„Paddy arbeitet üblicherweise als Ranger in einem unserer Nationalparks in den Kimberleys im Nordwesten. Ich glaube, wir können sehr froh sein, dass er dabei ist. Kramer ist bei seinen Leuten alles andere als beliebt. Man gibt ihm die Schuld an ihrer Misere. Nicht wenige in seinem Volk werfen ihm sogar vor, er habe ihnen die Träume gestohlen.“ Richie schaute Paddy freundlich an, als der nickte.
„Ich selbst sehe das ein bisschen pragmatischer. Wäre es nicht Kramer gewesen, dann wäre vermutlich ein anderer Weißer in unsere heiligsten Gebiete eingedrungen und hätte das Land der Ahnen entweiht. Gleichzeitig hätten sich dieselben weißen Siedler auf unserem seit der Traumzeit angestammten Land breitgemacht, unsere Erde und ihre Bodenschätze, die uns allen gehören, ausgebeutet. Objektiv betrachtet endete unser Traum bereits, als die ersten Briten ihren Fuß auf diesen Kontinent setzten.“
Dianne hatte Paddys Worten aufmerksam zugehört. Sie nickte und richtete sich in ihrem Sessel auf.
„Ich bin derselben Meinung, obwohl ich mich manchmal frage, wer uns eigentlich das Recht gab, dies alles zu tun, ohne uns der geringsten Schuld bewusst zu sein?“ Sie entspannte sich wieder. „Aber das gehört wohl eher nicht hierher. Das ist nur meine ganz persönliche Meinung.“
Bevor Richie dieses Warming-up beendete, stellte er Hans und sich selbst noch einmal kurz vor.
„Mich kennt ihr ja schon. Richie. Ich kenne mich in der Geschichte dieses Landes aus und habe alle Daten im Zusammenhang mit Kramer und seiner letzten Expedition dokumentiert und hier abgespeichert.“ Er tippte sich lächelnd mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Wenn das versagen sollte, gibt es da immer noch meinen Laptop, der alles Wissenswerte im Handumdrehen ausspucken wird.“ Richie machte eine kleine Pause, bevor er sich seinem Freund zuwandte.
„Und dies hier ist Hans Kramer aus Deutschland. Er ist der Ururgroßneffe des Forschers. Hans wird uns helfen, wie jeder von uns, Jonathans Expedition zu bereichern. Die Annahme von Hans und mir ist, und wir beide schließen die Möglichkeit bewusst ein, dass man auf dem Weg der – nennen wir es Familienzusammenführung – einen Kontakt zu dem verschollenen Urahn herstellen kann, um so mehr über sein Schicksal zu erfahren... Aber bitte...“ Richie machte eine abmildernde Geste. „Es ist nur eine Spekulation, und wir werden erst hinterher wissen, ob unser Ansatz überhaupt funktioniert. Bis dahin halten wir uns einfach die Option offen, dass es möglich sein kann. Jeder von uns trägt seinen Anteil am Gelingen dieses Abenteuers bei, und ich hoffe sehr, dass wir am Ende das Resultat bekommen, das wir uns alle erhoffen. Jonathan hat sehr viel dazu beigetragen, dieses Kramer-Such-Projekt finanziell auf die Beine zu stellen. Ohne ihn wäre diese Expedition gescheitert. Das wissen wir alle. Also sollten wir auch alle unser Möglichstes tun, etwas Brauchbares zu finden.“ Richie drehte sich um. Sein Blick traf Annettes Augen. Unwillkürlich wurde sie rot und lächelte verlegen.
„Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass wir Annette, obwohl sie nicht vorgesehen war, auf diese Reise mitnehmen sollten. Gibt es etwas, das dagegen spricht?“ Richie schaute in die Gesichter der anderen. Niemand rührte sich. „Offensichtlich nicht. Trotzdem möchte ich dich bitten, dich kurz selbst vorzustellen.“
Annette erhob sich und folgte gerne seiner Aufforderung. Wie sich die Dinge doch fügten.
„Okay. Ich heiße Annette Deutsch, lebe in Berlin und bin die Freundin von Hans. Mein Geld verdiene ich als Designerin für alles Mögliche und ...“ Annette war dankbar, dass ihr der rettende Gedanke kam, „ ... nebenbei beschäftige ich mich mit Geomantie und diesen Dingen. Vielleicht brauchen wir ja mal Wasser. Ich habe gelernt, wie man mit einer Wünschelrute Wasser sucht und... “
„Auch, wie man es findet?“ Jim Logan schaute die anderen amüsiert an.
Annette nickte ein wenig unsicher, aber jeder im Raum schien von dieser Idee beeindruckt, wie sie beruhigt feststellte.
„Okay, wenn das kein Argument ist. Ich habe nichts dagegen, wenn du uns auf diese Weise verstärkst. Wasser können wir, da, wo wir uns aufhalten, das eine oder andere Mal vermutlich sehr gut gebrauchen.“
Richie war zufrieden mit dieser Wendung. Er hatte schon befürchtet, es könnte Einwände geben. Schließlich war man auf Annette nicht vorbereitet gewesen. Nun müsste er diesen Personalpunkt nur noch mit Jonathan abstimmen, und dann stand ihrer Teilnahme nichts mehr im Wege.
„Damit sind wir wohl für heute hier fertig. Wir werden genug zu tun haben, bevor wir aufbrechen. Jonathan wird uns den genauen Zeitpunkt noch heute mitteilen. Er lässt euch grüßen und wünscht uns allen gutes Gelingen bei den Vorbereitungen.“
Bill war aufgestanden und streckte sich.
„Komm, Frank. Beweg dich. Es wartet da offensichtlich ein Riesenstück Arbeit. An uns soll es bestimmt nicht liegen, wenn etwas fehlt. Jonathan soll seine Bilder haben. Er kann sich auf uns verlassen.“
Annette saß wie gebannt vor dem Fernsehgerät, das sie eher im Vorbeigehen eingeschaltet hatte. Als die Ankündigung für diese Talkshow kam und der Name Jonathan Miller fiel, blieb sie interessiert dran. Sie goss sich eine Tasse Tee auf und ließ sich mit einem Keks im Sessel nieder.
„Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum Sie sich so hartnäckig weigern, Ihre Vergangenheit preiszugeben. Es...“
„Ich bestätige Ihnen gerne noch einmal, dass nichts Unehrenhaftes daran ist. Sie scheinen in ganz Australien die einzige Person zu sein, die sich dafür interessiert. Dabei geht es hier doch um etwas völlig anderes.“
„Und um was geht es dann?“ Die Talkmasterin setzte ihren Gast erneut unter Druck.
„Sie haben mich offiziell in Ihre Show eingeladen, um Ihren Zuschauern die Kramer-Such-Expedition vorzustellen. Und genau diesem Anliegen bin ich gefolgt. Was darüber hinausgeht, hat hier in dieser Sendung wirklich nichts zu suchen.“
Was die junge Deutsche nicht verstand, waren die Anfeindungen, denen sich dieser alte Herr schon eine ganze Weile geduldig und höflich widersetzt hatte. Trotzdem kam diese Schnepfe – anders konnte Annette diese Frau wirklich nicht bezeichnen – immer wieder auf denselben Punkt zurück. Was bezweckte sie damit? Vermutlich hatten auch die australischen Zuschauer Mühe, zu verstehen, worauf diese Sheila Young eigentlich hinauswollte.
„Wenn Sie es mir weiterhin unmöglich machen, die Such-Expedition und ihre Teilnehmer vorzustellen, sollte ich mich jetzt wohl besser verabschieden.“
Annette merkte dem Mann seinen Zorn an, obwohl er äußerlich sehr ruhig und gelassen blieb. Er stand von seinem Sessel auf und richtete sich direkt an die Zuschauer im Studio, die inzwischen gegen diese Entwicklung protestierten, die das Interview zu nehmen drohte.
„Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, aber ich habe Wichtigeres zu tun, als mich hier und jetzt diesen offensichtlich sehr persönlichen Anfeindungen zu unterwerfen. Ich hätte Ihnen wirklich gerne dieses Projekt vorgestellt, das mir sehr am Herzen liegt. Nun werden Sie sich wohl alle noch ein wenig gedulden müssen.“ Seinen Blick jetzt auf die verdutzte Talkmasterin richtend, fuhr er ruhig fort: „Ich bin sicher, dass werden Ihre Zuschauer besser verstehen, als Sie selbst es vielleicht vermögen, Miss Young. Sie überschreiten – und das tun Sie ja heute nicht zum ersten Mal – Ihre Grenzen. Das steht Ihnen nun wirklich nicht zu!“
Jonathan Miller stieg vom Podest herunter und verschwand auf dem kürzesten Wege in der Kulisse. Ein aufgeheiztes Publikum und eine hilflos lamentierende Talkmasterin blieben so lange im Bild, bis sich die Regie mit einer abrupten Werbeeinblendung aus diesem unvorhersehbaren Abgang des Talkshow-Gastes von den Fernsehzuschauern verabschiedete.
Annette war baff. Wenn das der Mann war, der ihre Expedition finanzierte, – und er war es bestimmt – dann hatte sie ihn sich irgendwie anders vorgestellt, auf jeden Fall wesentlich jünger. Trotzdem irgendwie väterlicher. Aber dieser Jonathan Miller strahlte eine solche Autorität aus, als er die Talkmasterin in ihre Schranken verwies. Annette schüttelte den Kopf über das, was sie da gerade gesehen hatte, trank einen Schluck aus ihrer Teetasse und knabberte an einem Keks.
Was auch immer ihr Gast verbergen zu haben schien, diese Sheila mochte ihn offensichtlich nicht, und Jonathan mochte sie nicht. Daran gab es keinen Zweifel.
Inzwischen hatte Richie ihr das Okay Jonathans gegeben, und Jimmy sorgte gerade für die noch fehlende Ausrüstung bei den Sponsoren, während Annette weiter darüber nachdachte, wie sie sich in diesem Team nützlich machen konnte. Bisher war ihr noch nichts Konkreteres als das mit der Wünschelrute eingefallen. Und sie beschloss, es vorerst dabei zu belassen. Sie hatte wirklich Glück gehabt, als sie ihrer Intuition folgte. Für Annette konnte das Abenteuer beginnen.
27° 32’ 35.78’’ S / 153° 03’ 59.99’’ O – Mt Gravatt / BrisbaneQTV Als Jonathan Miller das Studio verließ, zog er sofort eine ganze Schar von aufgeregten Produktions- und Aufnahmeleitern, den stellvertretenden Studioleiter und einige Redaktionsmitarbeiter hinter sich her. In den Gängen, die zum Ausgang führten, wuchs die Traube sogar noch an. Er, Jonathan, hatte sich etwas erlaubt, das nicht sein durfte. Sie alle hatten nun ein Problem, das es irgendwie ganz schnell in den Griff zu bekommen galt, bevor dieser heutige Eklat bei BrisbaneQTV in der Branche publik würde und Schlimmeres nach sich zog. Wenn es so kam, wie die Meute hinter ihrem Hauptsponsor ganz offensichtlich befürchtete, dann waren sie alle hier ihren Job bald los. Nicht nur Sheila, die ihnen das eingebrockt hatte. Die Werbeeinnahmen würden ohne sie rapide abnehmen. Dem Sender würden die Kunden davonlaufen, um sich bei der Konkurrenz zu etablieren. Auch Jonathan war einer dieser Garanten dieses Kanals. Noch sorgte er mit den zahlreichen Werbeeinblendungen seiner Firma für die nötige Sicherheit der Mitarbeiter, und die wussten das natürlich. Jonathan wehrte nun all diese Leute freundlich, aber bestimmt ab, die ihn bedrängten und zu beschwichtigen suchten, wo es für ihn nichts mehr zu beschwichtigen gab. Miss Young hatte den Bogen heute eindeutig überspannt. Damit war sie ihren Job wohl bald los. Sie stand schon einmal kurz vor dem Rauswurf. Aber da ihr treues Publikum sich für sie eingesetzt hatte, wurde ihr ein Ultimatum gestellt: Wenn sie es schaffte, innerhalb einer Woche die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben, durfte sie bleiben. Wenn nicht, dann nicht. Sheila Young nutzte diese Herausforderung, wie sie wohl alle Chancen nutzte, die sich ihr boten. Sie fühlte sich bestätigt, bekam durch die starke Rückendeckung mehr Biss, und fast jede Sendung gipfelte in einem Knalleffekt. So schaffte sie es tatsächlich, in der Publikumsgunst wieder zu steigen und die Werbeeinnahmen in die Höhe zu treiben. Niemand wagte es, sich ihr zu widersetzen. Eine ganze Weile schien sich jeder darum zu reißen, in Sheilas Sendung eingeladen zu werden, weil die Quote stimmte. Inzwischen fanden sich für ihre Talkshows jedoch kaum noch Freiwillige, die sich ihren Angriffen uneingeschränkt und öffentlich aussetzen mochten. Sheilas Erfolgsstern hatte erneut zu sinken begonnen, als Jonathan Miller ihre Einladung überraschend annahm. Obwohl ihm diese Sheila schon seit längerer Zeit mit ihrer Art missfiel, wollte er sich den Vorwurf ersparen, nur ihretwegen nicht zu erscheinen. Er hatte es nicht zum Manager des Jahres 2011 gebracht, um sich von ihr alles bieten lassen zu müssen. Natürlich riefen seine Erfolge auch die ewigen Neider auf den Plan. Jonathan bekam diese negative Kraft von Zeit zu Zeit zu spüren, wenn sie auch bislang unbeschadet an ihm abgeprallt war. Heute, in dieser Talkshow, meldete sie sich plötzlich wieder zurück. Diese Sheila hatte ein empfindliche Saite angerissen und damit seine Vergangenheit. Diesmal stand er ihr etwas hilflos gegenüber. Was hätte er denn antworten sollen? Womit hätte sich ausgerechnet diese Frau zufrieden gegeben? Wenn überhaupt? Worauf wollte sie hinaus? Was diese Sheila so brennend zu interessieren schien, dass sie scheinbar nichts von der Wahrheitsfindung abhielt? Er wusste es einfach nicht. Und zum ersten Mal machte sich ein ungutes Gefühl breit, da er selbst die Antwort auf ihre Frage nicht kannte. In ein paar Tagen, sobald die Vorbereitungen abgeschlossen waren, würden seine Leute sich auf den Weg machen und etwas versuchen, was noch niemandem vorher gelungen war. Sie würden die alten Spuren Kramers wiederfinden, der inzwischen seit mehr als 160 Jahren irgendwo da draußen im Nirgendwo Australiens verschollen war. Es würde ihnen zweifellos gelingen, auf neue Hinweise zu stoßen. Und sie würden hoffentlich bei dem Vermissten selbst landen. Das war Jonathans Anspruch bei diesem Unternehmen. Und er hoffte, dieses hochgesteckte Ziel mit der Hilfe seiner Leute tatsächlich zu erreichen. Zugegeben, es war bisher nur Theorie, die Jonathan da leitete. Gleichzeitig war es aber auch seine Intuition, die ihn, trotz aller gelegentlichen Zweifel, darin bestärkte, an den Erfolg dieses Projektes zu glauben, es irgendwie Wirklichkeit werden zu lassen. Das Ergebnis dieses Wagnisses kannte indes niemand. Auch Jonathan musste sich in Geduld üben, bis seine Leute wirklich Neues entdeckten. Irgendetwas würden sie finden. Und diese Zuversicht, auf etwas Wichtiges im Zusammenhang mit Kramer und seiner letzten Expedition zu stoßen, regte zweifellos die Kreativität seiner Leute an. Er hatte es schon oft genug erlebt, weil das gegenseitige Vertrauen ein Garant für diese Art von Erfolgen war. Jonathan war sehr gespannt, was dieses außergewöhnliche Projekt alles zutage fördern würde. Für ihn selbst wurde es vermutlich langsam Zeit, den Chefsessel für seinen Sohn zu räumen und sich mehr seinen persönlichen Dingen zuzuwenden, die möglicherweise noch unerledigt waren. Warum sonst meldeten sich vorhin diese leisen Zweifel? Er, Jonathan, würde sich wohl in den nächsten Monaten Stück für Stück zur Ruhe setzen und seinem Sohn das gut bestellte Feld gerne überlassen, wie es der alte Morley ihm vor vielen Jahren übereignet hatte.
27° 28’ 16.00’’ S / 153° 02’ 10.57’’ O – Brisbane City, QLD Dieser Mann hatte doch etwas zu verbergen. Sheila tobte. Sie schritt im Büro ruhelos auf und ab wie ein Raubtier in seinem Käfig. „Warum wehrt sich dieser Miller eigentlich so vehement dagegen, dass ein Fernsehteam die Expedition begleitet? Kannst du mir das vielleicht sagen? Unsere Zuschauer haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Und auf eine lückenlose Berichterstattung. Im einundzwanzigsten Jahrhundert sollte das zu den Grundrechten gehören! Schließlich leben wir hier in einem freien Land und nicht in einer Diktatur.“ Sheilas Chef stand am Fenster und blickte aus dem 7. Stock hinunter auf den Brisbane River und den CityCat, der soeben am Pier des Expo-Geländes gegenüber anlegte. Ein paar Dutzend Menschen gingen von Bord des Katamarans und verteilten sich langsam auf der Uferpromenade. Samuel hatte jedes Wort seiner Mitarbeiterin registriert. „Weil es seine Expedition ist, und weil er ein Recht darauf hat, seine Leute abzuschirmen und in Ruhe arbeiten zu lassen. Er hat ein Kamerateam angeheuert, das die Expedition begleitet und ihre Arbeit dokumentiert. Er hat also vorgesorgt, dass die Welt erfährt, was da draußen passiert. Offensichtlich bedeutet es für ihn mehr als nur eine Fahrt ins Blaue. Und außerdem: Wer sollte denn, deiner Meinung nach, diese Berichterstattung übernehmen? Ich nehme an, du hast dich selbst dafür ausgesucht, stimmt’s?“ Sheila blieb stehen, sah ihren Chef einen kurzen Moment unverhohlen an und nickte. Sam schien zu begreifen. Ein Lächeln tauchte um ihre Mundwinkel auf. Sie musste jetzt trotzdem vorsichtig sein. Schließlich hatte sie gestern ganz schön alt ausgesehen, als dieser Jonathan sie derart abservierte, dass ihre eigene Zukunft nun auf dem Spiel stand. Sheila wäre allerdings nicht Sheila gewesen, wenn sie die neue Ausgangslage nicht gewinnbringend für sich selbst zu nutzen verstanden hätte. Sie war bereits auf einem guten Weg dahin. Sie kannte jetzt nur noch ein Ziel: Sie wollte Jonathan Miller vernichten. Und sie war bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen, wenn nötig, sogar jeden Preis! „Überleg doch mal, Sam, wir müssen schließlich unsere Zuschauer darüber informieren, was in diesem Lande geschieht. Die Satellitentechnik macht es uns heute möglich, live aus jedem Winkel der Erde zu senden. Da ist doch das Outback kein Problem. Und ich habe die beste Qualifikation, die du dir vorstellen kannst, um diesen Job zu machen, das weißt du auch. Warum gibst du mir also nicht noch diese eine Chance?“ Inzwischen waren Passagiere zugestiegen und die Schnellfähre hatte abgelegt, um die nächste Pier anzusteuern. Samuel drehte sich zu seiner Mitarbeiterin um. „Du hast sie gehabt. Und du hast sie gestern gründlich vergeigt. Begreif das doch endlich! Ich kann dir nicht mehr helfen. BrisbaneQTV ist für Sheila Young passé, endgültig passé. Pack also schleunigst deine Sachen zusammen und verlass dieses Büro! Niemand hier wird dir auch nur eine Träne nachweinen. Du hast mit dem Vertrauen deiner Kollegen und der Geschäftsleitung gespielt. Und du hast es missbraucht. Das werden sie alle hier nicht so schnell vergessen. Im Gegensatz zu dir haben viele eine Familie zu ernähren. Und nun müssen sie um ihren Job bangen. Drei unserer besten Werbekunden sind bereits für das nächste Quartal abgesprungen. MorleysPartnership Enterprises sind zwar noch da, aber wenn ich noch einen Finger für dich rühre, spricht sich das sofort herum. Dann ist auch Jonathan Miller weg und wir können dichtmachen. Du bist fertig, Sheila, verstehst du? Geh weit weg von hier und such dir woanders eine neue Plattform für deine Eskapaden! Vielleicht hast du Glück, und du findest Anschluss, bevor das ganze Ausmaß des Schadens, den du hier angerichtet hast, öffentlich wird! Mehr kann ich nicht für dich tun.“ Sheila hatte sich die Vorwürfe ihres Chefredakteurs äußerlich geduldig angehört. Innerlich kochte sie vor Wut. „Aber versteh doch, ich musste das tun. Dieser Mann hat was zu verbergen. Das spüre ich ganz genau. Was auch immer es ist, es ist der Schlüssel. Dieser Mann will mich fertigmachen, und in diesem Punkt ...“ Sheila wollte einen neuen Anlauf nehmen, um das Blatt doch noch zu ihren Gunsten zu wenden, aber sie hielt mitten im Satz inne. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, den sie so schnell wie möglich in die Tat umsetzen wollte. Sie zögerte nicht länger, packte in Windeseile ihre persönlichen Dinge vom Schreibtisch in einen Faltkarton. Sam sah ihr dabei zu. „Es freut mich, dass du offensichtlich einsiehst, dass es zwecklos ist, deinen Job in diesem Laden weiterzumachen.“ Sheila antwortete nicht. Sie benötigte nicht viel Zeit zum Einpacken. In einer Minute war sie fertig. Sie klappte den Deckel zu und schaute sich noch einmal im Raum um. Sie hatte nichts vergessen, hob den halbvollen Karton und lächelte Sam an. „Ja okay, ich habe verstanden.“ Er wartete, bis sie sich der Tür zuwendete, und folgte ihr in kurzem Abstand. „Pass in Zukunft einfach besser auf, wie du deine Sache verkaufst! Und das meine ich ganz ehrlich. Als Freund, nicht nur als dein Chef.“ Gemeinsam verließen sie das Büro, das einmal Sheilas ganze Macht repräsentierte und von dem aus sie ihre Fäden gezogen hatte.
Ich hatte diese große Entdeckungsreise nach Swan River zwar ebenso begonnen wie die beiden zuvor. Während der ersten ausgedehnten Durststrecke nach nur zwei Monaten kamen mir jedoch große Zweifel, ob ich so jemals mein weitgestecktes Ziel erreichen würde. Wir waren voraussichtlich mehr als zwei, wenn nicht sogar drei Jahre unterwegs und völlig auf uns allein gestellt. Schon zu diesem Zeitpunkt der Expedition wurden wir durch die Umstände unserer Reise gezwungen, umzudenken, wollten wir lebend am Indischen Ozean ankommen. Über mehr als hundertachtzig endlose Meilen hatten wir uns täglich weiter durch ein ödes und trockenes Gebiet vorangequält und am Ende selbst vorwärtsgetrieben wie unsere eigenen Tiere. Unter Aufbietung unserer allerletzten Kraftreserven waren wir auf ein Flussbett gestoßen, das an dieser Stelle ganzjährig mit Wasser gefüllt zu sein schien. Ich ließ sofort einen Baum markieren, als wir wieder dazu in der Lage waren. Wie gewohnt, wurden mein großes „K“, der Monat und die Jahreszahl in den Stamm geritzt. Sollte jemals ein weißer Siedler den Weg bis hierher schaffen, so verriet ihm das Zeichen, dass dieser Fluss bei der Ankunft von Kramers Expedition Wasser geführt hatte. Ich hatte mir außerdem erlaubt, ihn nach dem zu benennen, – und in der an dieser Stelle noch unbeschriebenen Karte zu vermerken – was er für mich selbst und meine gesamte Expedition bedeutet hatte: Welfare Creek. In meinem Skizzenbuch notierte ich noch zusätzlich die Koordinaten unseres Lagers, soweit es mir überhaupt möglich war, die Longitude exakt zu bestimmen. Ich würde sie nie vergessen: Dieser Platz lag in 25° 22’ südlicher Breite und 142° 44’ östlicher Länge. Allein der unbändige Wille, zu überleben hatte uns die Kraft gegeben, das rettende Wasser doch noch rechtzeitig zu finden. Als ich mich wieder einigermaßen von den Strapazen erholt hatte, ritt ich so lange an diesem gelblichgrauen und trüben Gewässer entlang, bis der natürliche Wasservorrat zu Ende war. Einen weiteren Stamm hatte ich hier markiert und meinem „K“ und dem Zeitpunkt auch noch einen Pfeil hinzugefügt, der in die Richtung des Wassers wies und damit seine momentane Ausdehnung markierte. So würde ich es auch künftig halten, für alle ein Zeichen zu setzen, die auf diesen Creek trafen, der ihre geschundenen Körper und Seelen auffing, wenn sie, wie wir selbst, den Glauben auf Rettung beinahe verloren hatten.