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Berlin wurde zu meinem Lebensmittelpunkt – in jeder Hinsicht

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Ich leistete gerade Zivildienst und stand am Abend in Godspell in Hamm als Jesus auf der Bühne, als Annette Brückner, die von meinen Talenten begeistert und überzeugt war, mit einer ziemlichen Überraschung auf mich zukam. Die Ballettschulleiterin und Choreografin, der ich meinen Auftritt in Godspell und zuvor in Dreams on Broadway verdankte und die mir eigentlich den Zugang zum Musical verschafft hat, hatte ohne mein Wissen die Weichen für meine Zukunft gestellt. Als meine Mentorin und in meinem Namen hatte sie eine Bewerbung zum Vorstellungsgespräch an der HdK, der Hochschule der Künste in Berlin, abgeschickt. Sie verfügte stets über gute Kontakte nach Berlin und war überzeugt, dass ich genau der Richtige für die Musicalklasse der Hochschule sei. Ich hatte damals das Ende meines Zivildienstes vor Augen und sah ohnehin keinen Grund mehr, in Hamm zu bleiben, noch länger Mitglied des für mich zu klein gewordenen Mikrokosmos in der westfälischen Provinzstadt zu sein.

Die Weichen waren gestellt. Der wohlwollende Antwortbrief und die Einladung zum Vorstellungsgespräch folgten. Eine Hürde hatte ich als angehender Student allerdings noch zu meistern: die Aufnahmeprüfung an der renommierten Hochschule der Künste, die 2001 als UdK in den Status einer Universität erhoben wurde.

Zum ersten Mal kam ich nach Berlin, die Aufregung über die große Stadt war gepaart mit der Angst vor dem Hearing an der Hochschule. Konnte ich meinen Traum realisieren? Da stand ich in der Hardenbergstraße, unweit des Bahnhofs Zoo, eben noch mit Godspell auf der kleinen Bühne, im Koffer die Noten zu „Aquarius“, die ich gar nicht lesen konnte, denn all die Jahre hatte ich mir als Autodidakt lediglich die Gitarrengriffe beigebracht. Auch einen Tanz hatte ich einstudiert, man konnte ja nie wissen.

Die Konkurrenz der Bewerber war groß, aus ganz Deutschland waren sie gekommen, in die Noch-nicht-Hauptstadt, aber wichtigste Kunstmetropole der Bundesrepublik. 600 waren es an der Zahl. Sechs von ihnen haben die Prüfung bestanden – einer davon war ich.

Mit dem ernsten und aggressiven Godspell-Song „Alas for You“, dessen Melodie lediglich von einem Kassettenrekorder zugespielt wurde, konnte ich als bühnenerprobter Jesus die strengen Professoren überzeugen. Ich wurde genommen, weil ich ein Mann war und sich hauptsächlich Frauen beworben hatten. Weil ich eine außergewöhnliche Stimme hatte und offenbar auch schauspielerisch imponieren konnte. So hat es zumindest einer meiner Professoren später einmal formuliert.

Ich hatte einen Platz in dem erst ein halbes Jahr zuvor installierten und fast ausschließlich weiblich frequentierten Probelehrgang zur Ausbildung für Musicaldarsteller. Trotz meiner unterdrückten Unsicherheit fühlte ich mich wie im siebenten Himmel. Ich war jemand, ich hatte es geschafft.

Geschafft hatte ich es sozusagen auch bei meinem nächsten Heimatbesuch in Hamm, nämlich in den Westfälischen Anzeiger, das wichtigste Regionalmedium in unserem Landkreis. In dem Artikel über den Sohn der Stadt, der es bis nach Berlin an die Kunst-Uni gebracht hatte, war ich auf einem Foto zu sehen, das mich im Freudensprung auf dem Dach eines Hauses hoch über Hamm zeigt. Ein treffendes Motiv, denn genau so fühlte ich mich damals. Nicht nur meine Familie war mächtig stolz auf mich, sondern ganz Hamm hat sich merkbar mit mir gefreut.

Nun war ich mittendrin. Unter den echten Künstlern und Sängern, in Berlin, und über 500 Kilometer weg von meiner Heimatstadt. Zum allerersten Mal lebte ich in einer Großstadt, und noch dazu als ordentlicher Student. Ich konnte es kaum fassen, eine fast unwirkliche Stimmung machte sich in mir breit. Die erste Nacht verbrachte ich voll Euphorie in der Wohnung einer Freundin, die Monate zuvor den Schritt aus Hamm nach Berlin gewagt hatte. Martina war Krankenschwester, wollte später Schauspielerin werden und arbeitete nebenbei als Redakteurin bei der taz. Sporadisch sind wir immer noch in Verbindung. Mit ihr habe ich mir bald eine Wohnung geteilt. Sie ging zur Arbeit, ich in meine Vorlesungen und praktischen Übungsstunden. Sie war es, die unseren Kühlschrank immer aufgefüllt hat und mir das beste Tiramisu ever als Nachtisch kredenzt hat.

Ich musste mehr über Musik und Musical erfahren, ich war wissbegierig. Aber das hatte auch einen konkreten Grund, den ich nicht eingeplant hatte. Man hatte mir eine kleine Bürde auferlegt: In einer Klausel meines Studienvertrages war enthalten, dass ich innerhalb eines halben Jahres eine Nachprüfung im Fach „Musikalität“ – sprich Notenlesen – machen musste. Ein angehender Musikstudent ohne Notenkenntnisse, das konnte man an einer so renommierten Akademie nicht akzeptieren.

Zusätzlich musste ich mit einem weiteren unerwarteten Problem zurechtkommen, das beinahe noch mehr schmerzte: das zugesagte BAföG, die staatlich geregelte Unterstützung für die Ausbildung von Schülern und Studenten in Deutschland, blieb aus. Meine Eltern hatten zumindest auf dem Papier durch den Besitz unseres Bauernhofs und die Einnahmen aus dem Getränkevertrieb ein zu großes Vermögen. Die Realität sah völlig anders aus, denn meine Eltern hatten all ihr Geld in den Betrieb gesteckt und zusätzlich Kredite aufgenommen, es war kaum Bares da. Eine finanzielle Unterstützung meines Studiums wäre für sie zu diesem Zeitpunkt unmöglich gewesen.

Da stand ich nun, und selbst die halbe Miete für die kleine Wohnung in der Rathenower Straße im Stadtteil Moabit wurde für mich zur fast unleistbaren Herausforderung. Die gefühlten zwei Quadratmeter Wohnfläche meines winzigen Durchgangszimmers kosteten mich im Monat 200 DM, die ich nicht aufbringen konnte. Etwas Geld hatte ich während meiner Zivi-Zeit zur Seite gelegt, aber in Berlin herrschten finanziell andere Dimensionen.

„Was tun?“, war der einzige Gedanke, der mir tagelang durch den Kopf ging. Sollte ich den Traum schon wieder ausgeträumt haben, weil er einfach nicht finanzierbar war?

In meiner Verzweiflung und in Ermangelung an Freunden oder Vertrauten in der Großstadt griff ich zum Telefon und rief meine Mutter an. „Mama, ich habe kein Geld mehr, ich komme wieder zurück nach Hamm. Es hat so keinen Sinn.“ Ich hatte in diesem Moment Tränen in den Augen und ein Schluchzen in der Stimme. Die Antwort aus Hamm hörte sich wie ein Echo an, denn auch meine Mutter begann 500 Kilometer von mir entfernt zu weinen. Es waren erst zwei Monate vergangen, seitdem ich meine Heimatstadt mit stolzgeschwellter Brust verlassen hatte. Nicht um die Schmach ist es mir in dieser Sekunde gegangen, nein, um das Zerplatzen meines Traums. Meine Mutter konnte mir nicht helfen, so sehr sie auch wollte.

Doch dann kam, wie ein rettender Engel, meine Schwester Annette helfend ins Spiel. Als Medizinisch-technische Assistentin an einer Kurklinik in Hamm verdiente sie ganz gut. Sie liebte mich über alles, glaubte fest an mich und unterstützte mich schließlich durch die monatliche Zahlung meiner Miete. Ein Darlehen unter Geschwistern, das ich ihr später, als es mir möglich war, zurückzuzahlen begann, nicht nur mit Geldscheinen, sondern vor allem in Form von Einladungen zu Reisen, Übernachtungen in schönen Hotels, mit Dingen, die für meine Schwester nicht alltäglich waren und mit denen ich ihr eine Freude bereiten konnte.

Annette hat mich gerettet, und sie ist bis heute der selbstloseste Mensch, den ich je kennengelernt habe.

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