Читать книгу Des Orakels Richterspruch - Clemens Anwander - Страница 10
Ausgeritten
ОглавлениеJarihm reichte es nun endgültig. Den ganzen Vormittag über waren sie geritten als wäre der große Verführer leibhaftig hinter ihnen her. Als sie kurz vor Morgengrauen überstürzt aufgebrochen waren, hatte er gedacht, dass sie nach gut zwei Stunden genügend Abstand zwischen sich und die Angreifer gebracht hätten und wollte Sucaría dazu bringen, anzuhalten. Doch als er nach ihr gerufen hatte, hatte er lediglich ein barsches „später“ zu hören bekommen. Also war er weitergeritten. Und das in einem Tempo, dass ihm bereits zu diesem Zeitpunkt alle Glieder geschmerzt hatten. Nach weiteren drei Stunden hatte er es erneut versucht, abermals mit demselben Ergebnis. Mittlerweile war die Sonne bereits auf ihrem höchsten Stand und schien unbarmherzig auf sie herab. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, seine Augenbrauen waren triefend nass und konnten die salzige Flüssigkeit nicht mehr davon abhalten, mit brennendem Schmerz in seine Augen weiterzulaufen. Genervt wischte er sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Der Wind des Rittes war schon lange nicht mehr erfrischend genug, und Jarihm entschied sich Sucaría nun wieder zu rufen.
»Hey, Sucaría, bleib bitte stehen.«
Sein Ruf war wohl zu freundlich ausgefallen, denn prompt bekam er die Rechnung dafür serviert.
»Ich hab gesagt später!«, rief sie unwirsch über den Lärm der donnernden Hufe hinweg. Jarihm war gleichermaßen erschöpft und erzürnt. Sie war es als Schildmaid schließlich gewöhnt, lange Ritte auf Pferden quer durch das gesamte Königreich zu absolvieren. Er hingegen hatte bisher lediglich ganz kurze Ausritte im Trab hinter sich, zumeist zusätzlich noch mit einer Vertreterin des holden Geschlechts vor sich am Sattel. Es war ihm egal, was Sucaría sagte, er benötigte jetzt eine Pause. Und, wenn er an den Angriff von letzter Nacht zurück dachte, vor allem ein paar Antworten.
»Ich bleib jetzt stehen, mit oder ohne dir!« brüllte er in ihre Richtung, verlangsamte seinen Braunen und lenkte ihn in Richtung von ein paar buschigen Laubbäumen, die ihm eine schattige Rast garantieren würden. Sucaría zügelte ihren Schimmel und ließ ihn in seine Richtung traben. Vorläufig zufrieden erreichte er die Bäume und stieg steif aus dem Sattel. All seine Glieder zogen auf Grund der ungewohnten Belastung, doch sein Rücken schmerzte so richtig. Er streckte sich, machte ein Hohlkreuz und anschließend einen Katzenbuckel. Das half. Noch während er das Pferd an einem tiefen hängenden, aber stabilen Ast anleinte, traf auch die Schildmaid neben ihm ein.
»Mit dir ist es schon schwierig«, sagte sie von oben herab. »Zuerst kommen wir nur in diesem Schneckentempo voran und dann willst du auch noch ständig pausieren.«
»Mit mir soll es schwierig sein?«
Jarihm war fassungslos.
»Ich wollte lediglich mit einer hübschen Schildmaid ins Bett - und nicht um mein verdammtes Leben kämpfen! Doch damit nicht genug, nein, ich muss auch noch Hals über Kopf aus der einzigen Heimat fliehen, die ich je gehabt habe. Also wenn hier jemand Ärger bedeutet, dann du.«
Er hatte sich erfolgreich in Rage geredet. Erst jetzt bemerkte er selbst, wie aufgeregt er auf Grund der Vorkommnisse eigentlich war.
»Ich will jetzt augenblicklich ein paar Antworten. Wer waren die Kerle, die uns angegriffen haben? Und was wollten sie von uns?«
Die Tochter des Zujcan-Clans sah ihn kurz eindringlich an, schüttelte dann aber den Kopf.
»Je weniger du weißt, desto besser für dich. Vertrau mir einfach, in Ordnung?«
Um Contenance ringend starrte Jarihm sie an während sie so geschickt von ihrem Pferd sprang, als ob sie nicht gerade etliche Stunden geritten wäre.
»Nichts ist in Ordnung! Ich kenn dich noch nicht einmal einen ganzen Tag lang. Dir vertrauen? Vergiss es! Was… geht… hier… vor?«
Jarihm legte in seinem letzten Satz mehrere minimale Pausen ein, um seinen Worten größere Wirkung zu verleihen, sein Kopf war hochrot geworden. Und dies ganz sicher nicht nur auf Grund des Ritts in der prallen Sonne. Anscheinend war Sucaría den Ärger ihrer Mitmenschen aber gewöhnt, denn sie band ihren Schimmel seelenruhig neben seinem Braunen an, löste die Satteltasche und setzte sich dann in den Schatten. Wortlos griff sie in eben diese und förderte zwei Pallokas ans Tageslicht. Mit einer lässigen Bewegung der linken Hand warf sie eine davon Jarihm zu, der sie perplex auffing.
»Iss sie. Pallokas erfrischen dich durch ihren hohen Flüssigkeitsanteil und geben dir Kraft durch ihr saftiges Fleisch. Und köstlich süß sind sie nebenbei auch noch.«
Noch während sie das sagte, biss sie herzhaft in die ihre. Etwas Saft des Obstes rann über ihre Lippen, ehe sie ihre Zunge darüber gleiten ließ, um ihn aufzufangen. Jarihm nahm die Frucht und donnerte sie wütend auf den Boden. Er war kein kleines Kind, das man mit süßen Speisen besänftigen und verführen konnte. »Ich verlange jetzt eine Antwort, und ich bewege mich kein Stück mehr weg von hier, bis ich sie bekommen habe.«
Sucaría seufzte hörbar auf. Doch sie blieb still, während sie ruhig ihren Imbiss aufaß. Jarihms Wut brodelte auf hohem Niveau, doch offensichtlich hatte sie sich entschlossen ihm nichts zu sagen. Also ließ er sich neben ihr im Gras nieder und blickte stur in die Ferne. Die Minuten vergingen und nichts geschah. Er hasste es, wenn man ihn nicht für voll nahm. Das hatte sein Vater auch getan, als seine Mutter plötzlich krank geworden war. Niemand hatte ihm irgendetwas gesagt. Endlich begann die Schildmaid zu sprechen.
»Sagt dir Zilrags Spielschuppen etwas?«
»Klar«, antwortete Jarihm knapp. Es war ein Haus etwas außerhalb der Stadtmauer Tchiyos, in dem alle möglichen Arten von Glücksspiele gespielt und eigentlich jede Art von Zerstreuung, nach der es einem gelüstete, angeboten wurden. Und das für hohe Summen. Der Besitzer Zilrag war inzwischen ein reicher Mann, aber er war nicht gerade dafür bekannt, nachsichtig mit seinen Schuldnern zu sein. Jarihm konnte sich schon jetzt vorstellen, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde.
»Wie du ja gesehen hast, habe ich eine kleine Leidenschaft für Pajam, und ich halte mich eigentlich auch für eine sehr gute Spielerin. Also dachte ich mir: Warum nicht nebenbei etwas meinen Sold aufbessern?« Die Schildmaid verschränkte die Arme abwehrend vor ihrer Brust und sog hörbar Luft ein.
»Tja, jetzt weiß ich warum nicht… In nur einer Nacht habe ich, nun sagen wir mal so, eine etwas größere Summe verloren.«
Jarihm schlug die Hände vor den Kopf. Wegen so etwas lächerlichem wie ein paar Spielschulden hatte er beinahe sein Leben verloren? Und war einen halben Tag lang wie ein Irrer geritten, so dass ihm jetzt jedes Glied einzeln schmerzte? Doch irgendwie war er auch erleichtert, dass die Schöne nicht in noch größeren Schwierigkeiten steckte, denn diese hier waren leicht zu lösen. Es benötigte lediglich einen kleinen Griff in die Schatztruhen seines Vaters.
»Wie viel ist „eine etwas größere Summe“ genau?«
Die Schildmaid räusperte sich, bevor sie wieder anfing zu sprechen.
»Knapp über 400 Goldstücke.«
Jarihm pfiff durch seine Zähne. Das entsprach wohl in etwa einem Jahreseinkommen der Soldatin. Um innerhalb von nur einer Nacht eine solch hohe Summe zu verlieren, musste sie schon in einem der speziellen Hinterzimmer für besonders gut betuchte Kunden gewesen sein. Und da kam man eigentlich nur rein, wenn Zilrags Buchmacher grünes Licht bezüglich der Zahlungsfähigkeit des Kunden gab. Nun war ihm auch klar, warum die ausgesandten Schuldeneintreiber auch ihm an den Kragen wollten. Sie konnten wohl kaum hoffen, die ganze Summe nur von ihr allein einzutreiben. Da kam wohl jeder recht, der mit ihr verkehrte.
»Wie hast du mit dem einfachen Sold einer Schildmaid da hinein gelangen können?«
Sucaría wirkte verwirrt.
»Durch die Tür, wie sonst?«
Jarihm blickte beleidigt in die Ferne der Ebene. Solch eine flapsige Antwort hatte er sich nun wirklich nicht verdient, schließlich würde er für ihre nicht gerade mageren Spielschulden aufkommen. Aber es war ihm jetzt auch Einerlei, wenn sie es für sich behalten wollte. Wahrscheinlich hatte sie jemanden bestochen und wollte diese Person jetzt nicht ans Messer liefern.
»Gut, behalt es für dich. Aber weißt du was das bedeutet? Wir können in die Stadt zurück. Mein Vater treibt regelmäßig Handel mit Zilrag, daher kennt und respektiert er mich ebenfalls. Ich werde sicherlich mit ihm reden können, sodass er seine Schläger, die er anscheinend auf dich angesetzt hat, zurück beordert. Deine Schulden werde vorläufig ich begleichen. 400 Goldmünzen sind zwar keine Kleinigkeit, aber meiner Meinung nach auch nicht wert, sein Leben zu verlieren.«
Sucaría zog eine Augenbraue empor.
»Dein Vater ist also der Besitzer des Handelsimperiums Los Cuervos, und nicht du. Ich dachte mir schon, dass du dafür eigentlich noch zu jung bist.«
Jarihm wurde zum wiederholten Mal an diesem Tag scharlachrot im Gesicht. Bald hatte er wohl alle verschiedenen Gründe dafür durch – Hitze, Wut, Scham… Wobei in diesem Fall letzterer zutraf. Diese Lüge war nach hinten losgegangen. Er hätte sich nicht so verstellen sollen. Allerdings hatte er auch nicht gedacht, die Schildmaid nach der gestrigen Nacht nochmals wieder zu sehen. Sie konnte sie es sich aber eigentlich sowieso nicht leisten auf ihn sauer zu sein, immerhin wollte sie über 400 Goldstücke von ihm.
»Dein Gold kann ich übrigens nicht annehmen«, warf sie seine Annahme sofort wieder über den Haufen.
»Wir Elitisten und Schildmaiden des Königs haben nicht viel, aber auf unsere Ehre sind wir stolz. Und meine würde mit Füßen getreten, würde ich dir diese Menge an Gold einfach so abnehmen.«
War die Frau denn von allen guten Geistern verlassen? Das konnte wohl nicht ihr Ernst sein. Da waren bereits Männer auf sie, schlimmer noch, sogar auf ihn angesetzt, und sie sorgte sich um ihre Ehre? Dafür war nun wirklich nicht die richtige Zeit. »Sucaría, …«, begann er zu sprechen, doch sie unterbrach ihn forsch.
»Außerdem ist es vollkommen unnötig. Weißt du, warum wir den ganzen weiten Weg aus der Stadt geritten sind? Noch gut eineinhalb Tagesritte von hier entfernt, wohnt eine alte Freundin von mir, welche mir noch horrende Summen an Gold schuldet. Dorthin sind wir beide jetzt unterwegs. Ich werde mir Gold holen, das rechtmäßig mir zusteht und damit meine Schulden begleichen.«
»Doch dafür brauchst du mich doch nicht. Ich könnte mich inzwischen wieder nach Tchiyo zurück begeben.«
»Lieber nicht. Die beiden Söldner haben dich mit mir gesehen und werden zweifelsfrei versuchen mein Geld bei dir einzutreiben, sobald du zurück bist. Nein, das wäre zu gefährlich, und ich könnte deinen Tod nicht verantworten. Ich fürchte, du musst mit mir mitkommen.«
Während sie das sagte, blickte sie ihm tief in die Augen. Er dachte über das in Erfahrung Gebrachte nach. Irgendetwas störte ihn daran, aber er konnte einfach nicht erkennen, was das war. Ihre Argumentation war auf jeden Fall schlüssig, und er konnte sich wahrlich schönere Dinge vorstellen als wieder auf den kleinen, mörderhaften Glatzkopf zu treffen. Außerdem würde ihn in Tchiyo sowieso niemand vermissen. Er würde wohl wirklich mit ihr reiten müssen. Langsam stand er auf und griff sich die Palloka, die er vorhin ins Gras gefeuert hatte. Außer einer leichten Druckstelle inmitten des Oranges der Morgensonne, welche durch den wuchtigen Aufprall entstanden war, war ihr nichts geschehen. Er biss hinein und ein leckerer, saftig süßer Geschmack breitete sich augenblicklich in seinem Mund aus.