Читать книгу Des Orakels Richterspruch - Clemens Anwander - Страница 5
Rosige Aussichten
ОглавлениеDegaar schlenderte durch den Garten, durch den er schon so viele Male seine Schritte gelenkt hatte, doch nach wie vor verwunderte ihn diese Pracht. Er konnte sich nicht satt sehen an den Blumen, Sträuchern und Bäumen, für die er ein Vermögen bezahlt hatte. Er schritt vorbei an den prachtvollen, dottergelben Sonnenblumen, die es sich einfach nicht nehmen ließen, das gesamte Jahr über zu blühen, ließ den jetzt blutroten Ahorn, der im Winter durchsichtig wurde, als ob er aus demselben funkelnden Eis bestünde, das ihn hoch oben in den Yamg Bergen umgab, links liegen und schritt quer durch die Luftspiegelung einer fleischfressenden Pflanze, welche diese von sich selbst produzierte, um mehr Insekten anzulocken. Aus den fernsten Winkeln hatte er diese Wunder besorgen lassen und so manche waren selbst in ihren Herkunftsorten eine solche Rarität, dass man für sie eine Summe bezahlen musste, die eine kleine Familie durch den Winter brachte. Ein letzter Schritt noch durch das fein säuberlich getrimmte Gras und Degaar war angekommen, wo er hingewollt hatte: Er betrachtete die Qaxin-Rosen, die in ihrem gewohnt bestechend schönen Violett erstrahlten. Er schmunzelte. Diese Rosen waren etwas ganz Besonderes, selbst für einen erlesenen Garten wie den diesen. Gerade jetzt, als die letzten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, geschah das Schauspiel, das diese Pflanze so einzigartig machte. Im roten Licht der untergehenden Sonne verwandelte sich die Farbe der Blüten Schritt für Schritt von Violett auf Dunkelrot. So viele Male hatte der König diesem Schauspiel nun schon beigewohnt, doch noch immer zog es ihn in seinen Bann. Darum fand er wahrscheinlich auch Tag für Tag einen mehr oder weniger guten Grund, der sein Gewissen beruhigte, um sich kurz vor Sonnenuntergang von seinen Staatsgeschäften zurückzuziehen und in den Garten zu gehen. Dort verbrachte er dann jene halbe Stunde, welche die Qaxin-Rosen benötigten, um ihre Farbe zu wechseln. Seltsamerweise faszinierte ihn die Rückverwandlung der Pflanze nicht im Geringsten. Er hatte natürlich auch diesem bereits beigewohnt, empfand ihn aber bei weitem nicht so prickelnd wie den Wandel in den Abendstunden. Dies mochte vielleicht auch einfach nur den Grund haben, dass Degaar kein Morgenmensch war, und er sich schlicht und ergreifend nicht schon vor Morgengrauen aus seinem Nachtlager quälen wollte. Vor allem dann nicht, wenn er an Naileen dachte, wie sie verführerisch an seiner Seite den Schlaf der Gerechten schlief. Wie ihr, auf der Seite liegend, das schwarze, seidige Haar sanft über die Schultern hing, sie ihre langen, glatten Beine leicht überkreuzt hatte, und wie sie selbst im Schlaf seine Nähe suchte… Degaar schüttelte sich, um die sich in ihm aufbauende Erregung wieder loszuwerden. Er sollte sich nicht so gehen lassen! Er seufzte leise. Naileen hatte schon immer eine solche Wirkung auf ihn gehabt. Wenn er an sie dachte, war es vorbei mit seinen sonst so geordneten Gedanken. Allerdings wusste er dies glücklicherweise auch selbst und hielt sich in seinen Arbeitsstunden gewöhnlich sowohl geistig als auch körperlich nicht bei ihr auf. Dazu war ja schließlich in den Nächten genügend Zeit. Er realisierte, dass er schon seit einer Weile ins Nichts starrte. Der magische Wandel der Blumen war vollendet, zumindest für diesen Abend. Ursprünglich war diese Pflanze nichts Besonderes für ihn gewesen. Er hatte von einem Händler, der regelmäßig den Palast aufsuchte, von ihr gehört und war neugierig geworden. Mehr als eine bloße Ablenkung und etwas Amüsement hatte er sich aber nicht erwartet. Nicht einmal im Traum hätte er sich gedacht, dass er sich jeden Tag erneut auf den Abstecher in den Palastgarten freuen würde, vor allem weil er ein miserabler Gärtner war. Degaar schmunzelte ob der Erinnerung an seine Jugend. Im Rahmen seiner Erziehung hatte er auch etwas über Pflanzen gelernt. Sein damaliger Hauslehrer, ein Gelehrter namens Koulak, hatte ihm verschiedene Exemplare mitgebracht, um die er sich zu kümmern hatte. Degaar erinnerte sich noch bis heute an das, was ihm sein Lehrmeister damals beigebracht hatte: „Was müsst ihr mit euch bringen, um das Königreich wachsen und gedeihen zu lassen? Ihr benötigt Hingabe, Disziplin und ja, auch die nötigen Materialien, denn ohne die, ist selbst der beste Baumeister hilflos. All dies solltet ihr haben, wenn ihr bei diesen Gewächsen erfolgreich sein wollt.“ Nach lediglich zwei Wochen waren alle eingegangen gewesen. Koulak hatte ihm für jede kaputte Blume fünf Schläge auf den Allerwertesten gegeben, doch auch das hatte nichts gebracht. Sein ganzes Leben lang war keine einzige Pflanze, die er unter seiner Obhut hatte, länger als ein paar Wochen am Leben geblieben. Was auch der Grund war, warum er für die Pflege seines Gartens etliche gut ausgebildete Gärtner hatte. Allerdings war sich Degaar sicher, dass der alte Mann heute stolz auf ihn wäre, wenn er sähe, wie gut es seinem Land derzeit ging. Dieses hatte er als König zum Wachsen gebracht, und aus diesem Blickwinkel heraus betrachtete Degaar mittlerweile auch seine Versuche mit der Botanik als Erfolg. Langsam begann der König wieder in Richtung Palast zu gehen. Sein Tag war noch längst nicht vorbei. Heute stand noch ein Kolloquium mit seinen Fürsten am Plan. Dieses fand einmal im Tertial statt, und es war das wichtigste Treffen der Fürsten Sekoyas. Dort wurde über außenpolitische Themen, wie internationalen Handel oder gar Krieg gesprochen, aber auch innenpolitische Themen wie Wirtschaft, Rechtsprechung und Ähnliches wurden behandelt. Degaar wusste zwar, dass das Kolloquium auch heute noch einen wichtigen Stellenwert einnahm, doch er war einfach nicht mehr zu vergleichen mit dem, den er bei seinem Großvater gehabt hatte. Damals, als die Koalition noch brandneu gewesen war, waren alle Fürsten erpicht darauf gewesen, nicht auch nur einen Funken ihrer Macht einzubüßen. Es war um jedes Thema gefeilscht worden, die schwächeren Fürsten hatten sich gegenüber den Häusern Tchiyo, Silberstein und Roth benachteiligt gefühlt und daher andauernd mit Krieg gedroht, den zwar niemand gewollt, der aber trotzdem immer in der Luft gehangen hatte. Heutzutage nutzten die Adeligen das Zusammentreffen hingegen meist nur noch um miteinander zu scherzen, die Tänzerinnen anzustarren und sich auf Staatskosten den Wanst mit allerlei Köstlichkeiten vollzuschlagen. Und nicht zuletzt um den königlichen Weinkeller gehörig zu plündern. Der Herrscher schüttelte den Kopf. Was war nur aus diesen früher so immens wichtigen Treffen geworden? Allerdings war es ihm, wenn er so recht darüber nachdachte, auf diese Weise um vieles lieber. Und die freundschaftlichen Beziehungen untereinander halfen, größere Dispute schnell und friedlich zu lösen. Degaar betrat den Palast, um seine Fürsten und Freunde zu begrüßen.