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Zwei und Zwei

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Degaar saß steif in seinem Sattel. Beinahe zwei volle Tage war es nun her, seit er übereilt und ganz allein von seinem Schloss aufgebrochen war mit einem äußerst vagen Ziel vor Augen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwartete. Wahrscheinlich gar nichts… Einige Stunden nachdem er seinen Ausritt begonnen hatte, hatte er sich auch schon gewünscht, dies nicht getan zu haben. Oder zumindest am Abend zuvor nicht so tief ins Glas geblickt zu haben. Sein Schädel hatte wie wild gepocht und es war ihm speiübel geworden. Doch er hatte versucht durchzuhalten, indem er sich einfach gezwungen hatte, eine Minute nach der nächsten zu überstehen. Nach einiger Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen war, hatte er zu seiner Linken das kleine Wäldchen Fuotan erblickt. Er hatte sich daran erinnert, wie er mit Naileen dort eine magische Zeit erlebt hatte, aber in diesem Moment hatte ihn nur der eisig kalte, kleine See, der im Schatten der Bäume lag, interessiert. Dorthin hatte er seinen Rappen gelenkt. Steif war er vom Pferd gestiegen, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich seiner Kleidung zu entledigen und war in den kristallklaren See gestiegen. Das kalte Nass war im ersten Moment wie ein Schock gewesen, die eisige Kälte hatte ihn augenblicklich frieren lassen, doch die Prozedur hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Er hatte gespürt, wie die Kopfschmerzen nachgelassen hatten und wie die Übelkeit verflogen war. Er hatte noch einige Schluck des köstlichen Wassers zu sich genommen, hatte sich eben dieses aus seinen kurzen, blonden Haaren gestrichen und war eilends, aber vollkommen revitalisiert, wieder auf sein Reittier gestiegen. Das ihn fortan gefröstelt hatte, war ihm willkommen gewesen, da es sein Unwohlsein erfolgreich unterdrückt hatte. Stundenlang war er weiter geritten, bis ihn die Dunkelheit dazu gezwungen hatte, ein Nachtlager aufzuschlagen. Er war in einen unruhigen Schlaf gefallen und schon vor der Morgendämmerung wieder wach gewesen, geweckt von schrecklichen Träumen, in denen Naileen vom Tod persönlich aufgesucht worden war, während er nur machtlos daneben stehen hatte können. Das zu verhindern, hatte er sich in diesem Moment geschworen. Sein irres Vorhaben, quer durch die Einöde zu reiten, um einem Ammenmärchen nachzujagen, hatte sich in diesem Moment ein klein bisschen weniger verrückt angefühlt. Sein Gesäß hatte zwar höllisch geschmerzt vom Ritt des letzten Tages, war er doch kein Jüngling mehr wie einst, doch der König hatte sich gezwungen, sich erneut in den Sattel zu setzen. Er hatte seinen Ritt fortgeführt und stur sein Tier weitergetrieben. Pausiert hatte er lediglich kurz, um den natürlichen Körperfunktionen seines Körpers Genüge zu tun. Am Nachmittag, der Zeitpunkt, an dem die Sonne am höchsten stand, war schon lange überschritten, hatte er ihn dann ausgemacht. Zuerst nur als fernen, grünen Strich in der Landschaft, doch als er näher gekommen war, hatte er realisiert, was für ein gigantisches Gewächs sich da vor ihm aufgetan hatte. Nun endlich stand er vor ihm, vor einen Baum, der größer wohl kaum hätte sein können, und der dabei noch so erhaben und prachtvoll aussah, als wäre er der König des Landes, und nicht Degaar. Der Herrscher Sekoyas fragte sich, wie viele Generationen er wohl gebraucht hatte, um diese immense Höhe zu erreichen. Und es war nicht nur die Höhe, die diesen Baum so majestätisch machte. Der Stamm war so dick, dass Degaar eine beachtliche Zeit benötigte, um ihn zu umrunden und die Äste, die erst in einiger Höhe zu wachsen begannen, selbst so mächtig, dass sie anderswo zu den größten Pflanzen der Umgebung gezählt hätten. Und die Krone konnte Degaar gar nicht erst erblicken. Er war fürwahr ein imposanter Anblick, Degaar stand zunächst einfach ein paar Minuten da und war überwältigt von ihm. Aber es war nicht der Baum gewesen, weswegen er diese Reise auf sich genommen hatte. Bilder Naileens schossen ihm durch den Kopf, wie sie schwitzend und ohne Bewusstsein vor sich hin dämmerte. Sofort spürte er wieder den Kloß in seinem Hals, den er einfach nicht zum Verschwinden bringen konnte. Begleitet wurde dieser von nagenden Schuldgefühlen, die er, obwohl sein Kopf ihm sagte, dass es Unsinn war, einfach nicht loswurde. Sein Herz wollte seinem Hirn einfach nicht zustimmen. Er musste sich beeilen, wenn er Naileen noch helfen wollte! Was hatte Toycan genau gesagt? Im Schatten des Baumes soll die Zukunft vorausgesagt werden? Der König band sein Pferd fest und begann mit der Suche. Er zirkelte um seinen Startpunkt in immer größer werdenden Kreisen, stieg über knorrige Wurzeln, welche durch die Erddecke brachen, und lugte unter Sträucher. Mittlerweile war er bereits ein ordentliches Stück vom Stamm entfernt. Doch was war das? Tatsächlich genau in dem Schatten, den der gigantische Baum im Lichte der Abendsonne warf, lag es verborgen. Ein Erdloch, nein, schon eher eine Höhle, verschluckte gierig die rötlichen Lichtstrahlen der untergehenden Sonne. Eine Öffnung im Boden, durch die selbst ein ausgewachsener Bär gepasst hätte. Der König blickte sich um. Weit und breit war sonst nichts. War tatsächlich dieses wenig eindrucksvolle Loch gemeint? Vorsichtig warf Degaar einen Blick hinein, und stellte verwundert fest, dass die unterirdische Öffnung sich nach dem Einstieg nochmals stark verbreiterte. Er nahm eine Fackel aus seinem Gepäck, übergoss den vorderen Teil mit Petroleum und versuchte diesen mit Hilfe zweier Feuersteine, die er ungeschickt aneinander schlug, zu entzünden. Früher hatte er dies besser gekonnt. Wie lange war es her, seit er selbst Feuer gemacht hatte? 15 Jahre? 20? Er wusste es nicht mehr. Trotzdem gelang es ihm jetzt endlich die Fackel zum Brennen zu bringen. Erleichtert seufzte er auf. Vorsichtig stieg er in die Öffnung, langsam einen Fuß vor den anderen setzend, seinen Blick fest auf den steil abfallenden Untergrund gerichtet, um auf der losen Erde nicht auszurutschen. Erst als es wieder ebenerdig wurde, erhob er seinen Kopf. Verwundert stellte er fest, dass er in einem so breiten Gang stand, dass er kurz dachte, der Rauch seiner Fackel ließe ihn halluzinieren. Es war so viel Platz vorhanden, dass hier sogar eine Kutsche fahren würden können. Degaar war sich nicht sicher, ob die Höhle von Menschenhand erbaut worden war, oder ob sie einen natürlichen Ursprung hatte. Die Wurzeln, die hie und da durchbrachen und die Tatsache, dass er keinerlei Bauspuren erkennen konnte, ließen ihn auf letzteres schließen. Dem rationalen Teil seines Verstandes fiel es allerdings schwer zu glauben, dass etwas Derartiges natürlich entstanden sein sollte. Der König lenkte seine Schritte weiter und weiter in den unterirdischen, leicht abschüssigen Gang. Das Loch, durch das vorhin noch schwach rötliches Licht gefallen war, konnte er schon nicht mehr erblicken. Tiefer und tiefer führten ihn seine Schritte in das Erdreich, bis der Weg unvermittelt in eine große Höhle mündete. Wurzelfäden hingen von der Decke bis zum Grund, von oben herab hingen tropfende Stalaktiten, empor wuchsen eindrucksvolle Stalagmiten und zwischen all diesen Wundern der Natur stand eine hübsche, vollkommen in Weiß gehüllte Frau mit glattem, goldenem Haar. Erneut traute der König seinen Sinnen nicht. Zu bizarr wirkte diese Dame, die alterstechnisch wohl gegen Ende ihrer dritten Dekade war, in Mitten dieser unterirdischen Höhle. Und wie sie gekleidet war! Erst auf den zweiten Blick erkannte der Herrscher, dass das weiße Gewand eigentlich keines war, sondern nur eine Vielzahl von weißen, drei Finger breiten Streifen, die sich der Frau quer über die Vorderseite ihres Körper legten und sogar noch um einiges darüber hinaus standen. Es war ihm ein Rätsel, wie diese an ihrem Körper hielten. Er sah keinerlei Halterungen oder Befestigungen. Vielmehr wirkte es so, als würde ein konstanter Wind sie an ihren Körper pressen, doch nicht das kleinste Lüftchen blies in der Grotte. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass ihre Rückseite wohl vollkommen nackt war. Die ganze Erscheinung hatte etwas Beunruhigendes an sich, so dass Degaar unweigerlich einen Schritt nach hinten tat und dabei beinahe ausrutschte. Mit einem schnellen Ausgleichsschritt konnte er gerade noch verhindern, dass er sich den Höhlenboden von der Nähe ansehen konnte.

»Du willst doch nicht schon wieder gehen, Tchiyo Degaar, Herrscher über Sekoya, wo du doch gerade erst angekommen bist?«

Ein geheimnisvolles Lächeln spiegelte sich im dem Antlitz der Frau wieder. Ihr Mangel an Respekt erzürnte Degaar etwas, da sie ihn unerlaubterweise einfach duzte – ein Privileg, das nicht viele Menschen besaßen. Allerdings spürte der König Hoffnung in sich aufkeimen. Die Unbekannte wusste, wer er war! Und das, ohne dass er sich vorgestellt hatte. Waren die Geschichten, die sich um diesen Ort rankten, vielleicht doch nicht nur Ammenmärchen, die sich angetrunkene Städter erzählten, um sich gegenseitig angstvolle Schauer über den Rücken zu jagen? Er bemühte sich um einen sicheren Stand, um nicht wieder zu straucheln, bevor er seinen Mund öffnete, um zu antworten.

»Woher wisst ihr, wer ich bin?«

Er schollt sich einen Narren, dass dies das Einzige war, was ihm einfiel.

»Ich bitte dich, jedes Kind des Königreiches, das einmal eine Silbermünze in der Hand hatte, kennt dein Gesicht Degaar.«

Dabei hielt sie feixend eine Münze zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand. Degaars eigenes Gesicht lachte ihm entgegen. Innerlich grämte er sich sehr, nicht an diese logische Antwort gedacht zu haben, wurden doch seit seinem Regierungsantritt alle neuen Münzen mit seinem Gesicht gepresst. Er war einfach zu sehr in Versuchung gewesen, an das Übernatürliche zu glauben. Aber noch einmal würde ihm das nicht passieren.

»Aber natürlich meine Dame, daran hätte ich denken müssen. Nun, ihr habt mir gegenüber einen Vorsprung, da ihr meinen Namen wisst. Es wäre mir also eine Freude, den ihren zu erfahren. Außerdem wäre es für mich von Interesse, was ihr in dieser Höhle hier treibt?«

Die Frau mochte zwar keinerlei Manieren an den Tag legen, doch er würde sich deswegen die seinen nicht nehmen lassen. Degaar beobachtete gespannt, wie die mysteriöse Frau leicht grinste, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.

»Mein Name… ist ohne Belang. Und es wäre wohl um vieles interessanter zu erfahren, was der König von ganz Sekoya in einem Erdloch mitten im Nirgendwo zu suchen hat, vollkommen alleine und ohne seiner üblichen Leibwache, als über das Schicksal einer einsamen Jungfer zu sprechen.«

Degaar runzelte seine Stirn. Irgendetwas stimmte hier ganz sicher nicht. Nicht nur wollte die Fremde ihm ihren Namen nicht verraten, sie umging auch noch die Beantwortung seiner Fragen, was für ihn Neuland war. Er war schließlich der König, auf seine Fragen hatte jedermann zu antworten. Doch er würde schon noch herausfinden, was er wollte. Es ging vorläufig nur darum, sich nicht dumm anzustellen, und von sich selbst nicht mehr preiszugeben, als nötig.

»Nun, Madame, wie ihr schon richtig festgestellt habt, bin ich der König und somit im Besitz all dieser Ländereien. Ich kann also hingehen, wohin ich möchte, und heute hat mich mein Weg zufällig hierher verschlagen. Ein…«, Degaar suchte nach dem passenden Wort, »…einzigartiges Heim habt ihr hier.«

Mit diesem Worten begann er in der Höhle umherzustreifen und offenkundig die Wände zu bestaunen, auch wenn er dabei die Augen nicht eine Sekunde von der rätselhaften Frau nahm. Seltsamerweise schienen die weißen Streifen, die sich an ihren Körper schmiegten, mit seinem Blick mitzuwandern, so dass sie allzeit die prekären Stellen von seinen neugierigen Blicken abschirmten.

»Nicht wahr? Ich habe hart gearbeitet, um es so wohnlich zu machen.«

Offensichtlich hatte die Fremde ihren Spaß daran, diese fruchtlose Unterhaltung weiterzuführen.

»Ach wirklich?«, erwiderte Degaar und zog dabei eine Augenbraue in die Höhe. »Dabei kann ich nichts entdecken, das auf ihre Betätigung hinweist.«

»Dann solltet du deine royalen Augen aufmachen. Direkt hinter dir steht er doch, mein Schrein.«

Degaar wandte sich um, und da stand ein aus Stein gehauenes, viereckiges Podest, das ihm etwa bis zum Bauchnabel ging. An den Seiten eingemeißelt waren detailreiche Verzierungen, die in erster Linie Bäume, aber auch Wurzeln, Blätter und andere natürliche Motive zeigten und die auf eine hohe Kunstfertigkeit des Künstlers schließen ließen. Das Unheimliche daran war, dass Degaar genau an dieser Stelle eben vorbei marschiert war, und er hätte schwören können, dass da noch nichts gestanden hatte. Obenauf befand sich ein steinerner Ring mit einem Durchmesser von einer Handlänge, welcher Degaar an die Kommode erinnerte, auf der er abends immer seine königlichen Insignien ablegte.

»Tatsächlich, der muss mir im schwachen Schein meiner Fackel wohl entgangen sein. Ein sehr schönes Stück, wenn ich das bemerken darf.«

Dabei schwang er seinen Lichtspender so, dass er die Fremde wieder gut betrachten konnte.

»Du solltest die Fackel wohl eher in Richtung des Bodens, und weniger mir ins Gesicht halten, ansonsten stolperst du in deiner königlichen Tölpelhaftigkeit noch über deine eigenen Füße. So wie es dir vorhin beinahe passiert wäre.«

Diesen Ton schlug ihm gegenüber sonst niemand an, und er musste sich beherrschen, um seine Contenance nicht zu verlieren. Immerhin wusste er jetzt, dass die Unheimliche einen scharfen Blick hatte, war ihr doch weder sein kleiner Fehltritt von vorhin, noch die Tatsache, dass er seine Augen nicht von ihr nahm, verborgen geblieben. Er wandte sich von dem Schrein ab und beendete seinen Rundgang durch die Höhle. Sie war sogar noch größer gewesen, als er es am Anfang gedachte hatte, aber außer der Frau, einigen Wohnutensilien und dem steinernen Sockel befand sich nichts von Belang darin. Außerdem gab es nur den einen Durchgang, durch den er gekommen war. Auf diese Weise hatte das Ganze keinen Sinn mehr. Die Höhle war leer und die Frau wirkte entschlossen, von sich aus nichts zu erzählen. Der Ritt hierher wäre verschwendete Zeit gewesen, wenn er jetzt nicht mit offenen Karten zu spielen begann. Seine Gedanken wanderten erneut zurück zu Naileen, seine Augen wurden davon wässrig. Er war sich schon immer bewusst gewesen, wie abgöttisch er seine Frau liebte, doch dieser Schmerz des Machtlosseins gegenüber ihrer Krankheit, war beinahe zu viel für ihn. Er hatte keine Lust mehr auf die stupiden Spielchen mit der seltsamen Dame in der Höhle.

»Also gut, ihr wolltet wissen, was ich hier tue. Man sagte mir, dass man hier im Schatten des mächtigen Baumes seine Zukunft erfahren kann. Deswegen bin ich hier.«

Die Frau sah ihn nachdenklich an, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.

»Und ich dachte, du wärst hier, um zu erfahren, wie du deine Frau retten kannst. Mein Fehler.«

Degaar schluckte. Er hatte nichts von Naileen gesagt, und dieses Mal war es nicht so einfach, an diese Information zu gelangen wie vorhin, als ein Blick auf eine Münze gereicht hatte.

»Bitte, wenn ihr helfen könnt, müsst ihr es einfach tun.« Die weiße Dame lachte auf.

»Der König von Sekoya bittet mich um seine Hilfe. Obwohl ich wusste, dass es so kommen würde, ist es doch eine sehr interessante Erfahrung. Also gut, da kann ich ja wohl nicht anders.«

Mit einer ausschweifenden Bewegung fuhr sie sich mit ihrer rechten Hand durch ihre goldene Haarpracht.

»Normalerweise würde ich ja eine Warnung aussprechen, dass ein Blick in die Zukunft manchmal mehr Unglück herauf beschwört, als er einem weiterhilft. Aber in diesem Fall verzichte ich darauf. Es ist dein Schicksal, meine Worte zu vernehmen. Und auch das meine, diese auszusprechen.«

Die Frau seufzte tief, und Degaar meinte, so etwas wie Traurigkeit in ihrer Stimme zu vernehmen.

»Meine Dienste sind aber nicht vollkommen umsonst.«

»Ich bin zwei Tage beinahe ohne Unterlass hierher geritten, meine Frau ist das Wichtigste auf der Welt für mich. Nennt mir den Preis, und ich werde ihn bezahlen.«

Degaar war fest entschlossen, er würde diese Höhle nicht ohne eine Weissagung verlassen.

»Gold hat für mich keinen Wert, mein lieber Degaar. Glücklicherweise bist du aber trotzdem im Stande, mich zu bezahlen. Zweierlei verlange ich von dir. Einerseits den königlichen Siegelring.«

Er warf seinen Blick auf den Ring, den er seit seiner Inthronisierung am linken Ringfinger trug. Wann immer er ein königliches Dokument verfasste, setzte er damit neben seine Unterschrift auch einen Abdruck in heißem Wachs. Er war ein Zeichen der Macht und befand sich im Besitz seiner Familie seit sein Großvater, Tchiyo Xardics, ihn als Zeichen der Führung der neu entstanden Koalition der acht Stadtstaaten schmieden hatte lassen. Konnte er es sich leisten, dieses wichtige Stück abzugeben? Doch welche Wahl hatte er schon? Naileens Leben stand auf dem Spiel. Er streifte sich resignierend mit der rechten Hand das Schmuckstück vom Finger.

»Leg ihn einfach auf meinen Altar.«

Degaar tat, wie ihm geheißen, und der Ring landete mit einem leisen Klimpern auf der steinernen Ablage.

»Gut, kommen wir nun zum zweiten Teil meines Lohnes.«

Degaar hörte ein klapperndes Geräusch, das offensichtlich vom Steinsockel kam, und der Siegelring war verschwunden. Der König vermutete eine Klappe, durch die seine Bezahlung ins Innere des Sockels gefallen war. Daraus schloss er, dass schon so manch eine Person ihre Wertsachen nach der Weissagung einfach wieder mitnehmen hatten wollen, und dass diese Vorrichtung eben dies wirkungsvoll verhinderte. Er musste schmunzeln. Anscheinend waren auch Hellseher nicht vor der Niedertracht so manch eines Menschen gefeit.

»Du musst etwas für mich tun, wenn du wieder im Schloss angekommen bist. Ich verlange von dir, dass du dich um deine Erbfolge kümmerst. Ich schreibe dir nicht einmal vor, wie diese auszusehen hat, sondern lediglich, dass du sie regeln sollst. Innerhalb einer Woche vom heutigen Tage an. Das sollte dafür leicht ausreichen.«

Degaar dachte kurz darüber nach.

»Was haben sie davon, wenn ich einen Erben festlege?«

Die Frau hob entwaffnend ihre Arme.

»Darf eine ehrenhafte Bürgerin Sekoyas sich nicht um den Fortbestand ihres geliebten Landes sorgen?«

Degaar beschloss, nicht weiter nachzuhacken. Im Vergleich zu dem Siegelring, den er vorhin abgegeben hatte, war diese Forderung geradezu lachhaft leicht zu erfüllen. Es war ganz klar, was passieren würde. Er würde Sekoya so lange regieren wie er konnte, und danach würde das Königreich an sein und Naileens noch ungeborenes Kind gehen. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit, bis sie schwanger wurde. Und sollte es zum Äußersten kommen, und sie blieben wirklich kinderlos, was er sich eigentlich nicht vorstellen konnte, würde das Königreich an Naileen fallen. Sie war um zwei Jahrzehnte jünger als er und bildhübsch. Ein neuer König wäre sicherlich schnell gefunden. Es konnte nicht schaden, diese Gedanken auch niederzuschreiben.

»Habe ich dein Ehrenwort, dass du diese Forderung erfüllen wirst?«, wollte die Hellseherin wissen.

»Ich, Tchiyo Degaar, Herrscher über Sekoya, schwöre hiermit innerhalb einer Woche ein Testament zu verfassen.«

»So sei es! Also dann Degaar, ich weiß zwar bereits, wie deine Frage lauten wird, doch sprich sie trotz allem nun aus.«

»Meine Frau, Naileen, leidet an einer schrecklichen Krankheit. Ich möchte wissen, was ich tun kann, um sie vor dem Tod zu bewahren.«

Die mysteriöse Frau in Weiß schloss für kurze Zeit die Augen und begann dann zu sprechen.

»Wie mein Lohn besteht auch deine Frage, ohne dass dir das bewusst ist, aus zwei Teilen. Bezüglich der Krankheit kann ich nur folgendes sagen: Du kannst nichts tun!«

Wut stieg in Degaar empor! Nichts tun?! Wenn er das gewollt hätte, hätte er auch gleich im Schloss bleiben können. Diese verdammte Frau hatte ihm zwei Forderungen abgerungen für die Information, dass er unfähig war, das Leben seiner Frau zu retten? Er kochte förmlich über, so verärgert war er über diese Aussage. Ohne zu denken trat er auf die Frau zu, die Fäuste geballt. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, das wusste er selbst. Der Ärger hatte seine Fesseln der Zurückhaltung gesprengt. Er holte zu einem Schlag aus, als die Wahrsagerin davon unbeeindruckt weitersprach.

»Sei unbesorgt. Naileen hat überlebt und ist inzwischen schon wieder bei Sinnen. Zwar wird sie Zeit ihres restlichen Lebens immer wieder Schwächeanfälle haben, doch diese Krankheit wird ihr nicht den Tod bringen.«

Degaar fühlte, wie ihm die Knie weich wurden, wegsackten, und er zu Boden ging. Er warf seinen Kopf in den Nacken und blickte zur Höhlendecke empor. Konnte das wahr sein? Würde sich Naileen auch ohne übernatürliche Hilfe von ganz alleine wieder erholen? Sollte dies wirklich der Fall sein, wäre er der glücklichste Mann er Welt! Die Frau in Weiß hatte kurz gestoppt mit ihrer Ausführung, wohl um ihm etwas Zeit zu geben, um aufzunehmen, was sie eben gesagt hatte, sprach aber nun weiter.

»Du solltest dir aber darüber im Klaren sein, dass sie, jedes Mal wenn sie sich dir hingibt, ein klein wenig schwächer wird, und ihr Ende damit etwas näher rückt. Der zweite Teil deiner Frage dreht sich schlussendlich darum, wie du deine Frau vor dem Tod bewahren kannst. Dies ist unmöglich. Der Tod ist eine Unausweichlichkeit in unser aller Leben, man kann ihn nicht überlisten. Jede Person, ob Mann oder Frau, reich oder arm, mächtig oder ohne Möglichkeiten, erliegt ihm gleichermaßen. Nicht einmal Orakel wie ich sind in der Lage, ihm auf ewig auszuweichen, auch wenn uns normalerweise ein langes Leben beschert ist.« Sie verzog ihren Mund zu einem schwer zu deutenden Grinsen. War dies Sarkasmus, den Degaar da zu erkennen glaubte? Oder gar Resignation? Wie sie das Wort „normalerweise“ betont hatte, ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen.

»Naileens Untergang wird eines Tages durch das Wasser erfolgen, ob du das nun willst, oder nicht.«

Die Hellseherin räusperte sich.

»Geh nun, König von Sekoya, reite heim zu deiner dich liebenden Frau. Sie erwartet dich bereits sehnsüchtig. Genießt die schöne Zeit, die euch noch zusammen verbleibt, sie wird wahrlich nicht ewig währen. Und vergiss nicht, das Versprechen einzulösen, dass du mir gegeben hast!«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab, und schritt in den hinteren Teil der Höhle. Degaar hatte genug gehört. Auch wenn er nicht wusste, was er von diesem Orakelspruch halten sollte, so hatte er durch ihn doch neue Hoffnung geschöpft. Inbrünstig hoffte er, dass es keine falsche Hoffnung war! Er rappelte sich auf, schnappte seine wenigen Habseligkeiten und eilte Richtung Höhlenausgang. Er warf seine Fackel weg und stieg aus dem Erdloch empor. Draußen stand bereits der große, prächtige Vollmond am Himmel, der gerade so viel Licht spendete, dass Degaar es wagen konnte, schon jetzt den Heimritt anzutreten. Er ignorierte das eng umschlungene junge Pärchen vollkommen, das an ihm vorbei zu eben jener Höhle ging, die er gerade verlassen hatte. Er schwang sich auf seinen Rappen und gab ihm die Sporen.

Des Orakels Richterspruch

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