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Perspektive

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Sucaría atmete auf. Die verdammte Wunde schmerzte einfach unentwegt, ihre stechende Qual wollte einfach nicht nachlassen. Endlich tauchte am Horizont der riesige Baum auf, von dem sie wusste, dass es ihr Ziel war. Nach dem nächtlichen Angriff hatten sie sich sofort wieder auf den Weg gemacht. Schließlich konnten sie nicht sicher sein, ob es nicht vielleicht noch andere auf ihr Leben abgesehen hatten. Die Nationalität des Angreifers hatte ihr ihre letzten Zweifel auch noch genommen. Nun war sie sicher, dass es kommen würde, wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte, wenn sie der Frau in Weiß nicht aufs Wort folgen würde. Und bisher hatte sie genau dies getan, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum sie Jarihm mitbringen sollte. Der größte Schwertkämpfer war er nicht, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass er das Herz eines wahren Kriegers besaß. Wenn er sich in der Nacht nicht voller Inbrunst in den Kampf gestürzt hätte, wäre es wohl um sie geschehen gewesen. Sucarías Herz klopfte etwas schneller, als sie daran dachte. Dass die Erinnerung an den Attentatsversuch sie so aufregte, verwunderte sie. Jarihm hatte sie überrascht, denn vollkommen unfähig war er anscheinend nicht an der Waffe. Immerhin hatte er ein paar beeindruckende Verteidigungsmanöver gezeigt, als sie sich dem Angreifer von hinten genähert hatte, um ihm in den Rücken zu fallen. Auch wenn seine Angriffe geradezu lachhaft waren. Jarihm war ihr inzwischen wirklich sympathisch. Wenn sie ihn unter anderen Umständen kennengelernt hätte, wäre eventuell eine richtig gute Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Würde er vielleicht gar nicht so verärgert sein, wenn er die Wahrheit erfuhr? Sie hoffte wirklich darauf, auch wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass es wohl anders kommen würde. Sie zumindest wäre wohl erbost, wenn sie an seiner Stelle stünde. Ein Seufzen entwich ihr. Die Sonne war bereits unter gegangen und der Baum immer noch ein gutes Stück von ihnen entfernt. Sie fluchte innerlich. Wenn sie nur nicht öfters anhalten und ihre Wunde versorgen hätte müssen. Dazu kam noch das niedrige Tempo, welches sie anschlagen hatten müssen, da der Galopp ihr doch größere Schmerzen bereitete, als sie zugeben mochte. Obwohl es viel schlimmer hätte kommen können. Wieder wanderten ihre Gedanken zurück in die letzte Nacht. Ihr war bewusst, dass sie unheimliches Glück gehabt hatte. Als Jarihms Ruf sie geweckt hatte, war es nämlich bereits zu spät gewesen. Sie hatte nur noch einen Dolch auf sich herabfahren sehen. Die Zeit war einfach zu kurz gewesen, um zu reagieren. Doch wundersamerweise hatte dieser genau auf das Schwert getroffen, das sie sich vor dem Schlafen, aus Angst vor Dieben, auf den Körper gelegt hatte. Die mittige, längsseitige Rille hatte den Dolch abgefangen und verhindert, dass dieser abrutschte und trotzdem in sie fuhr. Sie lächelte schwach. Es war verdammt noch mal auch an der Zeit gewesen, dass ihr etwas Gutes widerfuhr. Was für ein Zufall, dass ihr Jarihm von dem exorbitant hohen Preis der Schwerter erzählt und ihr dadurch, ohne es zu wissen, das Leben gerettet hatte. Nach dem parierten Dolchstoß waren ihre in unzähligen Trainingseinheiten mühsam eintrainierten Reflexe angesprungen, und sie hatte zu kämpfen begonnen. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder der letzten Nacht zu vertreiben. Kurz linste sie zur Seite, um sich zu vergewissern, dass Jarihm immer noch neben ihr ritt. Er realisierte, dass ihr Blick auf ihm lag und erwiderte ihn. Für einen Moment sahen sie einander tief in die Augen, und Sucaría war es so, als ob sich die Luft zwischen ihnen elektrisch aufladen würde. Schnell brach sie den Blickkontakt wieder ab, bevor er sehen konnte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Jetzt starrte sie stur den Baum an und vertrieb den Anflug von Traurigkeit. Nach einiger Zeit waren sie endlich dort angekommen. Sucaría staunte. Er war wirklich haargenau so, wie sie ihn in ihrem Traum gesehen hatte. Auch Jarihm hatte den Kopf zu dem majestätischen Baum gehoben. Doch Sucaría ließ ihm keine Zeit, sie lenkte ihren Schimmel in die Richtung in der sie wusste, dass die Höhle lag. Folgsam ritt ihr Jarihm nach, seinen Blick aber immer noch auf den immensen Laubbaum gerichtet. Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel. Sie waren spät dran, die Anweisung der Frau in Weiß war klar gewesen. Zwei Tage hatte sie seit dem erstmaligen Zusammentreffen mit Jarihm Zeit, um zu ihr zu gelangen. Dieses Limit würde sie geradeso einhalten können. Etwas vor ihr befand sich der Eingang zur Höhle und sie schwang sich aus dem Sattel. Augenblicklich emittierten Schmerzen aus der Wunde oberhalb ihres Herzens, und sie musste kurz um ihr Bewusstsein kämpfen. Verdammt, es hatte sie vielleicht doch schlimmer erwischt, als sie vermutet hatte. Jarihm tauchte neben ihr auf, stützte sie ungefragt und schaute ihr ins Gesicht. Normalerweise hätte sie ob des Körperkontakts protestiert, doch in diesem Fall würde sie eine Ausnahme machen. Ihr war lieber, ihr würde übel werden, als dass sie vor ihm zusammenbrach.

»Du siehst so blass aus, wie der Tod selbst. Du musst dich unbedingt ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Verdammt, die Wunde hat sogar wieder angefangen zu bluten.«

Er machte ein besorgtes Gesicht. Die Schildmaid blickte an sich hinab, er hatte Recht. Die Bandagen waren in einem satten Rot gefärbt.

»Keine Zeit, wir sind hier.«

»Endlich. Vielleicht wird dir deine Freundin helfen können. Eine warme Mahlzeit, eine sichere Rast und ausreichend Schlaf werden dir gut tun. Schon bald bist du wieder vollkommen bei Kräften, du wirst schon sehen.«

Sie nickte lediglich. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm zu sagen, dass sie die Frau, die er für ihre Freundin hielt, im wachen Zustand noch nie gesehen hatte. Sie gingen in Richtung der Höhle, ohne dass Jarihm von ihr abgelassen hätte. Die Tochter des Zujcan-Clans ließ es geschehen. Trotz zweier Tage schweißtreibender Reise und des Fehlens jeglicher Möglichkeit sich gründlich zu waschen, roch der junge Mann überraschend gut, für ihre Nase zumindest. Abgesehen von der verdammten Übelkeit, die sich bereits wieder in ihr breit machte, war seine Berührung gar nicht mal unangenehm. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Höhleneingang, aus dem just in diesem Moment ein wohl gekleideter Mann mittleren Alters stieg. Er wirkte abgekämpft, müde und hatte sich offensichtlich seit Tagen seinen Bart nicht mehr geschoren, doch seine Augen funkelten voller Zuversicht. Er warf einen kurzen Blick auf sie, doch strebte dann eilends an ihnen vorbei. Irgendwoher kannte sie diesen Mann. Er hatte etwas Bekanntes an sich und die Art und Weise, wie er seine Schritte lenkte, erinnerte sie sogar etwas an sich selbst. Ob der Mann wohl auch in der Armee war? Zumindest sein Auftreten wirkte als ob. Sie erreichten den Zugang und begannen hinabzusteigen. Hinter sich vernahm die Schildmaid, wie einem Pferd die Sporen gegeben wurden. Anscheinend hatte der Kerl es eilig. Am Boden lag eine brennende Fackel, welche sie dankbar aufhob. Vor ihr tat sich ein breiter Gang auf, und sie schritt diesen hinab. Hinter sich hörte sie Jarihms Stimme.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Ich kann mir kaum vorstellen, dass in so einem Erdloch jemand lebt.«

»Wir sind ganz sicher richtig.« ,erwiderte sie trocken. Zumindest hoffte sie das. Der Gang ging ganz schön tief unter die Erde. Sie mochte das Gefühl nicht, dass sich über ihr so viel Erde befand, dass sie ohne Problem lebendig darunter begraben werden könnte. Plötzlich mündete der Gang in eine große Höhle, aus deren hinterem Teil eine Stimme erschallte.

»Sucaría, Jarihm, gut, dass ihr hier seid. Und das noch dazu genau zur richtigen Zeit. Setzt euch, ich bin gleich bei euch.«

Jarihm blickte die Schildmaid mit großen Augen an.

»Wir werden erwartet? Und woher kennt sie meinen Namen? Sie kennt mich doch gar nicht. Und du konntest ihr auch nichts von mir erzählen, nachdem ich für dich vor zwei Tagen ebenfalls noch ein Unbekannter war.«

Sucaría verfluchte den scharfen Verstand des zukünftigen Erbens des Handelsimperiums Los Cuervos. Sie entschloss sich einfach nichts zu sagen und setzte sich auf einen der beiden einfachen Holzstühle, die links von ihr standen. Jarihm hingegen begann neugierig in die Höhle hineinzugehen. Plötzlich tauchte unmittelbar vor ihm eine weiß gekleidete Frau auf. Erschrocken wich er einen Schritt zurück. Sucaría erkannte in ihr die Dame, die ihr auch schon im Traum erschienen war. Sie war barfuß, hatte schulterlanges, blondes Haar, und ihr ganzer Körper war mit schneeweißen Stoffbändern bedeckt. Durch diese hindurch zeichneten sich klare, weibliche Züge ab. Ihr schmales Antlitz mit zierlichen Lippen, die sich gerade öffneten, musterte sie aufmerksam.

»Hat dir noch nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist, ungefragt die Wohnung eines anderen zu erkunden, Jarihm?« Neugierig musterte er sie, was ihr nicht entging.

»Und Frauen derart anzustarren ist auch nicht gerade eine Zier bei einem Mann.«

Perplex senkte er sein Haupt und stieß ein eiliges »Verzeiht mir« hervor. Die Frau begann wieder zu sprechen.

»Setz dich neben Sucaría, während ich mich um ihre Wunde kümmere.«

»Woher wisst ihr…«, begann dieser, doch sie unterbrach ihn sofort.

»Ich weiß so einiges.«

Dabei vollführte sie mit einer Hand eine Bewegung, die so aussah, als wollte sie ein kleines Tier verscheuchen – wohl, um ihm zu verstehen zu geben, ruhig zu sein - während sie in der anderen eine mittelgroße Tasche trug. Jarihm ging vor ihr her und setzte sich artig neben die Schildmaid, während die mysteriöse Frau vor ihr stehen blieb. Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie den Verband und beäugte die Wunde.

»Genau wie ich es vorhergesehen habe. Dann habt ihr den Attentäter erwischt?«

Sucaría nickte perplex. Sie hatte bereits etwas von der Macht der Unbekannten zu spüren bekommen, aber das machte ihr Wissen nicht weniger unheimlich. Die Frau blickte sie erleichtert an und holte ein kleines Fläschchen aus der Tasche hervor.

»Trink das. Es wird dir neue Kräfte verleihen.«

Sie hielt es der Schildmaid entgegen. Ohne den geringsten Zweifel ergriff es diese, zog den Korken aus der Flasche, und augenblicklich breitete sich ein süßlicher Geruch aus. Es erinnerte sie an allerlei Beeren, aber auch an etwas, dass sie nicht recht zuordnen konnte. Ihr Hinterkopf warnte sie davor, unbekannte Substanzen zu trinken, aber für Zweifel war es inzwischen schon um einiges zu spät. Mit einem großen Schluck leerte sie das Behältnis, und wohlige Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Es hatte geschmeckt, wie es gerochen hatte, abgesehen davon, dass das Getränk noch ihre Kehle hinunter brannte.

»Honigschnaps aus Ionikas, versetzt mit Beeren, Heilkräutern und etwas von meinem Ch’i. Und bevor du fragst: Die Beeren sind für den Geschmack, die Kräuter für die Wirkung und das Ch’i als magischer Beschleuniger. Und der Alkohol hilft beim Verdauen.« ,erklärte die Dame in Weiß augenzwinkernd. »Ch’i?« ,fragte Sucaría müde.

»Magisch Kraft, welche zauberbegabte Personen aus magischen Quellen fördern und durch ihren Geist in sich speichern können.«

Noch während die Dame in Weiß das sagte, kramte sie erneut in ihrer Tasche und förderte ein Glas mit grüner Paste und Verbandszeug zu Tage. Mit zwei Fingern fuhr sie in die Creme und verteilte sie großzügig über die blutige Stelle. Sucaría zuckte schmerzverzerrt zusammen, das Zeug brannte wie Feuer! Ungerührt machte die Frau in Weiß einfach weiter, und anschließend verband sie die Wunde wieder.

»Damit dürftest du in zwei Tagen wieder wie neu sein.« Sucaría wollte sich gerade bei ihr bedanken, als ihr einfiel, dass sie ihren Namen gar nicht kannte.

»Delphi. Man nennt mich Delphi, Sucaría.« Die Frau lächelte herzlich.

»Moment mal«, schaltete sich Jarihm jetzt ungestüm in das Gespräch ein, der bisher dem Werken der beiden lediglich zugesehen hatte. Er wandte sich ihr zu.

»Du hast mir gesagt, sie sei eine alte Freundin von dir. Wie kann es dann sein, dass du ihren Namen nicht kennst? Und sie«, jetzt drehte er seinen Kopf der mysteriösen Frau zu, die sich gerade als Delphi vorgestellt hatte.

»Wie konnten sie meinen Namen wissen, wenn wir uns noch nie zuvor gesehen haben? Wie konnten sie überhaupt wissen, dass wir kommen würden? Es war ja nicht gerade so, als ob wir uns angemeldet hätten.«

Delphi schaute ihn trotz seiner sichtlichen Aufregung seelenruhig an.

»Sucaría und du, ihr seid heute hier, um von mir eure Zukunft vorhergesagt zu bekommen.«

»Nein, nein, nein. Wir sind hier, weil sie ihr Gold schulden, welches sie jetzt dringend benötigt. Nicht wahr, Sucaría?«

Die Schildmaid senkte betreten den Kopf. Sie konnte ihm jetzt einfach nicht in die Augen sehen. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie unaufrichtig hatte sein müssen. »Sucaría?«

Seine Stimme war voller Zweifel. Sie musste ihm einfach antworten, das schuldete sie ihm.

»Das Ganze ist nicht ganz so, wie es dir jetzt erscheint. Die Wahrheit ist, dass ich dich hierher gelockt habe. Die gesamte Geschichte mit meinen Spielschulden bei Zilrag habe ich erfund…«

Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob ein großes Gewicht auf ihrem Oberkörper liegen würde welches alle Luft aus ihr rausdrückte und verhinderte, dass sie weitersprechen konnte.

»Aber das kann doch gar nicht... Ich selbst habe gegen einen von Zilrags Schuldeneintreibern gekämpft im „Betrunkenen Elf“.«

Sucaría sog betreten Luft ein. Sie hatte befürchtet, dass sie wieder darauf zu sprechen kommen würde müssen. Sie wollte es ihm nicht sagen, doch sie wusste, dass sie ihr keine andere Wahl mehr blieb.

»Die beiden waren nicht wirklich Schuldeneintreiber sondern zwei meiner besten Freunde aus der königlichen Armee. Es sind Elitisten mit den Namen Vastor und Iklop.«

Jarihm war jetzt aufgesprungen. Sucaría hob kurz ihren Blick um ihn anzusehen, was ein großer Fehler war. Er war aufgesprungen, sein Gesicht wutentbrannt und sein gesamter Körper bebte vor Aufregung. Doch sie meinte noch etwas erkannt zu haben: Er sah verwirrt aus und, was sie als viel schlimmer empfand, auch verletzt. Schnell senkte sie ihren Blick wieder, doch es war zu spät. Dieser Anblick hatte sie tief in ihrem Inneren getroffen. Ihr Herz zersprang ihr förmlich. Wie närrisch kam ihr jetzt doch ihre Hoffnung vor, er würde ihr einfach vergeben können. Sie spürte eine Erschütterung neben sich, als der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, umfiel und am Boden aufprallte. Er hatte ihn wutentbrannt umgestoßen.

»Ich verwinde hier. Sollte ich dich jemals wiedersehen, dann…«

Er ließ den Satz unvollendet und sie hörte seine Schritte in Richtung Höhlenausgang verschwinden. Mühsam versuchte sie die Tränen zurückzuhalten. Plötzlich verstummten die Schritte. Er war stehen geblieben. Sollte das Schicksal etwa wirklich so gnädig gewesen sein und ihn ihr verzeihen lassen?

»Dass du mich nach Strich und Faden belogen hast, ist schon schlimm genug. Aber das Ärgste ist, dass ich mich so in dir täuschen konnte. Ich dachte du wärst eine aufrichtige, herzensgute Person. Stattdessen muss ich rausfinden, dass du einen deiner Freunde schwer verwundet und den anderen, den du uns gestern ans Lager geschickt hast, brutal getötet hast. Diese Grausamkeit, diese Brutalität…«

Nachdem er ihr diese Worte entgegengeschleudert hatte, lief er davon. Dicke Tränen kullerten ihr über die Backen. Sie wollte sagen, dass sie Vastor nicht tatsächlich verwundet hatte. Er hatte einen kleinen Sack mit Tierblut bei sich gehabt, den sie aufgestochen hatte um ihm seine „Verwundung“ zuzufügen. Wie sonst hätte sie Jarihm suggerieren können, dass ernsthafte Gefahr drohte? Sie wollte sagen, dass sie den Kerl von gestern Nacht nicht kannte, und dass er ein echter Angreifer gewesen war. Doch all dies blieb ihr in der Kehle stecken, stattdessen entfuhr ihr nur ein tiefes Schluchzen. Delphi zog ein kleines, weißes Stofftüchlein hervor und reichte es ihr, welches sie dankend annahm. Sie wollte stark sein, doch irgendwie trocknete der Strom an Tränen nicht aus. Die Frau in Weiß versuchte sie zu trösten. »Keine Bange meine Freundin. Du wirst ihn schon in Kürze wiedersehen.« Sucaría glaubte ihr nicht. Und selbst wenn, er hatte ihr für diesen Fall sogar gedroht.

»Und er wird dir vergeben. Keine Sorge, ich beherrsche die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, sehr gut, selbst für die meiner Art. Ich werde Recht behalten.« Die Schildmaid blickte Delphi ins Gesicht. Sie wirkte, als würde sie absolut sicher sein, so als ob es nicht den geringsten Zweifel an der Tatsache geben würde, dass der junge Mann, der ihr auf seltsame Weise emotional so nahe ging, nicht dachte, dass sie das größte Scheusal sei, das je auf dieser Erde gewandelt ist. Die Art wie Delphi mit ihr umging, ließ langsam ihre Tränen versiegen, was diese zum Anlass nahm, wieder zu sprechen.

»Es war essentiell, dass du ihn hierher gebracht hast. Er ist eine jener Personen, die keinen Zugang zum Ch’i haben. Er hätte einen Traum einfach als eben dies abgetan und wäre mit seinem Leben fortgefahren wie bisher. Aber jetzt, wo er einen kurzen Blick auf das Unerklärliche erhaschen konnte, wird er ins Grübeln kommen. Du hast die Saat gepflanzt, überlass die Zucht nur meinen fähigen Händen.« Sucaría verstand nicht vollkommen, was die Hellseherin sagte, aber irgendwie fand sie trotzdem Trost darin.

»Was mich zu deinen Schicksal bringt.« Die Schildmaid schluckte. Sie hätte beinahe vergessen, dass auch sie hier war, weil das Orakel es so gefordert hatte.

»In deinem Traum hast du gesehen, was mit deiner Mutter und deinem Clan passieren wird, solltest du nicht erfolgreich sein.« Sucaría nickte stumm. Wenn sie sich daran zurückerinnerte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf…

Sie stand vor dem Haus ihrer Kindheit als die Lakaien der Despotie Mik-Tar brennende Fackeln darauf warfen. Das Dach der Schenke, das aus Holz und Stroh bestand, fing sofort Feuer und ohne dass sie irgendetwas tun konnte, brannte das Gebäude, in dem sie so viele Jahre verbracht hatte, ab. Und es war ihr, als gingen alle schönen Erinnerungen gleich ebenso in Flammen auf. Als sie zusammen mit ihrer Mutter Puppen gespielt, sie im Garten mit Holzschwertern geturnt oder sie am Dach das erste Mal einen Jungen geküsst hatte. Doch das war Sucaría plötzlich alles egal, als einer der Soldaten ihre Mutter herbeizerrte, die weinend und schreiend versuchte, zu entkommen. Doch der Griff des Soldaten, dem die ganze Zerstörung offensichtlich große Freude bereitete, da er ein hämisches Grinsen über das ganze Gesicht hatte, war eisern. Er schleifte sie über den steinigen Untergrund, und Sucaría konnte sehen, wie der Schutt blutende Furchen in der Haut ihrer Mutter hinterließ. Die Tochter des Zujcan-Clans versuchte ihr zur Hilfe zu kommen, doch ihre Beine bewegten sich einfach nicht, und es schnürte ihr so sehr die Kehle zu, dass sie nicht einmal schreien konnte. Es war, als würde sie in einem Sumpf feststecken, aus dem es kein Entrinnen gab. Stumm und hilflos musste sie mitansehen, was als nächstes geschah. Der zweite Soldat schnappte seinen Dolch und zerschnitt die Gewänder ihrer Mutter. Diese versuchte sich zu entwinden, doch sie hatte keine Chance. Der Soldat verpasste ihr einen Faustschlag in die Magengrube, und ihr blieb die Luft weg. Ihr verzweifelter Widerstand war damit gebrochen. Nun öffnete der Scherge Mik-Tars seinen Gürtel, ließ seine Hosen fallen und verging sich an der Frau, die Sucaría einst das Leben geschenkt hatte. Die Schildmaid fühlte sich ohnmächtig, sie konnte nichts tun außer zuzusehen, wie ihre Mutter, der stillschweigend die Tränen herabliefen, vergewaltigt wurde. Ihr Gesicht war eine entstellte Fratze, ein Spiegel ihrer Seele, welche ebenso geschändet wurde wie ihr Körper. Ein Antlitz, das Sucaría nur zu gut kannte. Nachdem der Soldat mit einem ekelerregenden Seufzen wieder von ihr abließ, hob der Lakai der Despotie, der sie eben noch festgehalten hatte, einen Dolch über seinen Kopf und stieß zu. Dieser fuhr in die Brust ihrer Mutter, welche vor Schmerzen lauthals aufschrie. Als die Waffe wieder aus dem Körper gezogen wurde, hinterließ sie eine klaffende Wunde. Sucarías Mutter brach zusammen, Blut rann in Strömen und bildete einen kleinen See in der Landschaft. Die Soldaten lachten laut auf, und während der Mörder noch die Klinge an ihrer Kleidung säuberte, sattelte der andere bereits wieder auf. Ihre Mutter tat ihren letzten, verzweifelten Atemzug. Die dichter werdenden Rauchschwaden in ihrer Umgebung ließen ihre Augen tränen, das gesamte Dorf des Zujcan-Clans stand in Flammen! Begleitet von entsetzten Schreien und dem Knistern des Feuers wurden ganze Existenzen ausgelöscht.

Kurz darauf war ihr die Frau in Weiß erschienen und hatte ihr erklärt, dass dies ein Blick in eine mögliche Zukunft gewesen war. Sie würde diese aber verhindern können, wenn sie innerhalb von zwei Tagen mit Jarihm de Los Cuervos, dem vierte Mann, der sie im Gasthof zum Betrunkenen Elf ansprechen würde, zur Höhle im Schatten des gigantischen Baums nördlich von Tchiyo kommen würde. Danach war sie schweißgebadet auf ihrer Pritsche in der Kaserne in der Königsstadt aufgewacht, in der sie am Vortag mit ihren Kollegen angekommen war, um ihren Urlaub anzutreten. Vastor, der direkt neben ihr geschlafen hatte, war ihr geschockter Zustand aufgefallen, und sie hatte ihm von dem Traum erzählt. Auch wenn er ihr nicht hundertprozentig geglaubt hatte, hatte er doch zugesagt, ihr zu helfen. Nachdem sie auch Iklop eingeweiht hatten, war dieser ausgezogen und hatte Erkundigungen über Jarihm de Los Cuervos eingeholt. Sie hatten erfahren, dass er öfters einen privaten Raum im ersten Stock des Gasthofs zum Betrunkenen Elf, bewohnte und dass er sich auch gerne in diesem Gasthof aufhielt. Vastor hatte sich das Tierblut besorgt und Iklop hatte bereits untertags den Raum im ersten Stock untersucht. Er hatte von den links an der Wand angebrachten Schwertern erzählt und sie hatten einen genauen Plan für den inszenierten Angriff geschmiedet. Im Schatten einer Seitengasse hatten sie dann auf die Ankunft Jarihms gewartet, und nachdem Sucaría sich in die Gaststätte begeben hatte, waren die beiden Elitisten in den Privatraum geschlichen und hatten auf die Zwei gewartet. Der Plan war perfekt aufgegangen. Sucaría bemerkte, dass sie schon einige Minuten da stand und über das Erlebte nachdachte. Delphi stand mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht neben ihr und wartete geduldig.

»Ja, solche Zukunftsvisionen können einen richtig einnehmen. Es gibt in der Geschichte der Orakel einige, die mit dieser Bürde nicht fertig geworden und dadurch dem Wahnsinn anheimgefallen sind.« Sucaría blickte sie entsetzt an. »Aber dir droht das natürlich nicht. Nein, du hast einen anderen Auftrag. Du musst in den Südwesten Sekoyas reisen. In Seestadt gibt es eine Forschungsstätte, die sich unter anderem mit einer ganz besonderen Mischung an Substanzen beschäftigt, mit teils durchschlagendem Erfolg.« Wieder lächelte das Orakel, so als ob es einen Witz gemacht hätte, den nur es selbst verstand.

»Du musst große Mengen dieser Mischung in die Festung Wehrenstein bringen. Du weißt, wo diese liegt.«

Die Schildmaid nickte nachdenklich. Vor Jahren hatte sie mehrere Manöver in eben jener Festung gehabt. Sie lag mit einer Seite am großen Salzsee Yuho und galt als uneinnehmbar. Sie war der letzte Zufluchtsort der Königsfamilie in den Zeiten der großen Unruhen gewesen und wurde seit dem von der königlichen Armee mit großem Aufwand in Stand gehalten.

»Hast du alles verstanden?«, wollte Delphi von ihr wissen.

»Ja, aber ich habe noch so viele Fragen. Was ist das für eine Mischung? Wird man sie mir einfach so geben? Und wofür benötigt sie die Festung Wehrenstein überhaupt?«

»Ich würde dir gerne alles genau erklären, aber ich fürchte, die Zeit drängt. Du wirst das Nötigste schon selbst herausfinden. Außerdem könnten zu viele Informationen deine Handlungen in den entscheidenden Momenten falsch beeinflussen. Sagen wir einfach, dass ich genügend Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten habe. Geh jetzt, und vergiss nicht, dass Eile geboten ist.«

»Aber…«

»Soll ich wirklich noch weiter mit dir plaudern, oder soll ich nicht lieber dafür sorgen, dass dein Missverständnis mit Jarihm geklärt wird?«

Ein großer Kloß formte sich im Hals der Schildmaid.

»Was hast du mit ihm vor?«

»Wie bei dir, ist auch sein Beitrag von elementarer Wichtigkeit. Also lass mich jetzt beginnen.«

Voller Fragen schritt Sucaría aus der Höhle, während hinter ihr Delphi ein seltsames Lied anstimmte.

Des Orakels Richterspruch

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