Читать книгу Herzschweißen - Niki Lauda, Conny Bischofberger - Страница 9
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ОглавлениеDie Luft roch nach Schnee an diesem 1. Dezember. Isabella hatte wieder einmal die Route über die Wiener Ringstraße genommen, um ins Media Quarter am Stadtrand zu kommen, obwohl das eigentlich ein Umweg war. Sie lenkte ihren links hinten stark verbeulten Mini vorbei am Hotel Imperial, dem Kunsthistorischen Museum und dem Burgtheater, und betrachtete andächtig die klassizistischen Prachtbauten, die in ein lachsrosa Licht getaucht waren. Nach 35 Jahren in dieser Stadt konnte Isabella noch immer den Zauber spüren, der von ihr ausging, besonders an dem einen Tag im Jahr, an dem die ersten Schneeflocken durch die Luft tanzten.
Ihre Playlist spielte Leonard Cohen, »So long, Marianne«. In ihrer depressiven Phase war Isabella süchtig nach diesem Sound gewesen. Drei Jahrzehnte später mochte sie seine tieftraurige Stimme noch immer gern. »Come over to the window, my little darling …« Beim Dr.-Karl-Renner-Ring erklomm eine Gruppe japanischer Touristen am großen Brunnen vorbei den Aufgang zum Parlament.
In Wien muss zwei und zwei nicht zwingend vier sein, hatte ein Minister aus ihrem Bundesland einmal in einem Interview erklärt, es kann auch genauso gut dreieinhalb oder fünf sein, hier stört eine kleine Ungenauigkeit keinen. Das fand Isabella besonders charmant: Dass die Wiener ihre Schlampigkeit, gepaart mit dem berüchtigten Grant, unter dem Deckmantel der Gemütlichkeit versteckten. Am Schottentor überholte sie einen Fiaker, die Pferde schnaubten, der Atem des Kutschers rauchte in der Kälte. Null Grad. Wenn die Temperatur noch um ein halbes Grad sinken und es leicht nieseln würde, dann … Sie konnte den ersten Schnee kaum erwarten.
Im Dorf hatte Mama ihr immer erlaubt, barfuß durch den ersten Schnee zu laufen. Der Gedanke ließ sie wohlig frösteln. Wenn Bella dann mit roten Backen und eiskalten Füßen ins Bett schlüpfte und Mama die Decke über ihre Schultern legte, war sie glücklich.
Müsle gang ga schlofa, da Tag züt us bed Schuah – Mäuslein, geh schlafen, der Tag zieht beide Schuhe aus.
Und huschlat uffa Zeha da Schwizar Bergo zua – und huscht auf Zehen den Schweizer Bergen zu.
Das Wiegenlied hatte sie später auch ihren Söhnen vorgesummt, wenn sie Angst vor Gespenstern hatten oder keine Ruhe finden konnten. »Müsle« blieb zeitlebens ein zärtliches Wort für sie.
Mit ihrem dunkelgrünen Mini verließ sie den Gürtel und bog in Richtung westliche Außenbezirke ab. Die Sonne war jetzt weg, das Blassrosa des Himmels hatte sich hellgrau verfärbt. Im Radio schnappte sie einen Satz auf, der sie aufhorchen ließ, der würde dem Thema ihrer Kolumne eine spezielle Note verleihen.
Sie spürte die Leichtigkeit, die sie sich als Grundgefühl immer bewahren wollte. Diese Bereitschaft, alles auf sich zukommen zu lassen, Isabella hatte sie jahrelang trainiert. Auf den Zufall vertrauen, auf das Glück und das eigene Können, dann begegnet dir alles. Die Begegnung im Frühstücksfernsehen hatte sie erfolgreich verdrängt, darin war sie richtig gut.
Isabella parkte ihren Wagen auf dem Deck des Medienhauses, trat durch die Schwingtür ins Gebäude ein und fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock. Daisy, ihre Assistentin, hatte Kräutertee gekocht und die Tasse mit dem Fuchsmotiv bereitgestellt, alle Tageszeitungen und Magazine lagen geordnet neben dem Keyboard. Die Kolumne ging ihr heute ganz leicht von der Hand. Manchmal war es so einfach und dann wieder eine furchtbare Qual.
Sie hatte Nana immer beneidet, wenn sie auf dem Boulevard St. Germain plötzlich innegehalten hatte. »Du musst ja noch deine Kolumne schreiben!«, murmelte sie dann und machte ihre Freunde ganz nervös. Oft spielte sich das am späteren Nachmittag ab, eine knappe Stunde vor der Deadline. Dann winkte sie ein Taxi herbei und raste in ihre kleine Wohnung in der Rue de Bac, um schnell die Nachrichtenlage in Wien zu checken. Was war am Cover, was hatten die Kollegen sich einfallen lassen? Ein kleines Detail, eine Ungeheuerlichkeit, eine Kurzmeldung irgendwo auf Seite 24, ein besonderer Blickwinkel auf ein Foto inspirierte sie dann, sie formulierte einen wichtigen Gedanken und traf mit ihren Worten jedes Mal mitten ins Herz.
Jahre nach Nana Paulischeks Tod hatte der Herausgeber ihr, der Star-Interviewerin, diese Kolumne angeboten. Du kannst nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, hätte Nana dazu wohl gesagt. Isabella nahm das Angebot trotzdem an. Drei Mal pro Woche Kolumne und einmal, in der auflagenstärksten Ausgabe, das große Sonntags-Interview. Und es war jede Woche eine Gratwanderung.
Der Sprung vom knappen Kommentieren zu den atmosphärischen Einleitungstexten ihrer Interviews, von der Politik in die Kunst, von der breiten Gesellschaft in die Randgruppen schien ihr oft unmöglich. Den Schalter einfach umzulegen, die Welten zu wechseln, sich auf eine völlig neue Situation einzulassen erforderte einen Fokus, der sie mehr als einmal an ihre Grenzen führte.
Isabella griff nach der Mappe mit den Informationen über ihren nächsten Interviewpartner. Daisy stellte diese Mappen immer zusammen. Sie enthielten eine Biografie, bereits erschienene Interviews und Porträts, Storys über artverwandte Personen und Themen, Auszüge aus Büchern, Jugendfotos, Jugendsünden et cetera.
Dieses Mal stand »Paulo Coelho« auf dem Deckblatt. Der brasilianische Bestsellerautor war Gastredner bei einem Treffen von Nobelpreisträgern im Benediktinerstift Melk, Isabella hatte schon vor einem Jahr davon erfahren und ihre Anfrage bei Coelhos Management deponiert. Erst kam eine Absage, aber Isabella kannte das Prozedere und ließ sich davon nicht abschrecken. Ganz im Gegenteil: Wenn ein Weg nicht zum Ziel führt, dann wählst du eben einen anderen, das war ihr Motto.
Sie traf sich nochmals mit dem österreichischen Veranstalter des Meetings, worauf dieser ihre Einladung mit Coelhos Büro erneut erörterte. Sie organisierte, telefonierte, kontaktierte – alles ohne Erfolg.
Dass Coelho schließlich doch noch zusagte, hatte Isabella Mahler letztlich einem Detail in ihrem Mail zu verdanken. »Unsere Leserinnen und Leser« – das waren immerhin auch ein paar Millionen – »würde vor allem interessieren, ob es eine geheime Formel gibt, nach der Sie schreiben, auf der sich der magische Effekt begründet, den Ihre Geschichten für 250 Millionen Fans auf der ganzen Welt haben«, schrieb Isabella. Details waren so wichtig. Auch für den meistgelesenen Autor der Welt. Isabella war am Ziel.
»Ihre Frage hat Herrn Coelhos Neugier geweckt«, schrieb sein Manager. »Er ist gerne zu einem Interview bereit. Da Herr Coelho im Radisson Blu wohnen wird, schlägt er die Hotelbar vor.« »Blu Style«, kommende Woche am Donnerstagnachmittag um 15 Uhr.
Isabella notierte sich Stichworte, aus denen sich die Fragen an Paulo Coelho ergeben würden. Sinnsuche und Selbsterkenntnis, Glück und Schmerz, Drogen- und Foltererfahrungen, Literaturkritiker, Geldanlage. Die Fragen formulierte sie meist wenige Stunden vor dem Treffen auf ein paar Blättern Papier. Mit weichem Bleistift geschrieben, das fühlte sich so leicht an. »Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht«, schrieb Erich Kästner. Die Fragen waren der Kern jedes Interviews. Selbst wenn der Interviewpartner nichtssagend sein sollte, was bei Politikern nicht selten der Fall war, mussten wenigstens die Fragen überraschend, außergewöhnlich und präzise sein.
»Hi Isabella, Lust auf einen CO?« Eine WhatsApp-Nachricht von Kathi blinkte auf. »CO« stand für Campari Orange. Eigentlich ein Sommergetränk, aber egal. Manchmal kommentierte Kathi Aussagen mit »TD« – »total desaster« oder »IT« – »it’s true«. Trump-Style, dachte Isabella und musste lachen.
Die Kriminalpsychologin Katharina Kinski war Isabellas älteste Freundin. Zeit mit ihr zu verbringen hatte immer etwas Heiteres, Spannendes. Mörder und Psychopathen, Borderliner und Co-Abhängige. Kathi kannte sich aus mit kranken Beziehungen.
Viele solcher Charaktere hatten sich in die elegante, perfekt gestylte Fünfzigerin mit den grünen Augen schon verliebt, Stalking und Drohungen inklusive. Deshalb zählte Kathi zwei Polizeibeamte zu ihren engsten Freunden. Die konnte sie auch spätnachts anrufen, wenn einer ihrer Klienten wieder einmal durchdrehte.
»Ja, gern«, tippte Isabella in ihr iPhone, sie hatte heute eigentlich nichts mehr vor. »Wo?«
»Bristol Bar, um 17 Uhr.«
»Machen wir 17.17«, schrieb Isabella, und Kathi schickte ein Smiley.
Im »Bristol« wusste der Barkeeper schon, wie sie ihren Campari mochte: möglichst mit Blutorangensaft, frisch gepresst, nicht zu viele Eiswürfel und einen Strohhalm in Gelb oder Grün oder Weiß, als Komplementärfarbe zum Rot des Cocktails. Isabella legte großen Wert auf Ästhetik und war sehr detailverliebt, manche nannten es auch anstrengend. Bei den kleinen Dingen des Lebens konnte sie geradezu radikal sein. Isabella hasste zum Beispiel Kapselkaffee, George Clooney hin oder her. Warum sollte man auf den Duft von frisch gemahlenem Kaffee in der Früh verzichten? Oder Maresi Leicht statt Milch, frischer Milch. Den Zusatz »länger frisch« empfand sie als Verrat am Wort »frisch«. Entweder war etwas frisch oder eben nicht.
Kathi wartete schon mit zwei Gläsern Campari Orange an der Bar, als Isabella Punkt 17.17 Uhr eintraf.
»Hey Süße!« Bei Kathi klang das gar nicht wie der gefürchtete Wiener Charme, sondern vertraut und ehrlich.
»Hey«, erwiderte Isabella leise. Sie wollte ihr eigentlich von Coelho erzählen, von den wochenlangen erfolglosen Versuchen und dass das Interview nun doch noch zustande kam.
Stattdessen erzählte sie ihrer Freundin von Christoph Regner. Von seinen Worten, seiner Stimme, seinen Augen, seinen Händen, dem Ring. Von dem Gefühl, das sie vollkommen überwältigt hatte.
Kathi spielte mit einer roten Locke. Ihr Blick blieb konzentriert und ernst. »Und was wirst du jetzt tun?«
Isabella überlegte. »Vielleicht gar nichts«, sagte sie.
»Der Ring kann auch ein Glücksbringer sein«, meinte Kathi.
Isabella musste lachen. Das war typisch Kathi, für sie hatte das Geheimnisvolle, Unwahrscheinliche immer mehr Logik als das ganz Normale.
»Ich glaub’ schon, dass es ein Ehering ist«, sagte Isabella.
»Und wenn schon«, zuckte Kathi mit den Schultern, »man kann nicht auf jedes Detail Rücksicht nehmen. Du schreibst ihm morgen ein E-Mail!«
Isabella drehte ihren Strohhalm hin und her, bewegte die Eiswürfel im Kreis. Die Sache war ihr plötzlich sehr unangenehm. Was hätte sie für einen Grund, einem fremden Mann zu schreiben? Den Eindruck zu erwecken, als wäre sie, mit bald 60, auf der Suche?
Kathi las ihre Gedanken. »Ein Mail heißt noch gar nichts. Vielleicht schreibt er höflich zurück und das war’s.«
Aber Isabella wusste, dass das nicht stimmte. Wenn sie ein Mail schrieb, dann hieß das für sie sehr viel. Dann waren es keine leeren Worte. Dann schlug sie einen Weg ein, von dem sie nicht wusste, wohin er sie führen würde. Vielleicht würde nichts mehr in Isabellas Leben so sein wie es bisher war. Und bisher war es eigentlich – zumindest lange Zeit – ziemlich perfekt gewesen.
»Ich will ihm schreiben und gleichzeitig will ich ihm auf keinen Fall schreiben«, sagte Isabella. »Kannst du das verstehen?«
Kathi nickte.
»Noch zwei Campari?«, fragte der Barkeeper. Isabella winkte ab.
»Ach Süße«, seufzte Kathi und bestellte die Rechnung.
Als Isabella vom Opernring in Richtung dritter Bezirk fuhr, konnte sie ihre Angst ganz deutlich spüren, aber auch etwas anderes. Eine seltsame Mischung aus Mut und Freude.
In diesem Moment begann es am Abendhimmel von Wien sanft zu schneien.