Читать книгу Das Handwerk des Krieges - Cora Stephan - Страница 10
6 - Krieg und Gesellschaft
ОглавлениеDas Bild von der Urhorde, die das Raubtier verjagt hat und diesen Sieg immer wieder feiert, ist bezwingend. Krieg hat etwas mit Massenemotionen zu tun; hier finden wir sie: den gemeinsamen Tanz, das gemeinsame Schreien aller, die sich zusammen stärker fühlen als jeder einzelne, ja deren Kraft die bloße Summe der Kräfte aller spürbar übersteigt. Auch die Vorstellung vom «Weißen im Auge des Gegners» löst Gefühle aus, die an biologische Reflexe grenzen. Das Auge erinnert an das lauernde, scharfsichtige Raubtier, weshalb nicht nur bei Tieren, sondern auch bei manchen Kulturen der direkte Blick ins Auge des anderen als Aggression empfunden wird.106 Die Vorstellung vom Auge des Gegners erweckt daher neben dem Flucht- auch den Aggressionsreflex.
Es sind all diese Topoi, die uns noch heute anrühren, ob wir wollen oder nicht: das höchste Opfer. Die Liebe und die Selbstaufgabe. Die kämpfende Gemeinschaft. Und: die schreckliche Fratze, hinter der man das Raubtier erkennt - es verweist nicht auf die anderen Männer, die Krieger der gegnerischen Seite. Es soll nicht die anderen Menschen zu «Tieren» machen, also zu minderen Wesen, die man ruhig abschlachten kann. Das Gegenteil ist richtig: Die Fratze des Tiers mit den blutigen Lefzen mobilisiert höchste Anspannung und Aufmerksamkeit auf der eigenen Seite, es löst mächtige Erinnerungen aus, es appelliert an alle Instinkte, den Kampf gegen das Raubtier aufzunehmen und dabei zu obsiegen.
Das erklärt indes noch nicht, warum sich dieses «Urerlebnis» sozusagen ausgelagert hat - in den Krieg als ein Ritual des Männerbunds. Dass Männer die Jäger waren und über die Waffen verfügten, erklärt nicht alles. An den Treibjagden, in denen unsere Vorfahren ganze Mammut- oder Wildpferdherden in den Tod getrieben haben, hat sich sicherlich der ganze Stamm beteiligt. Möglich, dass erst mit dem Rückgang der Megafauna Jagen zu einer Tätigkeit wurde, die erhebliches individuelles Geschick und Zeit erforderte, die wiederum nur der nicht durch die Pflege des Nachwuchses behinderte Männerbund hatte.
Das Prinzip der Stellvertretung ersparte der Gesellschaft im ganzen, was der Männerbund auf sich nahm. Aber dieses Prinzip hatte seinen Preis. Die Aneignung des Krieges durch die Männer offenbart die ganze Ambivalenz des Phänomens Krieg. Denn dass sie «stellvertretend» das Urdrama der Menschheit immer wieder aufführten, dass sie sich stellvertretend zum Opfer brachten und damit einen Gesellschafts- , ja einen Geschlechtervertrag erfüllten, war ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war die Macht, die in dieser Arbeitsteilung lag. Der Altruismus der Männer hatte sein Gegengewicht in der Macht und dem Prestige, das die Krieger sich für ihre Erfüllung des Vertrages anmaßten. Wenn nicht nur das Selbstopfer, sondern auch die eigene Verwandlung von der Beute in das Raubtier Männersache geworden war, blieb den Frauen als komplementäre Rolle allein die der Beute übrig. Und die wurde ebenso beschützt wie erobert.
Selbst darin kann man eine überlebenswichtige Logik entdecken - auch wenn sie auf Selbsttäuschung beruht: «Indem sie den Status des triumphierenden Raubtiers allein den Männern gewährten, konnten die Menschen die alptraumhafte Vorgeschichte ‚vergessen’, in der sie alle - Männer wie Frauen - Beute größerer und stärkerer Tiere waren. Insofern Männer als ‚Norm’ gelten und Frauen als Abweichung, konnte man Schwäche und Verwundbarkeit in der Geschichte der Menschheit als beiläufige Abweichungen auffassen. Geschlecht ist, mit anderen Worten, eine Vorstellung, die unsere gemeinsame Vergangenheit als Beute auf bequeme Weise auslöscht und besagt, dass der Raubtierstatus angeboren und ‚natürlich’ ist - zumindest beim Mann.»107
Krieg ist organisierte Gewalt und ihre Kultivierung zugleich: was die Gesellschaft zu zerreißen droht, wird von einer ihrer Gruppen aufgenommen und nach außen gelenkt. Das ist die mäßigende Seite des Krieges. Dieser Mechanismus bedeutet indes auch, dass das Drama immer wieder aufgeführt werden muss. Krieg wird zum Selbstläufer. Die Römer wussten, warum der Kriegsgott Janus zwei Gesichter hatte.
Solche Thesen haben keine empirisch gestützte Beweiskraft - das ist auch gar nicht möglich angesichts der Tatsache, dass der Evolutionsprozess des Menschen unendlich langsam verlief. Dennoch erklären sie ein paar Eigenheiten, die den Krieg wie eine Mischung aus Kultur und Natur erscheinen lassen: als eine Kultur, die an die Wurzeln der Menschheit zurückreicht; die Gefühle und Leidenschaften mobilisiert, die aus der Tiefe des Archaischen hinüberreichen und die noch beim modernen Menschen so auffallend ausgeprägt sind, dass sie leicht mit seinem genetischen Programm verwechselt werden können. Krieg macht uns nicht den Tieren gleich. Er entstand aber offenbar an einer Schnittstelle von Biologie und Kultur108 - womit sich erklären ließe, warum er so mächtige Emotionen erzeugt. Sie sind es, die ihn so unwiderstehlich machen - und wer an diese Emotionen appelliert, kann offenbar noch heute die gefährlichste aller Waffen in Gang setzen: Menschen, vom heiligen Ernst erfüllt.
Krieg ist unwiderstehlich, weil er an Gefühle anknüpft, die mit all unseren Instinkten verbunden sind. Dennoch ist er auch Kultur - und kein genetisches «Killerprogramm»: er ist aus einem Selbsterhaltungs-, nicht aus einem Selbstmordprogramm entstanden. Schon deshalb trägt er das Gesetz der Mäßigung in sich: er ist in seinen Ursprüngen heilige Handlung, kein Genozid. Dennoch: Blut muss fließen, das Opfer muss gebracht werden. Aber ob es Tropfen oder Ströme von Blut sind – darüber entscheidet Kultur. Und nicht Natur. Kultur indes ist unter Umständen nicht weniger grausam.
Die archaischen Topoi des Krieges lassen sich in vielen kriegerischen Kulturen, in vielen Weisen, Krieg zu führen, aufspüren. Im folgenden gilt das Augenmerk vor allem denen, die wir als «mäßig» empfinden, in denen Krieg mehr oder weniger «eingehegt», also begrenzt wurde, in denen offenbar der Tropfen ausreichte, um die Götter zu beschwichtigen, nicht das Blutbad gefordert war. Vor allem aber gilt als Maßstab für die «Mäßigkeit» von Kriegen, inwieweit sie «stellvertretend» blieben - oder das Gewebe der Gesellschaften, die sie führten, zerstörten; inwieweit sie Gesellschaft zur «Beute» machten. Wann lächelt Janus? Und wann zieht er eine furchterregende Fratze?