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4 - Krieg und Ritual

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Krieg ist eine «anthropologische Universalie» (Burkert); fast immer und überall wird er von Männern geführt. Ebenso universell aber ist sein ritueller Charakter - etwas, das nicht notwendigerweise allein die Kriege der Primitiven auszeichnet, und ebenfalls etwas, das sie nicht notwendigerweise «mäßiger» macht.68

In der materialistischen Schule der Kulturanthropologie wird den rituellen Elementen von Krieg selten große Bedeutung zugemessen. Selbst die Opferrituale der Azteken lassen sich, wenn man Marvin Harris folgen will, ganz ohne Rücksicht auf ihre kulturelle Begründung verstehen: nicht die Götter hätten das Blut der unzähligen Menschenopfer gefordert, nicht dem Gemeinwesen wurde da geopfert (weil ohne Menschenblut der Himmel einfalle), sondern die Menschen benötigten in einer an passenden Beutetieren armen Umwelt Proteine - das Fleisch der Opfer.69 Im Schatten des Opferblocks rollten die Kadaver die Pyramide hinunter - die Priester seien die Metzger einer Kannibalengesellschaft gewesen und die Religion lediglich die beschönigende Ideologie dazu.70

Man kann es freundlicher sagen: Wenn es auch beim Menschen Tötungshemmung gegenüber der eigenen Art gibt (und gab), dann muss der ökologische Druck immens gewesen sein, der die einen zum Kindesmord, die anderen zu Kannibalismus trieb. Ritual und heilige Handlung waren dringend nötig, um die grossen Schuldgefühle der Menschen zu dämpfen, lautet eine naheliegende Vermutung.71 Insbesondere Religionsforscher weisen auf die angstlösende Funktion des Rituals hin, auf die beschwichtigende Wirkung, die der Verweis auf den göttlichen Willen haben kann.72 Zyniker würden sagen: die Menschen haben sich schon immer ihr materielles Tun durch einen ideellen Überbau veredelt.

Konrad Lorenz hat eine andere Begründung für die Bedeutung des Rituals im Krieg entwickelt. Es ist ja nicht zu übersehen, dass der Krieg der Männer verblüffend viel Ähnlichkeit mit den Schaukämpfen sexueller Rivalen aus dem Tierreich aufweist. Das kriegerische Imponiergehabe manch primitiver Stämme erinnert an den Schaukampf brünftiger Hirsche; die bunte Paradeuniform eines Generals aus dem 18. Jahrhundert an den Balzschmuck des Argusfasans. Und ist der Vergleich der Trommeln und Flöten, mit denen Armeen ins Feld zogen, mit dem Kampfgesang der Nachtigall vor den Toren ihres Reviers zu weit hergeholt? Sogar die Tatsache, dass Waffen im Krieg nicht immer ihrer Tödlichkeit entsprechend eingesetzt werden, passt zu diesem Bild: Männer, argumentiert Robert L. O'Connell, ziehen im Krieg große Waffen vor - ähnlich den Scheinwaffen, die Tiere zum Imponieren entwickelten, wie das Geweih. Wo es ums Beutemachen geht, sind die Waffen hingegen prosaisch, unauffällig und funktional.73

Gehen wir also den von der Ethologie genannten Gründen für den intra-spezifischen Schaukampf nach. Wozu ist er nutze? Der innerartliche Kampf erfüllt in der Tierwelt offenbar mehrere sinnvolle Funktionen: beim Kampf um ein Weibchen erweist sich schnell, wer der Stärkere ist und damit derjenige, der am ehesten die Brut gegen Feinde verteidigen kann; der Kampf um den Platz in der Rangordnung schafft Ordnung in der Horde, und das Verteidigen des Territoriums gegen gleichartige Konkurrenz ist insbesondere unter ökologischem Druck lebensnotwendig. Dass Angehörige der gleichen Art einander abstoßen und sich über ein weites Gebiet hinweg verteilen, ist «die wichtigste arterhaltende Leistung der intraspezifischen Aggression».74 Doch dies alles sind, sozusagen, begrenzte «Kriegsziele», die es nicht nötig machen, den anderen zu töten.

Nicht selten reichen zur Abschreckung schon die entsprechenden Drohgebärden aus, die sich zu ritualisierten Begegnungsweisen verfeinern können. Höflichkeit etwa ist auf hohem Niveau gebändigte Aggression - die ausgestreckte Hand keine Freundlichkeit, die Umarmung keine Herzlichkeit, sondern der Versuch, den anderen davon zu überzeugen, dass man keine Waffe trägt, also harmlos ist.75

Kaum jemand hat anschaulicher als Konrad Lorenz beschrieben, wie eng Liebe und Aggression beieinanderliegen: manche Befriedungshandlung, die zum Ritual geworden ist und als solche den Zusammenhalt zwischen einander Bekannten bestätigt, entstammt einer umgelenkten Aggression - so lässt sich Begeisterung als umgelenkte «soziale Verteidigungsreaktion» dechiffrieren, Lächeln aus dem Zähnefletschen herleiten und die Gänsehaut, die wir angesichts des «Erhabenen» erleben, dem in Abwehrbereitschaft gesträubten Pelz zuordnen.76 Aggression entsteht aus etwas Positivem - der Verteidigungsbereitschaft der Gemeinschaft - und entwickelt sich über ihre Ritualisierung zu einer wirkungsvollen Methode, Gemeinschaft zu bestärken. Und das ist überaus sinnvoll: denn im Verteidigungsfall überlebt die Gemeinschaft, die zusammenhält.77

Obwohl sich die Menschen von Stichling und Auerhahn deutlich dadurch unterscheiden, dass sie den einen Schritt weiterzugehen und zu wirklicher Aggression der eigenen Art gegenüber in der Lage sind, ist die Komponente des ritualisierten Kampfes nach den Regeln der «Höflichkeit» aus der Geschichte des Krieges nie verschwunden. Das Ritterturnier ist ein solcher «Kommentkampf», in dem der Stärkere ermittelt wird, ohne den Schwächeren allzu sehr zu beschädigen. Schon das Vorspiel des Drohens und Kräftemessens ermöglicht es dem Schwächeren, einen aussichtslosen Kampf rechtzeitig aufzugeben.78 Noch die Truppenaufstellung vor der Feldschlacht unter Trommelwirbel und Fahnengeknatter erinnert, obwohl es hernach alles andere als mäßig zugegangen sein dürfte, an diese Art von Kräftemessen. Auch benachbarte Schimpansentrupps bauen sich voreinander auf und üben sich im rituellen Auftrumpfen, im Posieren und lautstarken Angeben - so versuchen sie einzuschätzen, auf welcher Seite wohl der Vorteil liegt. Wer die zahlenmässige Überlegenheit des Gegners feststellen muss, kann einen riskanten Kampf noch rechtzeitig vermeiden.79

In der Geschichte des Krieges haben meistens die stärkeren Bataillone gesiegt.80 Allein ihre zunehmende Intelligenz81, wenn schon nicht ihre Tötungshemmung, hätte Primaten also davon abhalten können, bei ungünstiger Machtbalance eine Entscheidung durch gewalttätige Konfrontation herbeizuführen. Andere Anthropologen meinen, im Gegenteil, gerade ihre Intelligenz habe Primaten dazu gebracht, in das schlichte Rechenexempel von zahlenmäßiger Über- oder Unterlegenheit noch andere Faktoren einzurechnen - sie hätten sich etwa überlegene taktische Fähigkeiten eingebildet und deshalb auch in aussichtsloser Lage noch den Kampf gewagt.82 Vor allem aber: ihre Intelligenz erlaubt ihnen, Gefahren zu antizipieren, die noch gar nicht eingetreten sind. Das «Präventivschlag»-Denken hat eine uralte Geschichte.83

Lorenz selbst hat aus der Kriegsfähigkeit von Menschen auf ihre mangelnde Tötungshemmung geschlossen: sie hätte sich nicht entwickeln müssen, weil Menschen - im Unterschied zu Raubtieren - zur Zeit ihrer friedlichen Existenz als vegetarische Affen in den Bäumen des Regenwalds keine Kampferfahrung hätten sammeln und insofern auch keine Einhegung solcher Aggression hätten einüben müssen: Im Wald zog man weiter, wenn ein Konkurrent einen bedrohte.84 Man musste sich dem Kampf nicht stellen. Es wären demnach also kein angeborener Aggressionstrieb, sondern im Gegenteil unsere friedlichen Ursprünge, die uns so ungebremst gewalttätig werden lassen.85 Ein vergleichbares Argument stammt von Margaret Mead. Auch sie vermutete, dass beim Menschen «ein Mangel an instinktiven Kontrollen» vorliege, und spekulierte, dass es beim weiblichen Geschlecht, kämpfe es erst einmal, viel hemmungsloser zugehen müsse als beim männlichen, da Frauen, im Unterschied zu diesen, nie hätten lernen können, ihre Aggression zu zügeln.86

Nun haben Menschen aber erwiesenermaßen Tötungshemmung. Die These Erik Eriksons von der «Scheinartenbildung» scheint dieses Problem zu lösen. «Scheinartenbildung» heißt, dass Menschen die eigenen kulturellen Normen und Riten für biologische Merkmale nehmen, mit denen sich die eine Gruppe von der anderen unterscheidet. So kann der fremde Stamm als fremde Spezies behandelt werden. Die aber darf man töten.87

Für diese These scheint zu sprechen, dass in der überlieferten Geschichte viele Schlachten besonders blutig gewesen sind, in denen der Gegner als «entmenscht» vor- und dargestellt wurde, als schädliches Insekt, das man zertreten, als Schlange, der man den Kopf abschlagen müsse. Kulturelle Fremdheit hat womöglich die Leidenschaft erhöht: Die griechischen Phalangisten haben im Kampf gegen die persischen Heere jene regelgesteuerte Zurückhaltung durchaus vermissen lassen, die sie bei innergriechischen Kämpfen übten. Auch die christlichen Ritter scheuten sich nicht, die zu bekehrenden Heiden mit einer Brutalität zu behandeln, die sie bei Kämpfen unter ihresgleichen als unchristlich verpönten. Aus dieser «Entmenschlichung» des Gegners haben Pazifisten geschlossen, es helfe gegen den Krieg, wenn man lerne, im anderen den gleichen zu erkennen, wenn man also «Fremdheit» überwinde.

Das hat sich im Ersten Weltkrieg als schöne Illusion erwiesen. Selten womöglich waren sich Menschen kulturell und sprachlich so nahe wie am Vorabend der großen europäischen Katastrophe.88 Mangelnde Nähe macht keinen Krieg, im Gegenteil: schon immer haben benachbarte Stämme abwechselnd miteinander Handel oder Händel getrieben, kannten einander also sowohl als Freunde als auch als Feinde. Warum auch sollte ausgerechnet Homo sapiens die einzige Spezies sein, die ihresgleichen nicht erkennt?89 Und insbesondere Soldaten wissen, dass ihr Gegenüber ein Mensch ist wie sie selbst, weder Tier noch Untermensch.

Dennoch scheint das Evozieren des «Tiers» auf eine archaische Gefühlswelt zu verweisen, die Quelle heftiger Leidenschaften ist. Leidenschaften werden indes nicht vom «Beutetier» hervorgerufen, das man ja aus einem ganz pragmatischen Grund tötet, nämlich, weil man es essen will. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, welches «Tier» statt dessen gemeint sein könnte.

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