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5 - Der Krieg als Opferhandlung
ОглавлениеKrieg ist ein überaus paradoxes Geschehen, in dem die Entfesselung von Gewalt mit Tendenzen zu ihrer Mäßigung korrespondiert. Ist Krieg also doch «Kultur» - nämlich die spezifische Weise, in der Männer notwendige Aggressionen zügeln, mäßigen und ihnen eine gesellschaftlich verträgliche Form geben?
Krieg ist offenkundig beides - Männerkultur, die sich zugleich mit mächtigen, aus der Tiefenschicht «kollektiver Erinnerung» herrührenden Emotionen verbindet. Diese Gefühle bestehen nicht aus aggressiven Anteilen allein; ihre Macht rührt aus Motivstrukturen, die wir als das Gegenteil von Aggression auffassen und die uns als rundum positiv erscheinen: Altruismus, Aufopferung für die Gemeinschaft. Krieg, so sehr sich seine Formen im Laufe der Jahrhunderte auch unterscheiden, mobilisiert offenbar archaische Gefühle, denen man sich weit schwerer entziehen kann als äußerer Macht, Herrschaft und Unterdrückung - weil sie für uns das Gute repräsentieren.
Auch dieser Befund, der im folgenden überprüft werden soll, ist paradox: Männer ziehen, hieße das ja, seit Menschengedenken in den Krieg - nicht, um ihr Aggressionspotential auszutoben. Nicht, weil sie Vergnügen am Töten hätten. Und noch nicht einmal ausschließlich aus Bereicherungslust. Sie sehen sich weder bei den Hopliten noch als Infanteristen im Ersten Weltkrieg als Täter oder gar als Mörder. Sondern als Opfer, das ihnen die Liebe zur Gemeinschaft: abverlangt. Männer sehen sich im Krieg nicht als Männer, die töten, sondern als Männer, die sterben - für andere.90
Wenn das ernst zu nehmen ist - und das ist es offenbar -, dann stellt sich erst recht die Frage nach der Ratio des Krieges. Wenn er nicht einem dem Mann angeborenen Trieb entspringt, ja wenn er etwas ist, wovor nicht eine Minderheit, sondern eine Mehrheit der daran Beteiligten sogar zurückschreckt, und wenn er darüber hinaus noch nicht einmal ein zuverlässiges, kalkulierbares Instrument der Macht ist - warum dann Krieg oder, besser gesagt, warum dann Krieg unter Blutvergiessen und nicht als symbolisches Ereignis oder sportliche Veranstaltung?
Man nähert sich dem Phänomen, indem man die Frage umdreht: warum bringen die Männer einander eigentlich nicht um, mit allen Konsequenzen; warum führen sie ein ausgedehntes, mit Kostümierung, Bombast und rituellen Inszenierungen angereichertes Theater auf, an dessen Ende es weit weniger Tote gibt, als der jeweilige Stand der Waffenkunst ermöglicht hätte? So lautete die verständnislose Frage des Pazifisten Georg Friedrich Nicolai angesichts dessen, was er die «sinnlose Spielerei» des Ersten Weltkriegs nannte.91 Die Antwort: dieser vom Standpunkt der Effizienz aus gesehen unnötige Budenzauber lässt darauf schließen, dass es im Krieg, sogar in seiner industrialisierten Form, immer wieder um etwas anderes geht als primär um das effiziente Töten anderer. Um was?
Warum gilt ausgerechnet der Krieg in der Menschheitsgeschichte immer wieder als eine heilige Handlung? Wie eng Krieg mit Religion verbunden ist, zeigt sich nicht nur an der
Angewohnheit der Griechen oder Römer, vor der Schlacht zu opfern - oder an den Feldgottesdiensten aller christlichen Heere. Hier liegt der Grund auf der Hand: die Götter werden um einen guten Ausgang gebeten. Dass Krieg als «heilige Handlung» gilt, die «ehrfürchtige Schauer» hervorruft:, ist im Sinne von Konrad Lorenz schlüssig als die Umwandlung des sozialen Verteidigungstriebs zu dechiffrieren: wir haben eine Gänsehaut, weil sich unter der zivilen Schale der Pelz unserer Vorfahren sträubt. «Was als 'erhaben', als 'Enthusiasmus' erlebt wird und gilt, erweist sich so als biologisch-genetisch verwurzelt, eine in früheren Stadien funktionelle Verhaltensweise zwischen Angst und Aggression, die sich in fortgeschrittener Zivilisation noch immer als 'Gefühl' manifestiert.»92
Die sakrale Aura, die Krieg seit Menschengedenken umgab, der «heilige Schauder», den er hervorruft, deuten darauf hin: er ist religiöse Opferhandlung.93 Nichts liegt näher, als darin uralten Priestertrug zu erkennen - dessen Opfer auch die jungen Männer waren, die noch im Ersten Weltkrieg zu begeisterter Hingabe bereit waren. Nicht wenige teilten den Enthusiasmus, der Ernst Barlach schreiben ließ: «Opfern ist eine Lust, die größte sogar. Ich weiß es längst, es ist Vergottung, Aufgehen im Ganzen, Erlösung.»94 Haben die Feldherren nicht immer schon den Krieg geheiligt, um willfähriges Kanonenfutter zu gewinnen? Schon; aber es ist ihnen stets gelungen - weil Opferbereitschaft für die Gemeinschaft aus Quellen herrührt, aus denen auch die großen Weltreligionen ihre Kraft beziehen.
Das aber ist kein «bloßer Überbau», sondern knüpft, wie insbesondere Walter Burkert und Barbara Ehrenreich gezeigt haben, an reale menschliche Erfahrungen an, an ein menschliches Trauma, das sich im «kollektiven Gedächtnis» so verankert hat wie der Schmerz, den der menschliche Körper nie vergisst. Dass man nie vergisst, was man unter Schrecken, Schmerzen oder «auf einen Schlag» gelernt hat, ist altbekannt und findet sein spätes Echo im Ritterschlag, der den jungen Ritter daran erinnern sollte, nie den Schwur auf den Lehensherrn zu vergessen.95 Besonders qualvolle Initiationsriten bauen auf diesen Effekt. In deutschen Dörfern soll den Jungen die Lage der Grenzsteine in der Ackerflur durch Prügel vor Ort «eingebleut» worden sein. Auch gemeinsame Verbrechen helfen der Erinnerung - und der Loyalität auf die Sprünge. Alle Instinkte aber werden angespannt, wenn es um das Leben selbst geht. «Höchster Ernst beruht auf der Drohung des Todes.»96 Intelligente Lebewesen werden die lauernden Löwen nicht vergessen - und auch nicht die Erfahrung, ihnen entkommen zu sein.
Der stärkste «Zauber», der alle Kräfte mobilisiert, geht von der Todesdrohung aus. Sie - und ihre Überwindung - sind das Thema aller Religion. Möglich, dass nur Männer gern vergessen, dass unsere Vorfahren nicht als raffinierte Jäger aus den Regenwäldern des Miozäns heraustraten, sondern als mehr oder weniger friedfertige Affen, die den schnellen Raubtieren der Savanne hoffnungslos unterlegen waren. Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Barbara Ehrenreich nennt es geradezu das Urtrauma der ersten Menschen, sich in einer feindlichen Welt gegen den lauernden Fressfeind nicht wehren zu können. An der Wiege der Menschheit steht nicht erfolgreiche Aggression, sondern Hilflosigkeit und Angst. «Lange vor dem jagenden Menschen muss es den gejagten Menschen gegeben haben.»97
Die prähistorischen Raubtiere waren die ersten Wesen, denen Menschen geopfert haben: das, was diese Raubtiere an der Verfolgung der flüchtenden Horde hinderte, was sie aufhielt, weil es das war, was sie wollten: Fleisch. Menschenfleisch. Das Opfer von Fleisch beschwichtigte das Raubtier. Dieser Effekt ist in der Tierwelt biologisch fest verankert: Spinnen überlassen dem Angreifer ein Bein, um sich zu retten, Eidechsen opfern dem Räuber ihren Schwanz. Bei Mensch wie Tier wird dem Raubtier die eigene Nahrung überlassen. Horden opfern die Schwächsten oder Ältesten. In religiösen Riten taucht diese Beschwichtigung der drohenden, raubtierhaften Gottheit im Tier-, aber auch Menschenopfer auf.
Und bis in dieses Jahrhundert hat sich eine Sitte erhalten, deren Ursprung aus der archetypischen Fluchtsituation besonders deutlich zu erkennen ist: Das Fingeropfer. Auch Menschen werfen dem Verfolger ein Stück von sich selbst zu, pars pro toto, ein Teil, um das Ganze zu retten - in diesem Fall wird ein Fingerglied hergegeben, um den ganzen Menschen zu retten.
Das Fingeropfer ist eine Sitte, die in Indien erst die britische Kolonialregierung verbot. Einige Höhlenzeichnungen aus dem Paläolithikum zeigen neben normal geformten Händen auch solche, denen eines oder mehrere Fingerglieder fehlten.98 Flucht und Opfer sind in den Märchen und Mythen fest verankert: Held oder Heldin müssen auf ihrer abenteuerlichen Flucht stets etwas zurücklassen, um die Verfolger aufzuhalten. Im Falle von Jason und Medea: ein Menschenopfer.99 Burkert schließt daraus auf eine Umwandlung des biologischen Impulses in einen kulturellen - was Tieren ihr biologisches Programm gebietet, haben Menschen bewusst als Kalkül eingesetzt: ich gebe ein Teil von mir, damit ich als ganzes überlebe.100
Im Krieg aber bleiben Männer nicht beim Selbstopfer stehen. Sie töten auch - dem Raubtier gleich, gottähnlich. Denn auch unsere Vorfahren sind beim Opfer, um dem Raubtier zu entkommen, nicht stehengeblieben. Sie haben den Übergang von der «Beute zum Raubtier»101 vollzogen - vielleicht der entscheidende Moment in der Geschichte der Menschwerdung. Dem Urtrauma ist die ebenso schreckerregende wie erhebende Erfahrung an die Seite getreten, über den todbringenden Feind gesiegt zu haben.
Eine Urszene dafür gibt es natürlich nicht. Unsere Vorfahren waren von der Natur nicht als Gegner von Großkatzen und Krokodilen oder Büffeln und Elefanten vorgesehen und haben wahrscheinlich lange gebraucht, bis sie die Strategien und Hilfsmittel entwickelt hatten, dem Raubtier entgegenzutreten: die Horde, den aufrechten Gang, die Fähigkeit, gezielt werfen zu können, die ersten Waffen, Feuer. Vielleicht war der entscheidende Moment in der Geschichte der Menschwerdung, der sich in ein bis zwei Millionen von Jahren millionenfach wiederholt hat, der Moment, in dem unsere Vorfahren in der afrikanischen Steppe nicht mehr panisch auseinanderstoben angesichts eines Raubtiers; der Moment, in dem einer von ihnen mit einem großen (oder gar schon zum Faustkeil bearbeiteten) Stein auf das Tier zielte und traf; oder der Moment, in dem alle zusammen, Frauen, Männer, Kinder, Greise, unter Brüllen und Schreien und heftigem Auf- und Abspringen den Angreifer verjagten. «Welch ein Erlebnis musste es sein, als es dem Verwandten des Schimpansen gelang, die Macht des Todfeindes, des Leoparden, an sich zu reißen, in die Maske des Wolfes zu schlüpfen, vom gejagten Wild zum Jäger zu werden! »102 Diesen Urkampf, schreibt Ehrenreich, hätte die Menschheit ebenso gut verlieren können. 103 Im Ritual wird er immer wieder neu inszeniert. «Was gegenüber realen Raubtieren funktional wäre, sie durch Füttern abzulenken, wird zur symbolisch-magischen Prozedur. Zugleich ist eine weitere, entscheidende Transformation vollzogen: Der Bedrohte findet Rettung, indem er selbst zum Töter wird. Dies verdoppelt gleichsam den angestrebten Schutz: Der mögliche Angreifer wird ebenso beschwichtigt wie bedroht; indem die Angst in Aggression umschlägt, ist das Gefühl der Wirkung überwältigend.»104
Was wäre dann Krieg? Nichts anderes als der Rahmen für das instinktive Programm, es möge lieber ein anderer sein, der stirbt. In diesem Licht wird man die These von Marvin Harris bestreiten, das Menschenopfer bei den Azteken habe ihnen nur als Fleischersatz gedient. Denn hier scheint es evident, dass die siegreichen Krieger den Göttern anbieten, was sie selbst nicht zu geben bereit sind: Menschenfleisch - das des gefangengenommenen Feindes.105
Das alles klingt wie eine plausible Erklärung für das Amalgam aus Aggression und Altruismus, das Krieg auszeichnet: er ist der Aufstand der Gemeinschaft gegen das Raubtier - und zugleich die Wiederaufführung des uralten Dramas, wonach es die Horde schützt, wenn sich einer, stellvertretend für die anderen, opfert, dem Raubtier zum Fraß vorwirft. Krieg wäre dann nichts anderes als die Re-Inszenierung einer doppelten Erfahrung - des Blutopfers und des Siegs über die Bestie. Im Krieg geht es um Urangst - und um ihre Überwindung. Im Krieg wird den Göttern geopfert - und zugleich der Sieg über sie gefeiert.