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2 - Ökologie des Krieges
ОглавлениеDie Materialisten unter den Kulturanthropologen argumentieren nicht mit dem Wesen des Mannes, wenn sie über die Notwendigkeit des Krieges in der Geschichte der Menschwerdung reden. Ohne Aggression hätten unsere Vorfahren nicht überlebt. Krieg, sagen sie, ist Teil der «Überlebensfitness». Und die ist, universal. Anders gesagt: wir wissen nichts über friedliche
Vorfahren. Sie sind, wie die unaggressiven Bonobos31, im Regenwald geblieben - oder ausgestorben. Materialisten32 erkennen auch im Krieg den Menschen als grundsätzlich rational kalkulierendes Wesen, das prinzipiell nur unternimmt, was ihm auch nützt. Wo liegen also die materiellen Notwendigkeiten und Anreize für Krieg? Die einfachste Antwort lautet: Krieg dient der Nahrungsbeschaffung, der Erweiterung des Genpools, der Bevölkerungskontrolle und der Gemeinschaftsbildung. Krieg ist ein lohnendes Risiko, weil er nur für wenige den Tod, für viele hingegen Leben bringt – Überleben entweder im direkten Sinn durch Nahrung oder im indirekten Sinn durch Erhöhung der Fortpflanzungschancen. In der ökologischen Sicht des Krieges sähe die Urszene etwa folgendermaßen aus: Die Vertreibung aus dem Paradies begann, als die Affen von den Bäumen stiegen - mit dem Rückzug der Regenwälder am Ende des Miozäns, das dem geruhsamen Leben auf den Bäumen, wo es essbare Früchte und Beeren, Blüten und Blätter gab, ein Ende bereitete. Während man im warmen Regenwald einfach zum nächsten Baum ziehen konnte, wenn sich ein Konkurrent näherte, gestaltete sich die Nahrungssuche schon in lichteren Baumlandschaften oder gar in der offenen Savanne weit schwieriger. Es gab weniger zu essen, man musste längere Wege zu den Nahrungsquellen zurücklegen. Mit der Verteidigung des eigenen Territoriums unter ökologischem Stress33 begannen unsere Vorfahren, die Menschenaffen – von denen die Anhänger Rousseaus stets annahmen, sie seien friedliche Vegetarier -, mit dem Vorspiel zum Krieg: dem Kampf um knappe Ressourcen. Vielleicht, so lautet eine gut begründete Spekulation über die Anfänge der Menschwerdung, stand die Wiege der Menschheit während einer langen Phase der Trockenheit auf einer Insel des Regenwaldes inmitten der sich ausbreitenden Savanne im heutigen Äthiopien. Die kleine Affenpopulation, die sich dort erhalten hatte, starb nicht aus - sie passte sich den veränderten Umständen an und entwickelte neue Fertigkeiten, sich in der feindlichen Umgebung Nahrungsmittel zu erschließen.34 Zu diesen neuen Techniken gehörte die Fortbewegung auf zwei statt vier Beinen - was womöglich weniger mit dem Vorteil, zwei «Hände» frei zu haben, zu tun hatte, sondern damit, dass die jetzt weiteren Wege zwischen verschiedenen Nahrungsquellen auf zwei Beinen energieeffizienter zu bewältigen waren. Ein Zweibeiner ist, was die Effizienz der Bewegung betrifft, in der Ebene zwar keinem Huftier, Raubtier oder Hund, aber etwa einem Schimpansen deutlich überlegen.35 Den Rest der Geschichte glauben wir zu kennen: Der aufrechte Gang ist eine der Voraussetzungen für den geschickten Gebrauch von Waffen. Waffen sind der Ersatz für die natürlichen Verteidigungsmittel, die Primaten fehlen - und die sie in den offenen Baumlandschaften und Savannen nun um so nötiger brauchen, denn das Flüchten (auf die Bäume) ist nicht mehr möglich: es gilt, den Raubtieren, etwa dem Säbelzahntiger, standzuhalten. Der Gebrauch von Waffen wiederum macht Menschen schlauer. Hirn- und Waffenentwicklung bedingen einander insofern, als das Vorhandensein bestimmter Schaltkreise im Hirn nötig ist, um das Werfen zu einer präzisen Kunst zu machen.36 Und schließlich, sieht man einmal von kollektiven Treibjagden ab, erlauben erst Waffen die Jagd. Fleisch war, insbesondere in kälteren Zeiten und Regionen, nicht allein eine angenehme Ergänzung des Speisezettels, sondern oft das einzige zur Verfügung stehende Nahrungsmittel.37 Die steinzeitlichen Jäger, die vor etwa 12 500 Jahren aus Sibirien durch die Beringstraße38 nach Nordamerika einwanderten, waren schließlich so geschickt bei der Jagd, dass sie, wie in einer bekannten Debatte behauptet wurde, in einigen hundert Jahren, in einer Art «Blitzkrieg», das zuvor mit Menschen nicht konfrontierte, arglose Mammut ausrotteten.39 Dass die Entwicklung von Waffen, die gemeinsame Verteidigung der Horde und die Kooperation bei gemeinsamer Jagd Vorbedingungen für etwas so Organisiertes wie den Krieg sind, leuchtet ein - der Mensch ist ein «kooperatives Raubtier».40 Die Jagd benötigte und beförderte soziale Strukturen in der Menschenhorde - Kooperation, Planung und Teilen der Beute, was nur Fleischfresser, nicht aber Vegetarier tun.41 Damit ist «Krieg» möglich geworden. Aber nötig? Wieder, versichern uns die Kulturanthropologen, ist ökologischer Stress der auslösende Faktor. Angesichts knapper Ressourcen beginnt der Kampf mit konkurrierenden Horden und Stämmen um das Territorium, das Nahrung bietet. Nur in isolierten Nischenkulturen mit geringer Bevölkerungsdichte in karger Umgebung, die für die Konkurrenten nicht attraktiv war, scheint Krieg nicht zum Lebensalltag gehört zu haben.42 Krieg setzt territoriale Bindung voraus - also etwas, was es zu verteidigen gilt.43 Dazu würde die Vertreibung möglicher Konkurrenten allerdings völlig ausreichen. Was also zwang unsere Vorfahren dazu, ein Tabu zu brechen, das in der Tierwelt so erstaunlich häufig eingehalten wird - warum töteten sie nicht nur Beutetiere, sondern auch Angehörige ihrer eigenen Art? Warum setzten Menschen ihre Tötungshemmung, über die sie doch offenbar verfügen, außer Kraft - anders gefragt: wodurch fühlten sie sich dazu gezwungen?
Die Antwort ist wieder: ökologischer Druck. Hunger, argumentiert etwa Marvin Harris, zwingt Menschen dazu, ihre eigene Art zum Beutetier zu machen. Menschen können auf zweierlei Weise zur Beute werden: einmal, indem sie in Ermangelung jagdbaren Wildes selbst zur Proteinquelle werden. Es ist unbekannt, in welchem Ausmaß Menschenfleisch tatsächlich zum Speiseplan unserer Vorfahren gehörte - dass die Neandertaler Kannibalen gewesen wären oder die Azteken ihre Menschenopfer gegessen hätten, behaupten die einen44, die anderen bestreiten es.45 Mit der Landwirtschaft und beginnender Vorratshaltung sind Menschen indes unzweifelhaft indirekt zur Beute geworden: sie verfügten jetzt über Nahrung, die man ihnen abnehmen konnte. Und so begann, so lautet die These, vor etwa 10 000 Jahren der jahrtausendealte Konflikt zwischen Nomaden und Sesshaften46: Die dem Jagdglück und den Jahreszeiten unterworfenen umherziehenden Jäger und Sammler hätten die ackerbauenden, sesshaften Menschen sozusagen als lebende Vorratskammer benutzt. Damit wären die Bauern zum «Beutetier » geworden, und man konnte ihnen gegenüber die Aggressionshemmungen gegen Angehörige der eigenen Art aufgeben.
Diese These klingt plausibel. Gegen sie spricht, dass Krieg nicht erst mit dem Ackerbau entstanden ist.47 Auch Sesshaftigkeit beginnt bereits vor der «neolithischen Revolution», die heutigen Forschern schon längst nicht mehr als das Paradies gilt, sondern als die Vertreibung daraus.48 Mehr noch: weit vor dem Übergang zum Ackerbau haben Menschen ihre Siedlungen befestigt - im Zweifelsfall gegen Angriffe anderer Menschen. Die Mauern von Jericho entstanden vor gut l0 000 Jahren und damit vor einer nennenswerten Ackerbaukultur im Nahen Osten.49 Nach Felszeichnungen und Skelettfunden, die entsprechende Spuren aufweisen, hat es schon im Mesolithikum vor etwa 12 000 Jahren so etwas wie Krieg gegeben. Eine Felszeichnung von der spanischen Levante zeigt Männer, die mit Pfeil und Bogen aufeinander loszugehen scheinen. Ausgrabungen in Südägypten und Ostasien förderten Skelette einer großen Anzahl von Männern gleichen Alters zutage, die Spuren von Verletzungen durch Pfeile oder Speere zeigen.50 Also: Krieg gab es vor Kain und Abel. 51 Doch auch darauf hat die These von dem ökologischen Ursprung und der ökologischen Funktion des Krieges eine Antwort: Krieg kann als Mittel zur Bevölkerungskontrolle eingesetzt werden. Wenn neue Nahrungsmittel nicht erschlossen werden können, kommt es darauf an, die Konkurrenz um knappe Nahrung möglichst zu verringern. Krieg mit einem konkurrierenden Stamm verringert auch das eigene Lager um die Zahl der gefallenen Krieger. Der Bevölkerungsdruck wird dadurch aber nur kurzfristig gemindert. Denn ohne Verhütungsmittel werden die Bevölkerungsgrößen lang- und mittelfristig von der Zahl der fruchtbaren Frauen bestimmt. Dass der Krieg auf diese Zahl sehr wohl einwirkte, allerdings indirekt, versucht Marvin Harris am Beispiel der kriegerischen Yanomami nachzuweisen.52 Dort sind tatsächlich die Frauen die primären Opfer des Krieges - bzw. der kriegerischen Kultur -, und zwar über den Umweg der Kindstötung. Bei den Yanomami werden die weiblichen Kinder getötet, damit der Stamm möglichst viele Krieger hat - und in der Tat gibt es dort, trotz der hohen Bereitschaft zu kriegerischer Auseinandersetzung, einen starken Männerüberschuss.53 Der Wunsch nach vielen Kriegern, argumentiert Harris, sei indes nur eine vorgeschobene Begründung, denn auch primitive Stämme müssten wissen, dass der Weg zu vielen Kriegern über viele gebärfähige Frauen führt. Das Töten weiblicher Säuglinge sei daher in Wirklichkeit eine bevölkerungsregulierende Maßnahme - die Verzweiflungsaktion eines um sein Überleben kämpfenden Stammes.54
Kriege können also demographische Wirkungen haben. Bewirken sie auch eine «Auslese» - etwa indem sie aggressive Männer begünstigen? Diente Krieg dazu, im Kampf der Arten dem durchsetzungsfähigeren Erbgut eine Schneise zu schlagen? Anthropologen spekulieren darüber, ob der Homo sapiens womöglich nicht nur das Verschwinden einiger primitiver Vorfahren55, sondern auch die Ausrottung des Neandertalers zu verantworten haben - als brachiale Beschleunigung des survival of the fittest.56 Das wäre dann der erste Genozid der Menschheitsgeschichte gewesen.
Ob Frauen die «natürliche Auslese» zugunsten aggressiverer Männer begünstigt haben - womit wir wieder bei der «Testosteronhypothese » angelangt wären -, ist ungewiss.57 Mit dem Geschlechterverhältnis aber hat Krieg offenkundig zu tun.