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Das Projekt der Aufklärung und die Gegenaufklärung

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Für ein heutiges Verständnis der Aufklärung ist es wichtig, über die Bedeutung nachzudenken, die der Universalismus, die Idee der Einheit der menschlichen Gattung, die individuelle Emanzipation und die Organisation der Gesellschaft um die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit herum im aktuellen Kontext haben können. Das Verhältnis von technologischem Aufschwung und Fortschritt der Freiheit ist weniger einfach, als man es im 18. Jahrhundert glauben konnte. „Wir müssen versuchen, die Analyse unserer selbst als geschichtlich zu einem gewissen Teil durch die Aufklärung bestimmter Wesen durchzuführen. Was eine Reihe historischer Untersuchungen impliziert […]; sie werden auf die ‚aktuellen Grenzen des Notwendigen‘ hin ausgerichtet sein: das heißt auf das hin, was für die Konstruktion unserer selbst als autonome Subjekte nicht oder nicht mehr unerlässlich ist.“12

Wenn allerdings die Frage, wer wir sind, untrennbar damit verbunden ist, welche Haltung wir zur Aufklärung einnehmen, so liegt das unter anderem daran, dass sie ein gesellschaftliches und politisches Projekt ist und dieses Projekt heutzutage von allen Seiten attackiert wird, von Reaktionären ebenso wie von manchen Progressiven, die jeglichen Universalismus unter Imperialismusverdacht stellen. Daher sind Bestrebungen, die Aufklärung fortzuführen, Angriffen sowohl von denjenigen ausgesetzt, die sie für ungeeignet für die Herausforderungen unserer Zeit halten, als auch von jenen, die ihr Emanzipationsprojekt beendet sehen wollen.

Die Fragestellung sollte sich allerdings nicht auf genealogische Analysen beschränken, die nach Michel Foucaults Ansicht darauf abzielen, die Verkehrung des Wissens in Macht nachzuzeichnen und die Hegemonie einer Vernunft anzuprangern, die blind für Unterschiede ist. Das bedeutet keineswegs, dass der Prozess der Aufklärung, also die Kritik, die sich von Beginn des 18. Jahrhunderts bis heute von links wie von rechts gegen sie gerichtet hat, keinerlei Relevanz besäße. Die Analyse unserer Epoche ist untrennbar damit verbunden, sich der Misserfolge und der Verblendungen der Aufklärung bewusst zu werden. Diese Misserfolge und das mit dem modernen Rationalismus verbundene Zerstörungspotenzial müssen mit größter Aufmerksamkeit untersucht werden, wenn man die Versprechungen der Aufklärung, als da sind individuelle und kollektive Emanzipation und Frieden, einlösen will. Allerdings verlangen die Begegnung mit uns selbst und die Herausforderungen, vor die wir gestellt sind, zugleich mehr Kühnheit und Ernsthaftigkeit, als die postmodernen Philosophen dachten.

Tatsächlich glaubte in den sechziger Jahren und bis zu Beginn der neunziger Jahre niemand, dass sich in Frankreich geborene Menschen von fanatischen Denkweisen wie denen der Islamisten verleiten lassen könnten oder dass der Nationalismus in mehreren europäischen Ländern wiederaufleben würde. Und obwohl Fragen wie die begrenzten Ressourcen der Erde, die ökologischen und demografischen Herausforderungen, das Leiden, das unser Konsumverhalten den Tieren auferlegt, in Berichten behandelt wurden und neue wissenschaftliche Teildisziplinen wie Umweltethik und Tierethik entstehen ließen, blieben diese Themen, die selten miteinander verknüpft wurden, doch recht marginal.13

Anders ausgedrückt: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Ansicht, Hauptziel sei es, die Diskriminierung anderer Menschen zu bekämpfen und Machtmissbrauch, Freiheitsverlust, totalitäre Bedrohung und wirtschaftliche Ungleichheit anzuprangern. Die Kritik, die an der Aufklärung vorgebracht wurde, diente nach wie vor ihren Idealen, nämlich der individuellen Freiheit und der Gleichheit. Zwischen den Verfechtern der liberalen Demokratie und den Kommunisten gab es zwar heftige Konflikte, aber sie bezogen sich auf die Frage, wie sich Freiheit und Gleichheit, Individuum und Kollektiv in Einklang bringen ließen. Der Kommunismus, der die Gleichheit durch die Revolution und die Diktatur des Proletariats erzwingen wollte, brachte Totalitarismus hervor, gründete sich aber nicht auf Rassismus. Sein Glaube an einen Fortschritt der Geschichte und sein Gleichheitsideal standen in der Nachfolge der Aufklärung, da er die bürgerliche Revolution mit ihrem Schwerpunkt auf den formalen Freiheiten durch eine proletarische Revolution übertreffen wollte, die jedem Zugang zu materiell anständigen, reale Freiheiten garantierenden Lebensbedingungen verschaffen sollte. Dagegen werben Neonazis und rechtsextreme Parteien, die gegenwärtig in manchen europäischen Ländern die Wahlen gewinnen, mit ihrem rassistischen Hass, ihrer Fremdenfeindlichkeit und ihrer Verachtung für Kosmopolitismus und Menschenrechte und richten sich damit durchweg gegen die Ideale der Aufklärung.

Was die Begründer der Tierethik und der Tiefenökologie angeht, so prangerten sie den Humanismus der Aufklärung, also deren Konzeption der Freiheit als Loslösung von der Natur, und ihren Anthropozentrismus an, der dazu führt, Ökosystemen und anderen Lebewesen lediglich einen instrumentellen Wert beizumessen und damit deren uneingeschränkte Ausbeutung zu rechtfertigen. Allerdings beinhaltete diese Kritik weder ein Infragestellen demokratischer Institutionen noch deren Ersatz durch das, was manche als Ökofaschismus bezeichnen. Arne Næss und Aldo Leopold, von dem er sich inspirieren ließ, waren sogar überzeugt davon, dass die Dezentrierung der Ethik, die zu den Menschenrechten und zur Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen geführt hatte, sich in der Bekräftigung des intrinsischen Wertes der Ökosysteme und anderer Formen von Leben fortsetzen müsse. Was die Dekonstruktion speziesistischer Vorurteile angeht, so ergibt auch sie sich aus der Überwindung des Anthropozentrismus.14

Heutzutage ist das Vertrauen in das Individuum als Vernunftwesen geschwunden, und das entzieht dem Emanzipationsideal, das die Fähigkeit eines jeden impliziert, sich von der Tyrannei der Sitten zu befreien, jegliche Glaubwürdigkeit. Die Demokratie, die auf der Freiheit und Gleichheit sowie auf der Beratschlagungsfähigkeit der Bürger beruht, wird ebenfalls attackiert oder gilt als Illusion. Der Partikularismus, der im Multikulturalismus dazu diente, die Minderheitenrechte und den Wert einer jeden Kultur anzuerkennen, verwandelt sich in Nationalismus: Kulturen werden nicht mehr bloß als unterschiedlich angesehen, sondern als so unvereinbar und ungleich, dass Dialog und Vermischung zwischen ihnen weder als möglich noch als wünschenswert gelten. Und schließlich lehnen sowohl diejenigen, die dazu aufrufen, die Energie- und Ernährungswende mit Zwangsmitteln herbeizuführen, als auch die Verfechter des produktivistischen Modells die Idee ab, dass man Rücksicht auf die anderen Lebewesen nehmen und die Natur durch eine verantwortungsvolle Politik schützen muss, die es ermöglicht, die Veränderung von Produktionsweisen und Konsum so zu begleiten, dass Pluralismus und demokratische Verfahren respektiert werden.

Daher müssen wir über die Kritik oder die Dekonstruktion des in der Aufklärung Ungedachten hinausgehen. Heutzutage genügt es nicht mehr, auf die Kritiker der Aufklärung zu reagieren, vielmehr ist es notwendig, eine neue Aufklärung zu betreiben. Diese muss einen positiven Inhalt haben und auf der Basis einer Anthropologie und einer Ontologie, die die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts berücksichtigt, ein Emanzipationsprojekt präsentieren – und diese Herausforderungen sind zugleich politischer und ökologischer Natur sowie mit unserem Zusammenleben mit anderen, menschlichen wie nichtmenschlichen, Lebewesen verknüpft.

Der kapitalistischen Vorstellungswelt, die Individuen keine andere Perspektive als Produktion und Konsum bietet und die Vergesellschaftung auf Wettbewerb und Fremdbestimmung gründet, muss das neue Aufklärungsprojekt ein anderes Narrativ entgegensetzen. Bei der Präzisierung des Inhalts sollte man wiederum nicht vergessen, dass die Aufklärung sich auch durch das definiert, was sie bekämpft, und dass unsere Epoche von einem heftigen Kampf gegen sie geprägt ist, wie sowohl die populistischen Strömungen als auch der Hass auf die Vernunft, die Ablehnung des Universalismus und die Versuchung belegen, die Gesellschaft an dem auszurichten, was die Menschen trennt, und nicht an dem, was sie gemeinsam haben. Der Sinnverlust und der Rückzug des Staates gegenüber der Weltwirtschaftsordnung, der eine Kommerzialisierung des Lebendigen nach sich zieht und den Planeten zerstört, nähren zudem bestimmte Motive, die bei den Verfechtern der Gegenaufklärung zu finden sind, beispielsweise den Relativismus und die Verachtung gegenüber demokratischen Institutionen. Damit soll keineswegs behauptet werden, die Skepsis gegenüber der Aufklärung sei im Grunde faschistisch, aber unbestreitbar erleichtert sie den Aufstieg des Faschismus, indem sie die Möglichkeiten des Widerstandes gegen ihn schwächt.15

Anders ausgedrückt: Wenn wir unsere Gegenwart kritisch betrachten und die Aufklärung als Projekt sehen, das dem Lauf der Geschichte eine gewisse Ausrichtung geben will, lässt sich das Gegensatzpaar Aufklärung/Gegenaufklärung nicht ignorieren. Dabei muss man sicher die große Bandbreite der Gegenaufklärung berücksichtigen, damit man nicht jene, die wie Isaiah Berlin befürchten, dass die hegemoniale Vernunft in Totalitarismus verfällt, mit den Verfechtern einer Rückkehr zum Abstammungsprinzip (ius sanguinis) in einen Topf wirft.16 Diese wichtigen Nuancen dürfen allerdings nicht vergessen lassen, dass die Vernunftverächter sich nicht ausschließlich in Akademikerkreisen äußern; vielmehr vertreten sie in der Öffentlichkeit ein politisches und gesellschaftliches Projekt, das die Unterdrückung Einzelner beinhaltet, sei es, indem es eine theologisch-politische Ordnung befürwortet, die gegen individuelle und gesellschaftliche Emanzipation gerichtet ist, oder indem es frühere faschistische Regime nachahmt, die verschiedene Lieblingsthemen der Gegenaufklärung wie die Ablehnung des Universalismus, den kulturellen Relativismus und den Nationalismus mit einer gewissen Technikfaszination verknüpften.

Die neue Aufklärung muss nicht nur imstande sein, auf die Kritik an der Aufklärung der Vergangenheit zu reagieren, sondern sie muss darüber hinaus auch die Grundlagen verändern, auf denen ihr Rationalismus und Universalismus beruhen, um nicht mehr in Verdacht zu geraten, sie ermögliche Barbarei, zerstöre den Planeten und sei blind für Unterschiede. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, sich dem Projekt derer entgegenzustellen, die sie gegenwärtig bekämpfen, einem Projekt der Gegenaufklärung, verstanden nicht als Geschichtsepoche, sondern als „intellektuelle Strukturen“.17

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Kritiker der Aufklärung von den Verfechtern der Gegenaufklärung zu unterscheiden. Die feministische und postkoloniale Kritik an der Aufklärung richtet sich gegen Rationalismus, Universalismus und Vertragstheorien, dient jedoch einem Projekt der Emanzipation und Gleichheit im Geiste der Aufklärung. Um das Versprechen der Gleichheit und Gerechtigkeit, das der Aufklärung wichtig war, einzulösen, war es notwendig, manche ihrer Voraussetzungen wie den Glauben an einen Staat und ein Subjekt, die angeblich geschlechtsneutral sind, anzuprangern und die rassistischen Vorurteile zu bekämpfen, die beispielsweise erklären, warum es Jefferson nicht gelang, in der Unabhängigkeitserklärung 1776 die Abschaffung der Sklaverei durchzusetzen. Daher ist die Kritik des Multikulturalismus und des Feminismus an der Aufklärung insofern radikal, als sie dem Universalismus den Partikularismus entgegensetzt, aber sie tut dies im Namen der Prinzipien von Freiheit und gleicher Würde eines jeden Menschen und in diesem Sinne für die Aufklärung.

Dagegen richtet sich die Gegenaufklärung mit ihrem Angriff auf den Universalismus nicht nur gegen die philosophischen Grundlagen der Aufklärung, sondern auch gegen ihren Geist und ihre Prinzipien sowie gegen die damit einhergehenden demokratischen Institutionen. In diesem Fall dient die Kritik an der Aufklärung einem Projekt, das der Emanzipationsidee und der Idee von Freiheit und Gleichheit als Grundlagen der politischen Ordnung feindlich gegenübersteht. Die Idee einer Einheit der menschlichen Gattung abzulehnen, die Menschenrechtsphilosophie zu verachten, Kosmopolitismus und Vernunft zu hassen, Anti-Intellektualismus, Relativismus und ethnischer, sprich: biologischer Determinismus – diese Einstellungen benutzen die Verfechter der Gegenaufklärung früher wie heute als Waffen. Und diese Waffen setzen sie ein, um für geschlossene Gesellschaften einzutreten und den Nationalismus und dessen Phantasmagorie einer apriorischen Einheit des Volkes – gedacht als organischer, kulturell und ethnisch homogener Korpus, der die Öffnung gegenüber dem anderen und den Zugang des Fremden als Beeinträchtigung seiner Integrität wahrnimmt – zur Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu machen.

Das Zeitalter des Lebendigen

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