Читать книгу Das Zeitalter des Lebendigen - Corine Pelluchon - Страница 17

Alte und neue Aporien Der Hass auf den Körper und auf das Andersartige

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Die Möglichkeit, dass Freiheit in Faschismus umschlägt, bleibt aktuell, aber die Analyse der Widersprüche, die unserer Epoche eigen sind, zeigt neue Antinomien auf. So ist der Ökonomismus, der die Unterwerfung sämtlicher Aktivitäten unter das Diktat des Profits bedeutet, ein Merkmal des gegenwärtigen Kapitalismus und ein Ergebnis der instrumentellen Rationalität. Er organisiert die Produktion nach standardisierten Verfahren, verwandelt Landwirtschaft und Tierhaltung in Industrien und führt zur Verdinglichung von Menschen und Lebewesen. Zudem ist er unvereinbar mit der Aufrechterhaltung einer gesunden Demokratie, weil er die Politik auflöst und zu einer bloßen Verwaltung nach Zahlen verkommen lässt, die nicht an die verschiedenen Kontexte angepasst wird.

Dieselbe Logik erklärt auch die Spannungen, die zwischen der Berücksichtigung ökologischer Herausforderungen und der sozialen Gerechtigkeit bestehen. Da diese Konflikte von einem Gegensatz ausgehen zwischen solchen Menschen, die vom Ende der Welt reden, und jenen, die voller Sorge ans Monatsende denken, sind sie in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass die Ökologie atomistisch dargestellt wird. Begreift man die Ökologie dagegen als umsichtige Art, unsere Erde zu bewohnen, wird sie nicht länger allein auf ihre Umweltaspekte reduziert, also auf den Kampf gegen Erderwärmung, Umweltverschmutzung und Abnahme der Artenvielfalt. Vielmehr zieht man dann die gerechte Verteilung der Kosten von Umweltverschmutzung in Betracht, berücksichtigt geografische sowie soziale Kontexte und würdigt lokales Know-how, da die undifferenzierte Anwendung von Normen auf verschiedene Territorien sinnlos ist, wenn es um die Energiewende und die Förderung ökologisch nachhaltigerer Landwirtschaftsmodelle geht.

Die Kluft zwischen der wachsenden Zahl von Menschen, die sich für das Tierwohl interessieren, und dem Fehlen von Maßnahmen, die die Lage der Tiere tatsächlich verbessern, darf nicht allein als Ausdruck unserer Unfähigkeit interpretiert werden, Denken und Handeln in Einklang zu bringen. Die Misshandlung von Tieren ist zugleich ein Spiegel unserer Zivilisation und unterstreicht deren inhärente Gewalt. Wieder einmal ist die Diagnose der Begründer der Frankfurter Schule erhellend, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Herrschaft und der Beherrschung der äußeren und inneren Natur hervorhoben. An der Gewalt gegen andere und der Verdinglichung anderer Lebewesen ist auch die Verachtung unserer Körperlichkeit wesentlich beteiligt, die mehr umfasst als die Tatsache, einen Körper zu haben und sterblich zu sein, sondern auch eine Art und Weise beinhaltet, das wahrzunehmen, was sich unserer Kontrolle und unserer Planung entzieht.

Unserer Ansicht nach bildet die Schwierigkeit, sich das Andersartige vorzustellen und tatsächlich die Lehren aus unserer Körperlichkeit als gezeugte, sterbliche Wesen zu ziehen, die Verbindung zwischen den alten und den neuen Aporien, den von den Vertretern der Kritischen Theorie analysierten Pathologien der Gesellschaft und ihren aktuellen Ausprägungen. Dieses Ungedachte ist auch das, was das Fortschrittsdenken verdrängt hat.56 Denn es baut darauf auf, den Körper auf Distanz zu halten und ebenso zu beherrschen wie die Natur und andere Lebewesen, die es zu Objekten macht, indem es deren Funktionsweise auf Ursachen zurückführt, auf die sich einwirken lässt. Der Gegensatz von Geist und Körper, Kultur und Natur, Mensch und Tier, Freiheit und Instinkt, Existenz und Leben ist charakteristisch für den Rationalismus, der sich mit und nach der Aufklärung durchsetzte, obwohl sich manche ihrer Vertreter, wie Rousseau und Diderot, bemühten, das Sinnliche und den Körper zu rehabilitieren und sich der für die abendländische Tradition typischen Aufspaltung zu widersetzen. Diese Dualismen, die von einer Unterordnung eines dieser Begriffe unter den anderen – der Natur unter die Kultur, des Körpers unter den Geist, des Lebens unter die Existenz und des Tieres unter den Menschen – ausgehen, begründeten einen Humanismus, den die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen so zu erneuern anstrebt, dass er seinen Chauvinismus und seine Unfähigkeit überwindet, sich dem Andersartigen zu öffnen. Denn der Kern des Problems ist die Ablehnung der Alterität: Wenn das Subjekt die positive Seite der Unterschiedlichkeit nicht erkennt, macht es aus dem Anderen, der Natur, den Tieren und Menschen, die eine von seiner verschiedene Lebensweise haben, Untergeordnete oder Mittel im Dienst seiner Ziele und tendiert dazu, das Lebendige auf einen Mechanismus zu reduzieren. Ebenso erzeugt die Andersartigkeit des Körpers oder der Aspekte in ihm, die sich uns entziehen und unsere Grenzen unterstreichen, Scham und ein Ohnmachtsgefühl, das wir verdrängen. Das erklärt zum Teil die Verachtung gegenüber Lebewesen, die mit ihrem Körper gleichgesetzt werden oder Verletzlichkeit verkörpern. Was den Tod angeht, so wird er zunehmend als etwas wahrgenommen, was es um jeden Preis abzuwehren gilt und was als Scheitern begriffen wird.

Die dreifache Herrschaft, auf der das Fortschrittsdenken basiert, führt heutzutage zu einem System, das extreme Formen annimmt und erhebliche kontraproduktive Auswirkungen zeitigt. Die Entmenschlichung und die psychischen Schäden, die es anrichtet, werden weiterhin verleugnet, was die Fähigkeit der Menschen beeinträchtigt, sich von der Herrschaft zu befreien, und sie paradoxerweise dazu bringt, ein System aufrechtzuerhalten, das sie leiden lässt. So setzt sich die Herrschaft der Berechenbarkeit fort und mit ihr die Hybris, die in unserem Konsumverhalten ebenso um sich greift wie in unserem Verhältnis zu Technologien und natürlichen Ressourcen. Die von diesen Phänomenen angetriebene Angleichung der Lebensweisen und Kulturen verschlimmert die Zerstörung der Ökosysteme und die Abnahme der Artenvielfalt und bewirkt, dass der Sinn für Schönheit und für den eigentlichen Wert der Dinge verlorengeht. Alle gewöhnen sich an das Leben in einem System, das anderen Lebewesen und selbst Menschen, die ihnen selbst nicht gleichen, wenig Bedeutung beimisst.

Es ist die destruktive Logik der irregeleiteten, beherrschenden Vernunft, die in diesem Prozess der Moderne im Spiel ist. Mit der Feststellung, dass es der Aufklärung ebenso wie der Gegenaufklärung an einer Vorstellung von der Alterität fehlt und dass sie nicht alle Konsequenzen daraus zieht, die Körperlichkeit ernst zu nehmen, zeigen wir zugleich auf, inwiefern ihre Anthropologie es ihr nicht erlaubt, einen nichthegemonialen Universalismus zu entwickeln, der etwas anderes als die Verteidigung einer bestimmten Kultur wäre und sich auf die allen Menschen gemeinsamen körperlichen und irdischen Existenzbedingungen gründen würde. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Biologismus, mit dem die Gegenaufklärung begründet, das Abstammungsprinzip durchzusetzen und das Individuum an seinen Körper zu fesseln, nichts mit der Körperlichkeit zu tun hat. Denn diese beinhaltet die Einsicht, dass der Sinn nicht ausschließlich durch das Bewusstsein konstituiert wird, und geht mit dem Eingeständnis einher, dass wir verletzliche, gezeugte, sterbliche Wesen und zudem abhängig von anderen, von der Natur und den Elementen sind. Außerdem unterstreicht die Körperlichkeit die Bedeutung der Lust, die eine Unabhängigkeit in der Abhängigkeit zum Ausdruck bringt und unser Lebensgefühl stärkt. Auf der Körperlichkeit des Subjekts zu bestehen verweist anders als der Biologismus nicht auf den Essentialismus. Und auch wenn diese Herangehensweise an den Materialismus der früheren Aufklärung erinnert und ihn radikalisiert, so ist sie doch nicht mit dem Lob sinnlicher Freuden vergleichbar, das den freigeistigen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts eigen war.

Von der Körperlichkeit des Subjekts zu sprechen bedeutet, zuzugeben, dass die menschliche Existenz sich nicht allein unter dem Blickwinkel eines Plans begreifen lässt, sondern dass Passivität, Empfänglichkeit, Abhängigkeit von anderen, von anderen Lebewesen und von Ökosystemen das Subjekt grundlegend konstituieren. Die Körperlichkeit des Subjekts derart ernst zu nehmen bildet die Grundlage für eine andere Anthropologie als derjenigen der früheren Aufklärung, die in der Willensfreiheit das charakteristische Merkmal des Wesens oder der Natur des Menschen sah. Die conditio humana, die in der phänomenologischen Beschreibung des Daseins, verstanden als fleischliches Wesen, das niemals von den anderen Lebewesen und seiner es prägenden geografischen und sozialen Umwelt zu trennen ist, deutlich wird, hat nichts mit einer menschlichen Natur zu tun, die, wie in der antiken Kosmologie oder im Christentum, einem Modell der Einzigartigkeit entspricht. Dennoch drückt diese Phänomenologie der Körperlichkeit eine Form des Universalismus aus, da sie die Schicksalsgemeinschaft augenfällig macht, die alle Lebewesen verbindet. Sie bringt unsere Verletzlichkeit zum Vorschein, die eine Ohnmacht im Zentrum der Macht ist, unsere prekäre Lage, unsere Sterblichkeit, unser Angewiesensein auf andere und auf Fürsorge. Unsere Geburt zeugt von den Überschneidungen zwischen unserem Leben und dem unserer entferntesten Vorfahren und unserer Nachkommen sowie von der Gleichheit aller Menschen und der Absurdität des Rassismus.

Gegenwärtig verbünden sich die reaktionärsten Ideologien mit den aggressivsten Nationalismen, um Druck auf die Staaten auszuüben und Einfluss auf den Lauf der Welt, die Wahlergebnisse, die Wirtschaft, die Produktionsweisen sowie auf die Politik in Bereichen wie Gesundheit, Landwirtschaft, Umwelt und so fort zu nehmen. Dieses düstere Bild ist Ausdruck der aktuellen Gegenaufklärung, die sich weder gegen Technik noch gegen Rationalisierung wendet, da sie erstere für ihre Zwecke nutzt und bestrebt ist, ihre Kontrolle über die Realität dank der Letzteren auszuweiten und zu stärken. Wenn sie behauptet, lediglich Religion und Traditionen könnten gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen und die Identität eines Volkes stiften, instrumentalisieren sie beides, denn ihr Hauptziel ist es, eine gesellschaftliche und politische Ordnung zu etablieren, die sich auf Herrschaft gründet und zu diesem Zweck ohne Zögern die modernsten Technologien einsetzen würde. Die Gegenaufklärung von heute richtet sich ebenso wie die frühere gegen das Ideal individueller Emanzipation und gegen den Aufbau einer Gesellschaft, die allen Menschen die gleiche Würde zubilligt. Sie versteht die Zivilisation als Gegensatz zur Natur, will die äußere und innere Natur beherrschen und fördert damit die Dressur der Psyche, die unbegrenzte Ausbeutung der Ressourcen und die Unterwerfung der Tiere, die zugleich den niederen, animalischen Teil des Menschen symbolisieren, den es zu bändigen gilt.

Diese Gewalt gegenüber anderen Lebewesen war auch charakteristisch für die frühere Aufklärung. Bei ihr diente die Beherrschung der äußeren und inneren Natur allerdings der Förderung einer Gesellschaft Gleicher, die als Zeichen moralischen und gesellschaftlichen Fortschritts und als Bedingung für Frieden galt. Aber auch die frühere Aufklärung sah Vernunft und Zivilisation als Gegensatz zur Natur.57 Sie scheiterte, weil sie ignorierte, dass zur Naturbeherrschung auch die Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen und gesellschaftliche Herrschaft gehörten. Zudem sah sie nicht voraus, dass es zu einer Beschneidung der Subjektivität führen würde, die Menschenrechte auf das allein durch seine Selbsterhaltung definierte Subjekt zu gründen, und dass die Expansion und das Streben nach Reichtum und Wachstum nicht ewigen Frieden, sondern Krieg nach sich ziehen würden. Leo Strauss sagte: „[…] wenn Gesellschaften ‚wachsen‘, besteht keinerlei Garantie, dass sie anderen nicht das Sonnenlicht nehmen: Wer ‚Wachstum‘ predigt, ohne über den Wachstumsbegriff nachzudenken, über den Gipfelpunkt, über den hinaus es kein Wachstum geben kann, der predigt Krieg.“58

So konnte die Aufklärung ihre Versprechen nicht halten, weil die Allianz von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Brüderlichkeit wurzelt, die voraussetzt, dass man sich anderen verbunden und für sie verantwortlich fühlt. Wenn man die Vernunft als Gegensatz zur Natur begreift und den Gesellschaftsvertrag auf eine Freiheitsphilosophie gründet, in der sich jeder in Abgrenzung zu den anderen definiert, in der das Eigeninteresse lediglich einen oberflächlichen, prekären Frieden sichern kann, der nur so lange währt, wie ausreichende Ressourcen vorhanden sind, kann man weder eine echte politische Gemeinschaft schaffen noch das Umschlagen des Liberalismus in sein Gegenteil verhindern. Sobald die wirtschaftlichen Bedingungen und die Verknappung der Ressourcen dieses Streben nach Wohlergehen, das die Triebfeder für den Zusammenhalt in der liberalen Demokratie ist, hinfällig machen, kommt es zu Misstrauen und Hass.

Rivalität, Konkurrenz und Streben nach wechselseitigem Vorteil können keinen dauerhaften Frieden gewährleisten, denn „der Friede muß mein Friede sein“.59 Meine Freiheit wird eingegrenzt,60 das heißt, sie wird durch meine Verantwortung für den anderen gebeugt, dessen Existenz mein Recht auf alles infrage stellt. Die Verantwortung, aber auch die Selbstbeschränkung, die Art, wie ich anderen in meinem Leben Raum gebe und mich darum sorge, dass „mein ‚Platz an der Sonne‘, mein Zuhause, nicht bereits widerrechtliche Inbesitznahme von Lebensraum [ist], der Anderen gehört“,61 verändern die Freiheit von innen heraus. Eine politische Theorie, die sich auf so definierte Subjekte stützt, hat somit nichts mit dem Gesellschaftsvertrag zu tun, wie er von Hobbes bis Rawls formuliert worden ist. Eine solche Gesellschaft, deren Struktur nicht im Wesentlichen durch den wechselseitigen Vorteil geprägt ist, erlaubt es, bei den Menschen ein Gefühl für Gerechtigkeit zu kultivieren, statt die Gemeinschaft als Spielfeld rivalisierender Freiheiten wahrzunehmen, die – zumal in Krisenzeiten – keine Solidarität zulassen. Da die Einhaltung der Gesetze nicht in erster Linie in der Angst wurzelt, besteht weniger die Gefahr, dass der Liberalismus in Tyrannei, sprich Totalitarismus, abgleitet, als bei einer Politik, die sich auf eine atomistische Konzeption des Subjekts stützt, das wie bei Hobbes durch Selbsterhaltung, Eitelkeit und den Kampf eines Jeden gegen Jeden definiert ist.

Wenn das Recht eines Jeden in Gegensatz zu dem des Anderen steht und Gier und Rivalität nur durch die Angst vor dem Schwert oder durch beiderseitige Interessen begrenzt sind, ist die Gemeinschaft zwangsläufig fragil. Eine Gesellschaft, die nichts weiter als die Summe individueller Freiheiten ist und die nicht darauf aufbaut, was das Recht des anderen Menschen jedem von uns abverlangt,62 hat den Turbulenzen, die mit Wirtschaftskrisen und dem durch Technologien, Demografie und klimatische Störungen erforderlichen Wandel einhergehen, nichts entgegenzusetzen. Eine solche anthropologische Grundlage der Politik, die den Wettbewerb ins Zentrum der Wirtschaft und der Macht stellt, kann nichts anderes hervorbringen als Klassenkampf und Krieg zwischen Staaten.

Das Zeitalter des Lebendigen

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