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Die Aufklärung als kritisches Hinterfragen und als Prozess

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Kennzeichnend für die Aufklärung ist, dass sie die Autonomie der Vernunft und die Entschlossenheit des Individuums, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, bekräftigt. Im Grunde bezeichnet sie eine Haltung oder ein „philosophisches ethos“, das darin besteht, die Gegenwart kritisch zu hinterfragen, indem man seine Epoche zum Untersuchungsgegenstand macht, um die Herausforderungen aufzuzeigen, die sie offenbaren mag.2 Indem sich die Aufklärung als Teil der Geschichte der Moderne begreift, definiert sie sich zugleich in Abgrenzung zu antimodernen Einstellungen, die sich seit ihrer Entstehung gezeigt haben.

Diese Sicht der Aufklärung beinhaltet, dass unsere Identität davon abhängt, wie wir ihr Vermächtnis annehmen oder ablehnen, und dass dieses Erbe unvollendet geblieben ist. Die Begriffe, die sie ins Zentrum von Philosophie, Wissenschaft, Moral, Bildung, Politik und Ästhetik gerückt hat, stellen zwar einen erkennbaren Kern dar, aber ihr Inhalt entwickelt sich weiter. Die Aufklärung ist nicht statisch; sie verändert sich im Laufe der Zeit und abhängig von den Orten, an denen sie sich verbreitet, nimmt neue Elemente auf und ordnet sie je nach Ereignissen oder Entdeckungen und unter dem Einfluss ihrer Kritiker neu. Da heutzutage nahezu niemand mehr von einem Fortschritt der Zivilisation zu sprechen wagt und die Moderne seit dem 20. Jahrhundert Ausdruck einer verrückt gewordenen Vernunft zu sein scheint, muss die Aufklärung Selbstkritik üben.3 Die zentrale Idee des vorliegenden Buches ist, dass im aktuellen ökologischen, technologischen und geopolitischen Kontext die einzige Möglichkeit, ihr Werk der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation fortzuführen, in einer Revision ihrer Grundlagen besteht, die zur Überwindung ihres Anthropozentrismus und ihrer Dualismen – vor allem des Gegensatzes von Natur und Kultur – führt. Das ist zudem das einzige Mittel, Zusammenbruch und Krieg zu vermeiden, die die unausweichlichen Folgen eines irrigen und entmenschlichenden Entwicklungsmodells zu sein scheinen.

Auch weiterhin lässt sich die Aufklärung so darstellen, dass ihre Einheit, basierend auf einem ihre Kohärenz unterstreichenden Korpus von Lehrsätzen,4 betont wird oder dass im Gegenteil ihre Heterogenität, also ihre Antagonismen, hervortreten.5 Beide Interpretationen sind gleichermaßen stichhaltig. Wenn ein Denker das Bedürfnis verspürt, sich zur Aufklärung zu äußern, geschieht es in der Regel, weil er es für notwendig hält, seine Zeitgenossen vor den in ihr lauernden Gefahren zu warnen oder sie an die Versprechen zu erinnern, die sie einzulösen haben. Zudem gibt es die Geschichte der Philosophie der Aufklärung in mehreren Versionen, und in den verschiedenen Darstellungen, die den Werdegang der Moderne nachzeichnen, werden keineswegs die gleichen Autoren als Helden gefeiert oder als Verräter gebrandmarkt.

Die Aufklärung ist also zugleich eine Epoche, ein Prozess und ein Projekt. Vor allem aber ist sie der Akt, in dem eine Generation durch Selbstreflexion eine neue Vorstellungswelt hervorzubringen versucht. Versteht man sie als Epoche, die durch ihre Selbstbenennung ihr Motto und ihre Aufgabe zum Ausdruck bringt,6 so ist sie nicht an ein Jahrhundert und an einen Ort – Europa – gebunden und beschränkt sich nicht auf die Synthese von Ideen, die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert verbreitet wurden und in der Französischen Revolution gipfelten.7 Aber sie ist auch ein Ereignis: Seine eigene Zeit als Epoche zu sehen und sie in den Bereich der Aufklärung einzustufen, läuft auf die Vorstellung hinaus, dass bestimmte Veränderungen eine neue Ära einleiten, die die Geschichte prägen und sogar eine Dimension der Hoffnung eröffnen wird.

So waren sich die Philosophen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert bewusst, dass sie dazu beitrugen, die Moderne einzuleiten, die untrennbar mit der Notwendigkeit verknüpft ist, „Selbstvergewisserung“8 anzustreben und Gesellschaftsordnung, Moral und Politik auf Vernunft zu gründen. Sie wussten, dass es trotz der Kämpfe, die sie zur Verteidigung dieses Ideals würden führen müssen, von nun an unmöglich war, die Stützpfeiler der alten Ordnung für gesichert zu halten und sich auf die Autorität der Tradition zu berufen, sei es im Bereich der Religion, der Sitten oder der gesellschaftlichen Hierarchien. Indem die Aufklärung ihr Jahrhundert zum Studienobjekt machte, leitete sie zudem eine neue Art des Philosophierens ein, in der jede zukünftige Denkergeneration die Möglichkeit hatte, den Lauf der Geschichte durch Kritik zu beeinflussen.

Somit reihen sich diejenigen, die es für möglich und sogar notwendig halten, an die Ideale der Aufklärung anzuknüpfen, in einen Emanzipationsprozess ein, der zugleich die Autonomie des Denkens, die Regierung des Selbst und die Bedingungen der politischen Freiheit betrifft und den sie vollenden wollen. Aus all diesen Gründen lässt sich die Aufklärung nicht mit einem Korpus von Lehrsätzen gleichsetzen, den es lediglich an verschiedene Kontexte, Epochen oder Kontinente anzupassen gälte. Da sie aus einem Streben nach Wahrheit und Freiheit erwächst, das den Kern unseres Menschseins berührt, ist sie eine Begegnung mit uns selbst, und das bedeutet zugleich, dass sie nicht ausschließlich europäisch ist.

Denn zum einen haben die Prinzipien der Gleichheit und Freiheit, die nach und nach zur Einführung der Demokratie in Europa und den Vereinigten Staaten geführt haben, auch andere Regionen der Welt inspiriert, zum anderen liegen die kulturellen Ursprünge der Moderne nicht ausschließlich auf unserem Kontinent.9 So, wie es Einheit und Diversität innerhalb der Aufklärung gibt, sind auch die Ideale der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation vor und nach dem 18. Jahrhundert an mehreren Herden innerhalb und außerhalb Europas entstanden. Je nach kulturellem Kontext haben sie sich unterschiedlich geäußert, wie die englische, deutsche, französische und schottische Ausprägung der Aufklärung, aber auch die äußerst gegensätzlichen Formen belegen, in denen sich die europäische Aufklärung in anderen Völkern verbreitet und zu deren Emanzipation oder Unterdrückung beigetragen hat.10

Darüber hinaus nahm die Emanzipationsidee im Laufe der Zeit diverse Formen an, die gewisse Ansichten, die von als führend geltenden Verfechtern der Aufklärung wie Voltaire, Locke oder Kant vertreten wurden, infrage stellten. Das wird besonders deutlich bei den Forderungen der Feministinnen und den Bewegungen, die sich für Bürgerrechte und die Anerkennung kultureller und ethnischer Minderheiten einsetzten. Indem diese Bewegungen die Menschenrechtsphilosophie nutzten, um die Widersprüche anzuprangern, die zwischen der behaupteten gleichen Würde aller Menschen und dem Festhalten an Sklaverei, der Unterdrückung von Frauen und der Diskriminierung indigener Völker herrschten, bestritten sie den angeblich neutralen Rationalismus der Aufklärung und ihren hegemonialen Universalismus. Außerdem brachten sie die sexistischen und rassistischen Vorurteile einiger ihrer berühmtesten Vertreter ans Licht.11

Diese Paradoxa und das Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Diversität der Aufklärung sind keine Aporien mehr, sobald man sich in Erinnerung ruft, dass die Aufklärung nicht in einer Übertragung von Lehrsätzen auf verschiedene Kontexte besteht, sondern in einer fortwährenden Veränderung von Ideen, die in der Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht mehr genau dieselben sind, die in der Vergangenheit zum Ausdruck kamen. Jede Epoche und jede Gesellschaft kann die Aufklärung neu definieren und ein Potenzial entfalten, das zuvor manchmal nicht ersichtlich war, und sei es auch nur, weil die Polemiken, die immer mit der Aufklärung einhergehen – da sie jeweils eine kritische Reflexion der Gegenwart in Form einer Abgrenzung oder eines Bruchs darstellt –, die von ihr inspirierten Frauen und Männer dazu veranlassen, einen Aspekt stärker zu betonen als einen anderen. So kann man sich in den Maghreb-Ländern auf die Aufklärung berufen, um die Bestrebungen religiöser Vertreter zu brandmarken, die die Gesellschaftsordnung kontrollieren wollen, um eine Theokratie zu errichten. In Frankreich, wo Religion und Politik getrennt sind, dient der Verweis auf die Aufklärung häufig dazu, neue Formen des Obskurantismus anzuprangern, die eine auf Vorurteilen und rassistischem Hass basierende Intoleranz schüren und die Gesundheit der Demokratie gefährden.

Das Zeitalter des Lebendigen

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