Читать книгу Das Zeitalter des Lebendigen - Corine Pelluchon - Страница 19

Todeskultur versus Zeitalter des Lebendigen

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In mehreren Texten unterstreichen Adorno und Horkheimer die unserer Zivilisation innewohnende Gewalt, aber auch den Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung, Unterwerfung der Tiere und Selbstzerstörung der Menschheit. Die nach außen, gegen die Natur gerichtete Gewalt zwingt das Individuum, sie umgekehrt gegen sich selbst auszuüben, und sorgt für eine Dressur des spirituellen Lebens und eine Armut des Denkens, die es zerstört: „Die Tötung des inneren Lebens ist die Quittung dafür, daß die Menschen vor dem äußeren Leben, dem Leben außer ihrem, keine Achtung haben. […] Die Menschen, die bloß sich selbst wollen, machen sich buchstäblich selbst zunichte, an sich selbst rächt sich das Leben für die Schuld, die es am Leben begeht.“65

Was das konkret bedeutet, wird deutlich, wenn Horkheimer von der „grauenvollen Praxis“ spricht, die mit unserem „eigenen Fraß“ verbunden ist: Sie umfasst nicht nur die Opferung von Tieren, die uns lieb sind, vielmehr kann das Verdrängen dieses Massakers auch zum Ausbruch einer zügelloseren Gewalt führen. In Bezug auf die Ablehnung, die manche Spezies erfahren, vermutet er, dass der Abscheu gegen das Töten, den Menschen in den tiefsten Tiefen ihrer Seele hegen, in ihrem Hass auf den Wolf, jenen widerrechtlichen Räuber, zutage tritt.66 Ebenso schreibt Horkheimer über die Darbietungen von Dompteuren wilder Tiere, in diesem Fall Elefanten: „Die Versklavung des Tiers als Vermittlung ihres Daseins durch die Arbeit gegen die eigene und fremde Natur hat die Konsequenz, daß ihnen ihr Dasein so äußerlich ist wie der Zirkusakt dem Tier.“67

Dagegen heißt, mit „offenen Augen“ zu leben, sich der „körperlichen Martern bewußt sein, die jeden Augenblick in Zuchthäusern, Krankenhäusern, Schlachthäusern, hinter Mauern und ohne Mauern, auf der ganzen Erde gelitten werden“.68 Diejenigen, die sich dieses Leidens anderer Lebewesen nicht bewusst sind, haben keinerlei Bezug zur Wirklichkeit; ihre Freiheit und ihr Glück sind unecht, weil sie sich weigern, den tiefgreifenden Zusammenhang zwischen all diesem Leiden anzuerkennen: „Denn in allen Städten der Welt vollzieht sich das Unausdenkbare: Der Henker verrichtet sein Werk im Dunkel und im Licht, an Mensch und Tier, an Kindern, Alten und an solchen, die in den besten Jahren stehen. Er foltert mit und ohne Lizenz […] überall, wo die totale Macht sich austobt.“69

Unsere Kultur, die die instrumentelle Rationalität und die Verdinglichung des Lebendigen durchsetzt, ist eine Kultur des Todes. Die Gewalt, in der unsere Zivilisation wurzelt, ist immer latent vorhanden; allein die Umstände verhindern ihren Ausbruch gegenüber anderen Menschen und ihre offene Manifestation vor den Augen aller. Ein Beweis für diese konstitutive Gewalt unserer und jeder Zivilisation, die nicht vor den abscheulichen Folgen der Naturbeherrschung in und außerhalb des Selbst zurückschreckt, ist die Tatsache, dass sie tagtäglich gegenüber Tieren verübt wird, die nicht in den Genuss von Rechten kommen, die sie der totalen Macht der Menschen entziehen könnten. Am Ende seines Buches Negative Dialektik geht Adorno ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen unserer Todeskultur und der Gewalt gegen Tiere ein:

Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleichtut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst.70

Unsere Kultur gründet sich auf Mord, aber sie kann es sich nicht eingestehen: „Sie perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt, weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße.“71 Auschwitz, das von der Monstrosität und dem Scheitern dieser Kultur zeugt, verpflichtet uns zur Kritik daran. Wir müssen die Gewalt begreifen, die diesem Fortschrittsdenken innewohnt, und zugeben, dass wir umso weniger vor ihr geschützt sind, als wir sie verdrängt haben, und diese Verdrängung sich als das entlarvt hat, was die frühere Aufklärung als „Zivilisation“ bezeichnete. Sämtliche pathologischen Züge der Gesellschaft vom 20. Jahrhundert bis heute zwingen uns dazu, uns dieser Todeskultur bewusst zu werden, indem wir uns der Gewalt stellen, die sich gegen die Körper richtet, und so bis zu den Wurzeln des Übels vordringen, um sie auszureißen, wie man es mit einem Splitter im Fleisch tut.

Wenn man wissen will, warum das Verhältnis zu Tieren eine derart entscheidende Rolle sowohl für die Kritik an der Aufklärung als auch für das Voranbringen einer neuen Aufklärung spielt, sollte sich an das erinnern, was bereits zur Ablehnung des Körpers und der Alterität gesagt wurde, die unsere Zivilisation prägen. Denn Tiere repräsentieren nicht nur die Natur außerhalb von uns, sondern ähneln uns auch in ihrer Leidensfähigkeit. Wenn wir meinen, dieses Leid sei keine große Sache im Vergleich zu dem Profit, der sich aus der Ausbeutung von Tieren schlagen lässt, verharmlosen wir das Übel und berauben uns einer Dimension unserer selbst. Anders gesagt: Die totale Macht, die wir uns über die Tiere anmaßen, und die geringe Bedeutung, die wir ihnen beimessen, spiegeln jenen ursprünglichen Fehler der Zivilisation wider, nämlich unseren mangelnden Respekt gegenüber der äußeren Natur und letztlich auch gegenüber uns selbst. Die Misshandlung von Tieren und deren Banalisierung verdammen uns auch zur Gewalt und zur Projektion einer starken Wut, die mit der Verdrängung eines täglichen Massakers und dem dadurch ausgelösten Abscheu und der Scham einhergeht, auf bestimmte Menschen und nichtmenschliche Lebewesen. Jedes als anders abgelehnte Lebewesen wird auf einen Körper reduziert, mit einem Tiernamen belegt und wie Ungeziefer behandelt, das man vernichtet und auf das man seinen Hass projiziert.

Die extremen Leiden, die unzähligen Tieren, besonders in der Massentierhaltung, zugefügt werden, sind das Ergebnis der Herrschaftslogik unserer Zivilisation. Diese Gewalt, der die meisten Menschen nicht ins Auge sehen wollen, ist der Spiegel dessen, was diese Todeskultur aus uns gemacht hat. Die Logik des Todes, die auch eine Logik des Profits ist, kennt keine Grenzen und führt zu immer schlimmeren Übertretungen. Die einzige Lösung ist, sie aufzugeben. Die schädlichen Auswirkungen auf Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft und die Verirrungen eines Entwicklungsmodells, das die negativen externen Effekte nicht in Betracht zieht und ebenfalls gewalttätig ist, sind heutzutage manifest. Diese offenkundigen Fakten und die Videos, die das Ausmaß des Leidens von Tieren belegen und es allen verbieten, zu behaupten, sie wüssten nicht, was hinter den Mauern der Schlachthöfe vorgehe, müssen uns überzeugen, dass es Zeit ist, den Teufelskreis aus Vernunft und Herrschaft zu durchbrechen.

Es ist tatsächlich an der Zeit, dass wir uns auf den Weg ins Zeitalter des Lebendigen machen, das den Respekt gegenüber Tieren als individuellen, verletzlichen Subjekten mit der Anerkennung des Rechts zukünftiger Generationen, anderer Kulturen und anderer Arten verbindet, von einer gesunden Umwelt profitieren zu können. Die Fähigkeit eines Jeden, diesem Weg zu folgen, setzt voraus, dass er seine eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit akzeptiert, denn ohne die Sorge um sich selbst als fleischliches, verwundbares Wesen, das „lebt von“, Hunger und Durst hat sowie für seine Entfaltung auf bestimmte natürliche und kulturelle Bedingungen angewiesen ist, gibt es weder Mitleid noch Respekt vor anderen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen. Das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit und die Unsicherheit der eigenen Existenz wie auch für die der anderen, die leben wollen und Angst vor dem Tod haben, ist die Bedingung der Selbstbeschränkung. Ohne Bewusstsein für die eigenen Grenzen, besonders für den Tod, dessen nicht repräsentierbarer Charakter das Denken vor Schwierigkeiten stellt, zugleich aber auch eine Offenheit für die Verantwortung für andere und den Willen bewirkt, eine bewohnbare Welt zu fördern, ist es unmöglich, den solidarischen ökologischen Wandel zu betreiben, der auf dem Respekt vor den Grenzen der Erde beruht.

Die Förderung einer bewohnbaren Welt erfordert den Übergang zu einer Lebensweise, die weniger Energie frisst und weniger Konsum beinhaltet, damit die Anderen Zugang zu Ressourcen und Nahrungsmitteln in ausreichender Menge und Qualität haben. Mäßigung und die gerechte Verteilung der Reichtümer wie auch der Kosten der Umweltverschmutzung ergeben sich aus einer Reflexion, die das Dasein und die Ökologie miteinander verbinden. Ersteres ist in seiner Materialität zu begreifen, nicht als etwas, was der Natur entrissen wird. Was die Ökologie angeht, so umfasst sie neben ihren umweltbezogenen und sozialen Dimensionen einen mentalen Aspekt, der den Platz des Menschen in der Natur und seine Integration in eine biotische Gemeinschaft hervorhebt.

So gesehen, besteht in der Ökologie kein Gegensatz zwischen dem Imperativ, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, und sozialer Gerechtigkeit; zwischen Erderwärmung und Kaufkraft. Die Antinomie zwischen dem Ende der Welt und dem Monatsende erwächst aus einem irrigen Verständnis der politischen Ökologie, die sich nicht auf abstrakt und einheitlich definierte juristische und ökonomische Regulierungen beschränken darf. Sie bedeutet vielmehr, dass man zunächst die Bedürfnisse von Milieus unter ihrem Aspekt als Siedlungsraum einschätzt, also abhängig von Geografie, Bodenbeschaffenheit, Klima, Infrastruktur, Kultur und lokalem Know-how. Als nächstes ist es Aufgabe des Staates, gemeinsam mit den verschiedenen beteiligten Parteien die Mittel zu bestimmen, die für den Übergang zu einer postfossilen Gesellschaft am besten geeigneten sind, und Experimente auf dem Gebiet der Energieeffizienz, Gebäudesanierung, Landwirtschaft, Tierhaltung und Ernährung zu fördern. Dieses Ziel lässt sich erreichen, indem er mit fiskalischen Mitteln ökologisch nachhaltige Initiativen unterstützt, die darüber hinaus in Gebieten, die häufig dem Niedergang und der Abwanderung überlassen werden, Arbeitsplätze und Orte der Konvivialität schaffen. Von ökologischem Wandel zu sprechen, ohne an soziale Gerechtigkeit zu denken, das Lokale und das Globale zu verbinden sowie die Autonomie der Menschen und die Dezentralisierung zu fördern, ist ebenso sinnlos, wie eine Wiederbelebung der Demokratie zu befürworten, ohne den Ökonomismus infrage zu stellen.

Die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen ist bestrebt, die Wertschätzung auf Zivilisationsebene zur Geltung zu bringen und die instrumentelle Rationalität durch eine zu ersetzen, die mit der Natur und dem Lebendigen versöhnt ist, um die destruktive Logik zu beenden, die zur Entstehung des Nationalsozialismus, zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, zur Entwicklung einer total verwalteten Gesellschaft und zu einer gewaltigen Industrialisierung geführt hat, die die Luft verschmutzt, die Böden auslaugt und Tieren ungeheures Leid zufügt. Die Reflexion über den Tod, also über die Sterblichkeit, aber auch über Mord, ist unerlässlich, wenn man die Maßlosigkeit und die Allmacht überwinden will, die die selbstmörderischen Tendenzen der Menschheit erklären, und wenn man zu einem gerechteren und konvivialeren, ökologisch nachhaltigen Entwicklungsmodell gelangen will. Sie erlaubt es, Ethik und Gerechtigkeit als das zu begreifen, was dem eigenen Recht im Namen des Existenzrechts anderer Grenzen setzt. Den zutiefst widerrechtlichen Charakter des Mordes anzuerkennen und die Erinnerung an eine auf Mord gegründete Politik wachzuhalten, muss uns dabei helfen, gegen die Verblendung zu kämpfen, die Völker dazu bringt, unüberlegte Risiken einzugehen, die in einen Krieg oder in den ökologischen Zusammenbruch führen können. Diese reflexive Rückkehr zu uns selbst ist notwendig, wenn wir begreifen wollen, warum die Rettung der emanzipatorischen Ideale der Vergangenheit eine neue Aufklärung erfordert und wie uns diese mit uns selbst und mit dem Lebendigen versöhnen kann.

So ist eine neue Aufklärung nicht denkbar, ohne dass wir uns mit dem konfrontieren, was in unserer Zivilisation von ihrer Zugehörigkeit zu einer Todeskultur zeugt. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass unsere Faszination für Gewalt und Mord ein Versuch ist, die Alterität zu vernichten, und wir müssen erkennen, was in unserer Kultur, unserem Verhältnis zur Natur, zum Körper, zu Tieren und zur Technik ebenfalls seinen Ursprung in der Auslöschung des Todes hat, eines Todes, der nicht akzeptiert, sondern abgelehnt, verdrängt und gehasst wird.72 Dann werden wir die Maßlosigkeit, „das zehrende Begehren des Ressentiments nach Genugtuung“,73 die Konsumsucht, die Fetischisierung der Ware, die Verdinglichung des Anderen und anderer Lebewesen in ihren Ursprüngen wesentlich besser verstehen. Denn diese Phänomene sind keine bloße Privatsache; sie sind vielmehr der Kern unserer Wirtschaft und unseres Entwicklungsmodells, und sie werden zu weltweiten Erscheinungen.

65 Max Horkheimer, ,Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‘ und ,Notizen 1949-1969‘, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 2008, S. 285.

66 Ebd., S. 220.

67 Ebd., S. 246.

68 Ebd., S. 395.

69 Ebd., S. 233.

70 T.W. Adorno, Negative Dialektik, S. 359.

71 Ebd.

72 Bei Horkheimer findet sich eine anfängliche Reflexion über die besondere Bedeutung des Todesbewusstseins für die Fähigkeit, nicht mehr der Herrschaft zu unterliegen. Siehe M. Horkheimer, ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‘ und ‚Notizen 1949–1969‘, S. 373 f.: „Ich habe den Verdacht, daß eine richtigere Menschheit unendlich viel mehr im Bewußtsein des Todes leben würde. […] Die Verdrängung, die das gegenwärtige Stadium kennzeichnet, bewirkt die Fehlschätzung der Güter, die läppische Genügsamkeit, das Wichtigtun mit aufgeblähten Lappalien. Das meint nicht die Preisgabe der Lust. Im Gegenteil. So wie die romantische Liebe erst durch die Beziehung zum Tod Süßigkeit gewann, so wird das Leben durch die Aufnahme des Gedankens an ihn zur Erfahrung des Lebens. […] Aber der irrsinnigen Gier, aus der Macht und Gewalt den furchtbaren Charakter annehmen, würde der Grund entzogen, der trotz und gemäß Schopenhauer für den blinden Willen besteht, die Täuschung der unverrückbaren, schlechthin gültigen Realität und der in ihr herrschenden Ordnung.“

73 Ebd., S. 374.

Das Zeitalter des Lebendigen

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