Читать книгу Das Zeitalter des Lebendigen - Corine Pelluchon - Страница 11

Nach der Verfinsterung der Aufklärung

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Auch wenn die Aufklärung sich über das 18. Jahrhundert hinaus fortsetzte, so besteht doch ein Bruch zwischen unserer Situation und der unserer berühmten Vorgänger. Das müssen wir beachten, wenn wir eine Vorstellung davon entwickeln wollen, wie ein neues Emanzipationsprojekt aussehen könnte. Während das Zeitalter der Aufklärung mit einer gewissen Begeisterung und einem Eroberungsgeist einherging, die sich der Gewissheit verdankten, dass nichts den Fortschritt aufhalten könne, kam es im 20. Jahrhundert sozusagen zu einer Verfinsterung der Aufklärung.18

Seit dem Ersten Weltkrieg und vor allem nach der Shoah sind die Hoffnung auf einen Menschheitsfortschritt durch Wissenschaft und Technik und die Idee, eine universelle Moral auf die Vernunft zu gründen, so sehr in sich zusammengebrochen, dass die Kritik am Universalismus und Rationalismus der Aufklärung in Akademikerkreisen praktisch als Pflicht gilt. Jegliche Bestrebungen, über Grundlegendes nachzudenken, wurden von der Postmoderne mit einem Verbot belegt,19 und die Philosophie erlegte sich eine Art metaphysischen Schweigens auf. Diese Verfinsterung der Aufklärung bedeutete keineswegs, dass man alle ihre Ideale aufgegeben hätte, wie die für die 1960er- und 1970er-Jahre prägenden Forderungen – der Ruf nach mehr Autonomie, die Ablehnung von Autoritäten, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, usw. – belegen. Aber im ausgehenden 20. Jahrhundert gab es nur vereinzelte Philosophen, die sich ausdrücklich und unzweideutig auf die Aufklärung beriefen,20 während gleichzeitig die mit Feminismus, Postkolonialismus und Strukturalismus verbundenen Denkrichtungen den Aufklärungsprozess zu einem ihrer Themen machten.21 Hinzu kommt, dass sich in Europa und in anderen Ländern die Gegenaufklärung in der Politik heutzutage am lautesten Gehör verschafft.

Die Aufklärung des 21. Jahrhunderts muss die Kritik aufgreifen, die der Postmodernismus an ihr geübt hat, besonders insoweit sie sich auf das Umschlagen des Rationalismus in sein Gegenteil und des Emanzipationsideals in Tyrannei bezieht. Sie muss akzeptieren, dass ihr hegemonialer Humanismus, der kolonial, patriarchalisch und blind für Unterschiede ist, bekämpft wird.22 Ebenso relevant ist die Verurteilung des Individualismus und des Materialismus, die zu Sinnverlust und Anomie führen, auch wenn man sich davor hüten sollte, die Menschenrechte vorschnell für diese Situation verantwortlich zu machen. Was die Sorgen angeht, die durch eine übertriebene, die umsichtige Nutzung von Technologien nicht zulassende Wissenschaftsgläubigkeit ausgelöst wurden, so werfen sie die Frage auf, welche Bedeutung der wissenschaftliche und technologische Fortschritt heutzutage haben kann.

Aber das, was uns eindeutig von den Männern und Frauen des 18. Jahrhunderts trennt, sind die Vernichtungslager und das Bewusstsein für eine unbezwingbare Destruktivität des Menschen. Mit Auschwitz fand eine „Umkehrung des Zivilisationsprozesses“ statt.23 Damit war eine Grenze überschritten, denn diese Umkehrung geht weit über den Kampf eines jeden gegen jeden hinaus und macht die von der Aufklärung angebotenen Garantien zunichte. Wir müssen die Anthropologie der Aufklärung durch ein anderes epistemologisches Paradigma ersetzen, das Freud 1920 formulierte, als er nach Sabina Spielrein vom Todestrieb als einem wesentlichen, archaischen Zerstörungsdrang der Psyche sprach.24 Daher müssen wir eine neue Aufklärung entwickeln – in dem Wissen dass die Embleme des Fortschritts (Naturwissenschaften, Technik, Medizin) sich in den Dienst der Vernichtung stellen lassen und der Mensch keinerlei Grenzen des Bösen kennt, wenn er Lebewesen vor sich hat, die in seinen moralischen Überlegungen nicht vorkommen und die keinen rechtlichen Schutz genießen.

Zudem verändert die Möglichkeit, die Welt durch die Atombombe zu zerstören, die Beziehung von Technik und Freiheit grundlegend. Generell unterstreichen technologische Innovationen, die durch wissenschaftliche Fortschritte wie die Sequenzierung des menschlichen Genoms und die Gentechnik möglich werden, die Notwendigkeit, klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Naturgesetze oder -phänomene aufdecken, deren Anwendungen, die in den Bereich des Know-how fallen, und der Auswahl der Einsatzwecke von Technologien, also ihrer umsichtigen Nutzung, zu unterscheiden.

Doch obwohl das Licht der Aufklärung verloschen ist, kann eine Zeit neuer Aufklärung entstehen. Die Bedingung dafür ist, dass sie ihre Gesamtsicht um die Begriffe Autonomie, Demokratie, Rationalismus und Fortschritt herum strukturiert, sie neu konfiguriert und das europäische Erbe überdenkt. Ebenso wichtig ist es, die Methoden so zu präzisieren, dass sie die Entwicklung eines politischen Projekts erlauben, gestützt auf eine Anthropologie und eine Ontologie, die weder auf einer Metaphysik noch auf einer religiösen Weltsicht basieren, sondern auf universalisierbaren Existenzstrukturen, die der Idee von der Einheit der menschlichen Gattung und der conditio humana einen Sinn verleihen.25

Das Bewusstsein für die ökologischen, technologischen und politischen Herausforderungen, das wir schärfen müssen, löst Besorgnis aus, ist aber zugleich eine Quelle der Hoffnung und erzeugt in der Zivilgesellschaft eine Energie, die an die des 18. Jahrhunderts erinnert. Die Aufklärung des 21. Jahrhunderts muss diese Hoffnung umsetzen, die sich auf ein ökologisches Projekt stützt, das die Abkehr von einem destruktiven und gewaltsamen Entwicklungsmodell und die Dekolonisierung unserer Vorstellungswelt umfasst, einer Vorstellungswelt, die von der Herrschaft über die Natur und über andere Menschen sowie von der Unterdrückung unserer Empfindsamkeit geprägt ist.26 Einer der Vorboten dieses neuen Zeitalters, das die Verbindung zwischen Fortschritt und Zivilisation erneuern könnte, ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr als eigenes Reich innerhalb eines Reiches sehen, sondern sich ihre Abhängigkeit von der Natur und dem Lebendigen sowie die Schicksalsgemeinschaft eingestehen, in der sie mit anderen, Menschen wie Nichtmenschen, vereint sind.

Eine der in diesem Buch vertretenen Thesen lautet, dass die neue Aufklärung ökologisch ist und ein Bewusstsein für unsere Verwundbarkeit sowie eine Aufgeschlossenheit für das Andersartige erfordert, die ein umsichtigeres Bewohnen der Erde und ein gerechteres Zusammenleben mit den anderen Lebewesen ermöglicht. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Allgemeine Erklärung der Menschheitsrechte,27 die die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vervollständigt, indem sie die Rechte nicht mehr dem einzelnen moralischen Agenten zuspricht, sondern einem Subjekt in Beziehungen, das anerkennt, was es mit vorhergehenden, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen verbindet. Diese Erklärung spezifiziert, dass meine Freiheit nicht mehr nur durch die meiner Mitbürger begrenzt ist, wie es Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte festlegt, sondern auch durch das Existenzrecht zukünftiger Generationen, anderer Kulturen und anderer Spezies sowie durch den Respekt gegenüber dem Natur- und Kulturerbe, das ich als Vermächtnis erhalte und das der ganzen Menschheit gehört.

Die Vorstellung, dass Tiere ein Recht auf unsere moralische Wertschätzung haben und Anspruch darauf erheben können, dass wir ihnen ausdifferenzierte Rechte einräumen und ihre Interessen in unserer Politik berücksichtigen, setzt sich nach und nach weltweit durch. Obwohl die Lage der Tiere in praktischer Hinsicht noch weit davon entfernt ist, sich zu bessern, ist die Anerkennung der Tiere als Subjekte, als verwundbare, individuelle Lebewesen, für deren Existenz wir verantwortlich sind, eine historische Tatsache, die den Kern unserer Menschlichkeit betrifft. Dieser Bewusstwerdungsprozess und die Sorge um die Ökologie, die mehr und mehr, vor allem junge, Menschen äußern, sind Teil einer größeren Bewegung, einer Entwicklung auf zivilisatorischer Ebene, die wir das Zeitalter des Lebendigen nennen.28 Dieses setzt ein Subjekt voraus, das seine Verletzlichkeit und seine Endlichkeit akzeptiert, die Grenzen des Planeten respektiert und seinen eigenen Rechten Grenzen setzt, indem es anderen – Menschen wie Nichtmenschen – Wertschätzung entgegenbringt.

Das Zeitalter des Lebendigen

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