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Die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen

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Das Zeitalter des Lebendigen verknüpft den ökologischen Wandel, die soziale Gerechtigkeit und das Tierwohl mit einer individuellen und gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, gestützt auf Reflexionen, die unsere Körperlichkeit und Endlichkeit ernst nehmen. Diese Überlegungen sind zugleich eine Bedingung für unsere Fähigkeit, Technologien vernünftig zu nutzen, in einer Demokratie zusammenzuleben und Europa wieder einen politischen Inhalt zu geben. Es ist Aufgabe der neuen Aufklärung, zu zeigen, dass die Gesundheit der Demokratie, der ökologische Wandel, der Respekt gegenüber Tieren, der Kampf gegen Diskriminierung und gegen alles, was die Aufgeschlossenheit für den anderen beeinträchtigt, sowie die Kooperation und Solidarität der Staaten keine bloßen Empfehlungen oder Slogans sind, sondern Ausdruck des Rationalismus im Zeitalter des Lebendigen. Dieser Rationalismus, der auf einer Philosophie der Körperlichkeit beruht, zeugt von einer Versöhnung der Zivilisation mit der Natur sowie der Rationalität mit der Sensibilität, und gerade das unterscheidet ihn vom instrumentellen oder instrumentalisierten Rationalismus, der nach Ansicht von Adorno und Horkheimer das Umschlagen der Aufklärung in Barbarei erklärte.

Daher beginnt das erste Kapitel des vorliegenden Buches mit der Kritik an jenem irregeleiteten Rationalismus, der ein Instrument der Herrschaft über andere und über die innere und äußere Natur ist. Dieser Rationalismus wurzelt in einer Konzeption des Subjekts, die Selbsterhaltung und Nutzen zunehmend zu Wahrheitskriterien erhoben hat, und verkehrte sich somit in sein Gegenteil. Aber diese destruktive Dialektik ist keineswegs schicksalhaft. Eben weil die Vernunft keine Instanz mehr darstellt, die es ermöglicht, Wahr und Falsch, Gut und Böse zu unterscheiden, sondern zu einem bloßen Instrument der Effizienzsteigerung verkommen ist, sind die Prinzipien, auf denen die Aufklärung und die Demokratie beruhen, ihrer Substanz beraubt und lassen sich das Mehrheitsprinzip und die Wissenschaft in den Dienst beliebiger Zwecke stellen.29

Dagegen kann eine Konzeption des Subjekts, die dessen Tiefe unterstreicht und beschreibt, was es mit der gemeinsamen, aus der Gesamtheit der Generationen und des Natur- und Kulturerbes bestehenden Welt verbindet, eine gesunde Nutzung der Vernunft hervorbringen. Dadurch wird sie wieder zu einer Fähigkeit, die uns zu begreifen erlaubt, was universell oder zumindest universalisierbar ist. Die Wertschätzung (considération)30, die zugleich eine Subjektivierungsbewegung und eine Erweiterung des Subjekts voraussetzt, das sich seiner Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt bewusst wird, überwindet so den Relativismus und regeneriert den Rationalismus, indem sie das der Aufklärung eigene Werk der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation fortsetzt.31 Die Wertschätzung liefert uns auch die Mittel, ihr zivilisatorisches Projekt mit dem Respekt vor der Natur und den anderen Lebewesen zu verbinden, und stellt sich damit dem irregeleiteten Rationalismus entgegen, der auf einer dreifachen Herrschaft basiert: der über die Natur, die Gesellschaft und das Seelenleben.

Das zweite Kapitel analysiert den Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Andersartigkeit und des Körpers einerseits und der Todeskultur andererseits, die im Nationalsozialismus gipfelte und sich heute in der Zerstörung unseres Planeten ebenso äußert wie im Aufstieg von Nationalismus und Rassismus. Diese Analyse ermöglicht es, die Übel unserer Zivilisation auszumachen, die der früheren Aufklärung wie auch der Gegenaufklärung gemein sind. Zudem zeigt sie die Fruchtbarkeit des phänomenologischen Ansatzes, der eine neue Sicht auf die Wirklichkeit und die anderen Lebewesen eröffnet und der, zusammen mit dem Evolutionismus, den Inhalt oder die konstitutiven „guten Erkenntnisse“ der neuen Aufklärung ausmacht. In diesem Kapitel taucht der zentrale Begriff dieses Buches auf: das Schema als Organisationsprinzip einer Gesellschaft und der Gesamtheit von Repräsentationen und gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entscheidungen, die zusammen ein charakteristisches Muster bilden. Das Ungedachte der Moderne aufzudecken soll es der Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen ermöglichen, das Schema zu erkennen, das die gegenwärtige Gesellschaft beherrscht, und es durch ein anderes zu ersetzen.

Das dritte Kapitel über die „wiedergewonnene Autonomie“ untersucht die Bedingungen der individuellen Emanzipation. Dabei beleuchtet es den Zusammenhang zwischen Individuation und Sozialisation in einer Zivilisation, die als Alternative zu einer zu Zerstörung und Selbstzerstörung führenden Politik die Selbstsorge sowie die Sorge für die Erde und für andere, Menschen wie Nichtmenschen, fördert. Dieses Kapitel untersucht zudem, wodurch man Menschen dazu ermuntern könnte, zu Akteuren des ökologischen und solidarischen Wandels zu werden und sich zu organisieren, damit die Politik sich auf ihre Initiativen stützt.

Das vierte Kapitel betrachtet den Konflikt zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung als eigentlich politisches Problem. Die Aufklärung ist untrennbar mit dem Ideal eines Staates verbunden, der auf der Freiheit und Gleichheit seiner Bürger beruht. Aus diesem Ideal ist im Laufe der Zeit eine demokratische Gesellschaft hervorgegangen, die den Respekt gegenüber dem Pluralismus beinhaltet und damit in Gegensatz zu den alten Tyranneien, zum Totalitarismus und zu jenen Demokratien steht, die man heutzutage als illiberal einstuft.32 Aber die Zukunft der Demokratie erfordert mehr als die Einhaltung von Verfahren. Tatsächlich müssen sich die Individuen bewusst sein, dass sie den Sinn bestimmen und dass sie daher die Vorstellungsinhalte – das Imaginäre – ändern können, die das Festhalten an den mit dem kapitalistischen System und dem in unserer Gesellschaft vorherrschenden Schema verknüpften Lebensweisen, Repräsentationen und Affekten erklären. Außerdem gilt es, über die Bedingungen für eine gesellschaftliche Erneuerung nachzudenken und zu untersuchen, welche Rolle die Minderheiten bei der Entstehung einer neuen Vorstellungswelt spielen. Dieses Kapitel zeigt zudem auf, inwiefern die neue Aufklärung, die untrennbar mit dem Projekt einer ökologischen und demokratischen Gesellschaft verknüpft ist, mit einer Dezentralisierung der Demokratie einhergeht, die Bürgern Raum für Experimente lassen muss und in Gegensatz zu einer vertikalen Gouvernementalität steht.

Das fünfte Kapitel beginnt mit dem Versuch einer Phänomenologie der Technik, die diese als Bedingung unserer Existenz beschreibt und aufzeigt, dass sie zur gemeinsamen Welt gehört. Die Technik als Existenzial einzustufen, schließt allerdings nicht aus, die Gründe zu analysieren, die sie heutzutage zur Hauptquelle unserer Entfremdung und zum wesentlichen Faktor machen, der unsere Welt zu zerstören droht. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Merkmale der Technik in unserer Gesellschaft aufzudecken, die das Prinzip der Berechenbarkeit zur Regel erhoben hat. In einem solchen Kontext verselbständigt sich die Technik und wendet sich gegen den Menschen, während sie im 18. und 19. Jahrhundert einem individuellen und kollektiven Emanzipationsprojekt untergeordnet war. Obwohl unser technologisches Können und die Globalisierung die Struktur unserer Verantwortlichkeit verändern, da unser Handeln Konsequenzen hat, die weit über die Gegenwart hinausreichen und Lebewesen betreffen, deren Gesichter wir nicht sehen, ist es keineswegs unmöglich, eine Kultur zu entwickeln, die eine vernünftige Techniknutzung und deren Ausrichtung an Zivilisationszwecken erlaubt.

Da die Aufklärung einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Freiheit, Demokratie und der Schaffung von Frieden herstellt, ist es unverzichtbar, im letzten Kapitel die Frage nach Europa und seiner Zukunft zu stellen. Um die Ausrichtung und Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses zu würdigen, genügt es weder, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, unter denen die Europäische Union seit den neunziger Jahren leidet – vor allem ihre Probleme mit der Globalisierung und deren Ablehnung durch einen Teil der Europäer –, noch auf das Flüchtlingsproblem zu verweisen, das von ihrer Unfähigkeit zeugt, ihr mit ihren Prinzipien und ihrer Geschichte verknüpftes Versprechen der Gastfreundschaft einzulösen. Betrachtet man Europa aus philosophischer Perspektive, also als geistiges Gebilde, verknüpft mit einem Erbe, dessen Inhalt andere Völker inspirieren kann, dann ist etwas Universelles vorstellbar, das nicht hegemonial ist, und es lässt sich zeigen, in welchem Sinne Europa die erste Etappe einer Politik und einer kosmopolitischen Haltung der Wertschätzung sein kann.

Das Problem der Religion wird in diesem Buch nicht in einem gesonderten Kapitel behandelt,33 sondern zieht sich am Rande durch die ersten drei Kapitel. Die gegenwärtigen Äußerungen des religiösen Fanatismus unterstreichen, wie aktuell die Kritik der Aufklärung an der Intoleranz ist und wie relevant ihre Bestrebungen sind, die Fähigkeit der Menschen zu fördern, ihre Vernunft so zu nutzen, dass sie innerlich freier sind und friedlich in einer pluralistischen Gesellschaft zusammenleben. Indem wir uns auf die Seite der Aufklärung stellen, gehen wir davon aus, dass die politische Ordnung nicht auf der Religion basieren kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass man auf eine Reflexion darüber verzichten müsste, was unserer individuellen Existenz Tiefe verleihen kann. Indem wir zeigen, dass der Horizont des Rationalismus die gemeinsame Welt ist, die eine Transzendenz in der Immanenz konstituiert – da sie uns bei der Geburt empfängt, unseren individuellen Tod überlebt und somit über unser gegenwärtiges Leben hinausgeht –, verbinden wir Ethik und Politik auf einer spirituellen Ebene, also aufgrund einer Erfahrung des Unermesslichen, nehmen dabei aber nicht den Weg über die Religion, sondern stützen uns auf unsere gezeugte und körperliche conditio, die von unserer Zugehörigkeit zu dieser Welt zeugt, einer Welt, die wesentlich älter ist als wir selbst und für die wir verantwortlich sind. Das nennen wir Transdeszendenz.34

Entgegen dem, was manche heutzutage behaupten, die in der Philosophie nicht die für eine Renaissance des Rationalismus unverzichtbaren Elemente finden können, ist es durchaus nicht notwendig, auf die Religion zurückzugreifen, um sich über das Gemeinwohl Gedanken zu machen, Individualismus, Materialismus und Relativismus zu überwinden sowie den Nihilismus zu bekämpfen.35 Vielmehr setzen wir darauf, dass wir durch einen Rationalismus, der nicht vom Leben abgeschnitten ist, die Vernunft aus der zerstörerischen Dialektik, die unsere Zivilisation in den Ruin treibt, hinausführen und eine neue Aufklärung vorantreiben können. So werden wir die Schockstarre überwinden, in die die progressivsten Kräfte seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verfallen sind, während die reaktionärsten ihren Sieg für gesichert halten.

1 Michel Foucault, „Was ist Aufklärung?“, in ders., Schriften, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt am Main 2005, S. 706 f.

2 So interpretiert Foucault Kants Definition der Aufklärung als Prozess, einen selbst verschuldeten Zustand der Unmündigkeit zu überwinden, eine Unmündigkeit, die darin besteht, die Autorität eines anderen in seiner Lebensführung dort zu akzeptieren, wo es angemessen wäre, die eigene Vernunft einzusetzen. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Göttingen 2018. M. Foucault, „Was ist Aufklärung?“, S. 687–707.

3 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1997. Siehe auch Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985.

4 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932.

5 Jonathan Israël, A Revolution of the Mind: Radical Enlightenment and the Origins of Modern Democracy, Princeton, NJ, 2009. Für ihn steht die Radikalaufklärung, die demokratische Ideen umfasst und die eigentliche Aufklärung ausmacht, in Gegensatz zur moderaten Aufklärung. Sie ist dem Vermächtnis Spinozas verpflichtet und setzte sich vor allem um 1770 bis 1780 durch. Auch Leo Strauss spricht von moderater und radikaler Aufklärung, wobei die Vertreter der ersteren wie Lessing an eine Synthese von Vernunft und Offenbarung glauben und die der letzteren wie Hobbes (den J. Israel der moderaten Aufklärung zurechnet) und Spinoza die Fähigkeit des Menschen bekräftigen, sich von der Vernunft leiten zu lassen. Nach seiner Auffassung ging die moderate Aufklärung schon bald in der Radikalaufklärung auf, da der eigentliche Konflikt zwischen der Autonomie der Vernunft (Aufklärung) und der Heteronomie oder dem Bedürfnis nach Offenbarung (Orthodoxie) liegt. Siehe Corine Pelluchon, Leo Strauss: une autre raison, d’autres Lumières. Essai sur la crise de la rationalité contemporaine, Paris 2005.

6 Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt am Main 2009, S. 30 f. ders., „Was ist Aufklärung?“, S. 695, 840 f.

7 Es gibt zwei Denkschulen: Eine vertritt die Auffassung, die Krise habe die Grundlagen und das Ungedachte des klassischen Denkens infrage gestellt, während die andere die Aufklärung als Ergebnis des klassischen Rationalismus sieht, ohne die Unterschiede zwischen dem Grand Siècle Ludwig XIV. und der Aufklärung zu übergehen. Die erste lässt sich veranschaulichen durch Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1965; die zweite durch E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung.

8 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S. 9.

9 Sebastian Conrad führt mehrere Autoren an, die eine „Enteuropäisierung“ der Aufklärung, vor allem in Lateinamerika und Asien, versucht haben, siehe „Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique“, American Historical Review, Oxford Okt. 2012, Bd. 177, S. 1007. Siehe auch Robert Bellah, Tokugawa Religion: The Cultural Roots of Modern Japan, New York 1985; er führt die Ursprünge des modernen Japan auf den Konfuzianismus in der Religion der Tokugawa-Herrschaft zurück.

10 S. Conrad, „Enlightenment in Global History“, S. 1001. Der Autor zeigt, dass die Verbreitung der Aufklärung keineswegs natürlich erfolgte, wie Kant glaubte, sondern häufig mit Gewalt einherging, und als Beispiel führt er ein Werk des japanischen Künstlers Shôsai Ikkei an, dessen Holzschnitt Mirror of the Rise and Fall of Enlightenment and Tradition (1872) einen heftigen Kampf zwischen Aufklärung (kaika) und japanischer Vormoderne zeigt. Auch die postkolonialen Studien unterstreichen die Verbindung von Aufklärung und Imperialismus. Siehe Edward Said, Kultur und Imperialismus, Frankfurt am Main 1994; Gayatri Chakravorty Spivak, Kritik der postkolonialen Vernunft: hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Stuttgart 2014; Daniel Carey und Lynn Festa (Hg.), The Postcolonial Enlightenment: Eighteenth-Century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford 2009. Andere Autoren differenzieren dieses Urteil und unterstreichen die Rolle der Aufklärung im Kampf gegen den Imperialismus, siehe z.B. Sankar Muthu, Enlightenment against Empire, Princeton, NJ., 2003; und Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.

11 Voltaire und Locke verteidigten die Sklaverei, auch wenn der erstere in Candide seine Empörung über die Sklaverei äußerte, wie an der berühmten Passage zu sehen ist, in der Candide in Surinam einen schwarzen Sklaven trifft, dem ein Bein und eine Hand fehlen: „Wir arbeiten in den Zuckerraffinerien, und wenn uns das Mühlrad einen Finger abreißt, so schneidet man uns die ganze Hand ab. Machen wir einen Fluchtversuch, hackt man uns ein Bein ab: das habe ich alles durchgemacht. Und das ist der Preis, um den Ihr Europäer Zucker eßt!“ (Voltaire, Candide oder der Optimismus, München 2014, S. 95). Siehe auch Antoine Lilti, L’Héritage des Lumières. Les Ambivalences de la modernitè, Paris 2019, S. 27 f. Der Autor erinnert auch daran, dass die Vorstellungen zur Bildung und zur Rolle der Frauen, die Rousseau in Émile vertritt, konservativ sind. Und schließlich zeigt Matthieu Renault in L‘Amérique de John Locke. L‘expansion coloniale de la philosophie européenne, Paris, Amsterdam 2014, dass die transatlantische Sklaverei „der blinde Fleck einer Philosophie ist, die sich als Freiheitsphilosophie definiert“ (S. 135), und weist Locke eine Theorie kolonialer Macht nach.

12 M. Foucault, „Was ist Aufklärung?“, S. 699 f.

13 Der erste Bericht des Club of Rome, Grenzen des Wachstums, erschien 1972 und der Brundtland-Bericht („Unsere gemeinsame Zukunft“) wurde 1987 von der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung herausgebracht.

14 Aldo Leopold, Ein Jahr im Sand County, Berlin 2019, S. 213 f. Diese Passage, die alle Ökozentristen aufgegriffen haben, und die Lektüre der Schriften von Arne Næss sprechen dagegen, Anschuldigungen, die aus Umweltschützern Ökofaschisten machen, für glaubwürdig zu halten. Ebenso bedeutet die Haltung, die mangelnde Berücksichtigung der Tierinteressen als Ungerechtigkeit anzusehen, keineswegs, dass man die Unterschiede zwischen ihnen und uns oder auch die zwischen den Tieren negiert.

15 Bei diesem Thema ist es angebracht, daran zu erinnern, dass der Faschismus immer mit Terror und Gewaltanwendung verbunden ist, was ihn von heutigen rechtsradikalen, populistischen Bewegungen unterscheidet. Diese äußern zwar einen aggressiven, häufig rassistischen Nationalismus und nehmen Bezug auf frühere Diktatoren wie Mussolini, sind aber nicht mit den faschistischen Regimen der dreißiger Jahre gleichzusetzen. Das schließt allerdings nicht aus, dass gewisse populistische Regime unter bestimmten Bedingungen in Faschismus verfallen könnten.

16 Isaiah Berlin, „The Counter-Enlightenment“, Dictionary of the History of Ideas, New York 1968, 1973, Bd. 2, S. 100–112. Obwohl I. Berlin sich gegen die fundamentalistischen Bestrebungen der Aufklärung richtet und ihren Rationalismus und Universalismus beschuldigt, tyrannisch zu sein, befürwortet er doch ihren Kampf gegen Vorurteile und Intoleranz. Seine Kritik an der Aufklärung hat weder etwas mit derjenigen von Verfechtern einer Rückkehr zur hierarchischen Ordnung zu tun noch mit der Gegenaufklärung, die seit dem 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. und 20. Jahrhundert die Idee einer Einheit der Menschheit ablehnte und dem Nationalsozialismus den Weg bereitete. Siehe auch Darrin McMahon, Ennemies of the Enlightenment, the French Counter-Enlightenment and the Making of Modernity, Oxford 2001. Es ist anzumerken, dass der Begriff der Gegenaufklärung zwar häufig mit I. Berlin in Verbindung gebracht wird, aber nicht von ihm geprägt wurde. Vor ihm sprachen bereits Nietzsche und Autoren der Berlinischen Monatsschrift in den ausgehenden 1780er-Jahren von Gegenerklärung (bezogen auf die Erklärung der Menschenrechte) oder Gegen-Aufklärung. Im Englischen tauchte der Begriff Counter-Enlightenment 1958 in William Barretts Buch Irrational Man auf. Siehe Robert Wokler, „Isaiah Berlin‘s Enlightenment and Counter- Enlightenment“ in: Joseph Mali und Robert Wolker (Hg.), Isaiah Berlin‘s Counter-Enlightenment, Philadelphia 2003.

17 Zeev Sternhell, Les Anti-Lumières. Du dix-huitième siècle á la guerre froide, Paris 2010, S. 729.

18 Diese Begeisterung schloss Zweifel, also das Bewusstsein für Widersprüche zwischen dem Ideal der Gleichheit aller Menschen und dem Kolonialismus, keineswegs aus, wie Antoine Lilti in L‘Héritage des Lumières zeigt. Aber diese Zweifel stellten weder das Aufklärungsprojekt noch den Glauben an die Vernunft infrage.

19 Daniel Gordon (Hg.), Postmodernism and the Enlightenment, London 2001.

20 John Rawls positioniert sich in der Nachfolge der Aufklärung, indem er den Kontraktualismus übernimmt und die politischen Bedingungen der kantischen Autonomie bedenkt, schlägt aber eine prozedurale Konzeption von Gerechtigkeit vor. Jürgen Habermas, der die radikale Kritik der Frankfurter Schule an der Aufklärung ernst nimmt und mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns eine prozedurale Konzeption der Vernunft präsentiert, verwirft ebenfalls die Metaphysik, die dem Rationalismus der Aufklärung zugrunde liegt. Allerdings bleibt er ihr treu, wie seine Bemühungen, über den öffentlichen Raum nachzudenken und universalisierbare Normen herauszuarbeiten, ebenso zeigen wie seine Arbeiten zu Europa. Was Philip Pettit angeht, so entwickelt er in Republicanism (Oxford 1997) eine Theorie der Freiheit (als Nicht-Herrschaft) und einen Republikanismus, der an die Aufklärung anknüpft, ohne jedoch eine neue Philosophie der Aufklärung vorzuschlagen.

21 Zur feministischen Kritik siehe vor allem Jane Flax, „Postmodernism and Gender Relations in Feminist Theory“, Signs 12/4 (1987), S. 621–643; sowie Carole Pateman, The Sexual Contract, Cambridge 1988.

22 Zu einem Überblick über die Kritik an der Aufklärung siehe Denis Rasmussen, „Contemporary Political Theory as an Anti-Enlightenment Project“, in Geoff Boucher und Henry Martyn Lloyd (Hg.), Rethinking the Enlightenment: Between History, Philosophy, and Politics, Lanham, MD, 2017, S. 39–59.

23 Gérard Rabinovitch, Sur une crise civilisationnelle, Paris 2016, S. 26. Der Autor zitiert Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt am Main 1987, S. 163.

24 Sigmund Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, in ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, Frankfurt am Main 1967, S. 38 f.. Der Todestrieb ist der Drang eines jeden Organismus und des Seelenlebens, einen früheren Zustand wiederherzustellen, der vor der eigenen Belebung lag und vom Fehlen von Leben geprägt ist. Diese Destruktivität kann sich nach außen oder gegen die eigene Person richten.

25 Diese Arbeit stützt sich auf die Phänomenologie der Körperlichkeit und die Ökophänomenologie, die ich in früheren Büchern über die politische Theorie und die daraus resultierende Ethik dargelegt habe. Siehe Corine Pelluchon, Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt 2020; und dies., Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, Darmstadt 2019.

26 Im vorliegenden Buch verwende ich den Begriff „Herrschaft“ nicht in dem Sinne, wie ihn beispielsweise Judith Butler oder Philip Pettit benutzen, nämlich definiert als Unterwerfung von Individuen, wie sie durch Machtverhältnisse und Normen entsteht, die dem Einzelnen untergeordnete Rollen zuweisen. Für mich umfasst Herrschaft zwar auch Machtverhältnisse, beschränkt sich aber nicht darauf. Dieser Begriff beschreibt also nicht nur die gesellschaftliche Ontologie, sondern auch eine Beziehung zur Welt, zu anderen und zu sich selbst, die in der Kaschierung unserer gemeinsamen Verletzlichkeit wurzelt. Diese allgemeine Einstellung äußert sich in der Neigung, in Freund-Feind-Kategorien zu denken, und in dem Bedürfnis, andere zu vernichten, um zu existieren, und sie erklärt die in Wissenschaft und Technik manifeste Tendenz, das Lebendige zu manipulieren, zu verdinglichen, um es zu kontrollieren und sich seiner zu bedienen, statt mit ihm auf der Basis von Respekt vor dessen eigenen Regeln und dessen Umwelt zu interagieren. Schließlich bringt sie gesellschaftliche Gewalt, die Zerstörung der Natur und eine Unterdrückung des Gefühlslebens hervor, indem sie Aggressivität favorisiert. Das Gegenteil von Herrschaft ist die Wertschätzung, die ebenfalls eine Grundeinstellung ist, aber von einer gewissen Selbstpräsenz und Aufmerksamkeit für andere zeugt und so den Betreffenden dazu veranlasst, anderen Platz zu machen und sich um sie zu kümmern.

27 Die Allgemeine Erklärung der Menschheitsrechte entstand 2015 auf Initiative von Corinne Lepage; dazu mehr im 2. Kapitel dieses Buches. Siehe http://droitshumanite.fr/.

28 Zum Zeitalter des Lebendigen siehe C. Pelluchon, Die Ethik der Wertschätzung, S. 15–20, 203 f. 283–287; sowie dies., Manifest für die Tiere, München 2020, S. 41–50.

29 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt am Main 1967, S. 49 f.

30 Der Begriff „considération“ bezieht sich auf Corine Pelluchon’s Buch Éthique de la considération. In der deutschen Übersetzung sind Verlag, Übersetzer und Autorin übereingekommen, von „Wertschätzung“ zu sprechen, da es im Deutschen keine direkte Entsprechung gibt. „Considération“ bedeutet, jedes Wesen und jedes Ding mit Aufmerksamkeit zu betrachten und ihm einen eigenen Wert beizumessen. Das Werk, das von Bernhard von Clairvaux’ Buch De consideratione inspiriert ist, zeichnet sich insofern durch Originalität aus, als es darauf hinweist, was diese Fähigkeit zur Individualisierung eines jeden menschlichen wie auch nichtmenschlichen Wesens erfordert, und als es ihr einen Platz einräumt. „Considération“ bezeichnet eine allgemeine Haltung, die nicht allein, wie in der aristotelischen Tugendethik, auf Klugheit beruht. Ihre Bedingung ist nämlich die Demut, die mit der Anerkennung des eigenen fleischlichen und gezeugten Zustands verbunden ist. Und vor allem basiert diese Haltung, die das Aufblühen intersubjektiver und ökologischer Tugenden ermöglicht, auf einer Erfahrung des Inkommensurablen, die sich nicht auf die Kontemplation Gottes (Transaszendenz), also auf eine Bewegung von unten nach oben, bezieht sondern auf das Bewusstsein, zu einer Welt zu gehören, die größer und älter ist als man selbst, die aus allen Generationen und dem natürlichen und kulturellen Erbe besteht. Wenn ich mein Wissen über mich selbst als ein fleischliches und gezeugtes Wesen vertiefe, wird mein Bewusstsein der Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt zu einem selbstverständlichen, verkörperten Wissen, das meine Art, andere zu betrachten und mich zu verhalten, verändert. Die „considération“ bezieht sich auf diese Bewegung von oben nach unten (Transdeszendenz), die meine Subjektivität erweitert, mich spüren lässt, was mich mit anderen Wesen verbindet, und mir den Wunsch vermittelt, eine bewohnbare Welt weiterzugeben. Siehe Ethik der Wertschätzung, S. 106–115. In diesem Buch wird versucht, die Reflexion zur „considération“ von der Ebene der individuellen Ethik auf die zivilisatorische Ebene zu heben. (Anm. der Autorin zur deutschen Übersetzung)

31 C. Pelluchon, Ethik der Wertschätzung.

32 Dem werden manche entgegenhalten, dass mehrere Philosophen der Aufklärung wie Rousseau und Kant Vorbehalte gegen die Demokratie äußerten; sie bevorzugten die Republik, und Voltaire ging sogar so weit, einen aufgeklärten Despotismus zu befürworten. Wenn Rousseau aber beispielsweise in seinem Werk Vom Gesellschaftsvertrag die Ansicht vertritt, die Demokratie eigne sich nur für ein Gottesvolk, so meint er damit die demokratische Regierung, nicht den Volkssouverän in seiner Legislativfunktion, den er vehement verteidigt.

33 Dieses Buch, das sich mit der politischen Philosophie befasst, das Werk der Aufklärung fortsetzt und dabei eine Revision ihrer Grundlagen anstrebt, kann nicht alle Themen abdecken. So behandelt es auch die Kunst nicht, obwohl sie es verdient hätte, Gegenstand einer weiteren Studie zu werden.

34 C. Pelluchon, Ethik der Wertschätzung, S. 106–114.

35 Generell steht die neue Aufklärung nicht in Gegensatz zur Religion, sondern neutralisiert sie politisch. Die Religionen sind zwar keine Kulturgüter wie alle anderen, aber sie sind auch nicht die einzige Ausdrucksform der Spiritualität. Menschen können aus den religiösen Traditionen Elemente entlehnen, die es ihnen erlauben, sich mit den Werten zu identifizieren, für die sie sich verbürgen, aber die Religionen sind nicht die Quelle der Rationalität, die wir brauchen, um eine gerechte soziale und politische Ordnung zu schaffen und dem instrumentellen Rationalismus, der die Moderne in den Nihilismus getrieben hat, etwas entgegenzusetzen.

Das Zeitalter des Lebendigen

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