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Poetik des Rituals I

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Das Handeln hat seine ‚Gattungen‘ ebenso wie die Literatur die ihren.1

Die Suche nach Möglichkeiten, den eigenen Untersuchungen eine adäquate Ritualdefinition zugrunde zu legen, gerät für den Literaturwissenschaftler zunächst zur wissenschaftlichen Odyssee. Denn zum einen erfordert eine Arbeit zum Ritual in besonderem Maße eine interdisziplinäre Ausrichtung, die durch das beschriebene Interesse, das Ritualen in den letzten Jahrzehnten entgegengebracht worden ist, nicht gerade erleichtert wird. Zum andern aber wird die Frage nach der Bestimmung und Funktion von Ritualen nicht nur in den verschiedenen Forschungsdisziplinen unterschiedlich behandelt, sondern auch innerhalb einer Disziplin ausgesprochen divergent, oft geradezu gegensätzlich beantwortet. Resultat ist, daß über fast alle Elemente, die als konstitutiv für Rituale gelten können, unterschiedliche Meinungen bestehen, die von Nuancen in der Interpretation bis zu völligem Dissens reichen.

Der mediävistische Literaturwissenschaftler muß darüber hinaus im Gewirr der Streitfragen um unterschiedliche Aspekte des Rituals solche herausfiltern, die speziell für mittelalterliche Rituale von Relevanz sind. Weder kann er dabei unmittelbar auf sozialpsychologische, soziologische und anthropologische Ansätze zurückgreifen, da sich deren Theorien und Problemstellungen im Rahmen moderner Gesellschafts- und Kulturmodelle bewegen, noch kann er sich ausschließlich auf ethnologische Ritualtheorien stützen, weil er sonst Gefahr liefe, die Spezifika der europäischen mittelalterlichen Gesellschaftsordnungen mit denen sogenannter ‚archaischer‘ umstandslos gleichzusetzen.

Auch die historischen Wissenschaften bieten im Hinblick auf eine theoretische Fundierung wenig Hilfen. Zwar liegt mittlerweile eine Reihe von Arbeiten zu mittelalterlichen Ritualen und einzelnen ihrer Aspekte vor,2 doch fehlen eine übergreifende Darstellung ebenso wie theoretische Überlegungen. Auch verzichtet die Mehrzahl dieser Autoren auf definitorische Bemühungen, vielleicht weil es inzwischen als obsolet erscheinen mag, das ‚Ritual‘ zu definieren. Doch liegt der Verdacht näher, daß dieser Verzicht in der Schwierigkeit des Phänomens selbst gründet, das sich einem definitorischen Zugriff entzieht, worüber in der Forschung immer wieder – mit geradezu rituellem Charakter – Klage laut wird:

The problems begin with the term itself, notoriously vague and incapable of precise definition. […] The term simply possesses an ineradicable vagueness and ambiguity foreign to the precision of social science. The problem is not just with the term, however. Vagueness and ambiguity are inherent in rituals themselves, whose meaning can be as puzzling to contemporaries as it is to scholars.3

In der Tat ist der von KOZIOL besonders deutlich, aber bereits seit längerem formulierte Hinweis auf die Vagheit des Begriffs und der mit ihm bezeichneten Phänomene ernst zu nehmen.4 Was als Ritual zu gelten hat und was nicht, wie es zu deuten ist und was es leisten kann, entzieht sich gerade im Blick auf das Mittelalter klaren definitorischen Grenzziehungen – nicht nur aufgrund der Unterschiedlichkeit der Phänomene, die unter dem Begriff ‚Ritual‘ gefaßt werden können, sondern auch aufgrund ihrer historischen Distanz.

Die Konsequenz aus der skizzierten Forschungslage und aus der Notwendigkeit einer begrifflichen Historisierung ziehend, beabsichtigen die folgenden drei Kapitel nicht, eine Definition von ‚Ritual‘ im klassischen Sinne zu geben. Vielmehr werden wesentliche Aspekte des Phänomens im Mittelalter topisch beschrieben. Wenn dazu in drei Schritten zunächst die Form, dann die Substanz und schließlich die Funktion von Ritualen in den Blick genommen werden, spiegelt dies zunächst die klassifizierende Unterscheidung von formalen, substantiellen und funktionalen Ritualdefinitionen wider, wie sie WERLEN und, ihm folgend, HAUSCHILDT getroffen haben.5 Für einen Überblick über die Ritualforschung scheint die Unterscheidung insofern hilfreich zu sein, als durch sie oftmals das leitende Interesse der Forschungsrichtung deutlich wird. Beim formalen Definitionstyp (z. B. Ethologie) stehen Handlungsmerkmale wie Stereotypie, Rigidität und Intensität im Vordergrund. Substantielle Ritualdefinitionen im strengeren Sinn richten sich nur auf den Inhalt der Handlung, der zumeist religiös gefaßt wird: Das Ritual gilt hier als Handlungsmuster in religiösem Kontext. Der funktionale Definitionstyp interessiert sich für die Leistungen des Rituals, wobei – je nach Richtung – der individuelle (Psychologie) oder gesellschaftliche (Soziologie) Aspekt bzw. deren reziprokes Verhältnis (Sozialpsychologie) im Vordergrund stehen kann.

Die Unterscheidung dieser definitorischen Ansätze ist jedoch vor allem von forschungsgeschichtlichem Wert und steht einer adäquaten Beschreibung verschiedener Rituale, zumal solcher historischer Provenienz, eher hinderlich entgegen. Denn wie zum Teil in neueren Arbeiten praktiziert, müssen Form, Substanz und Funktion eines Rituals in engem Zusammenhang gesehen werden: Form und Substanz können füreinander stehen, wenn die Form selbst als sein Inhalt aufgefaßt wird, oder wenn die Form als Modus der Inszenierung seines Inhalts begriffen wird.6 Die Substanz und Funktion eines Rituals stehen in einem engen Konnex, wenn man den pragmatischen Aspekt des Inhalts fokussiert; sie sind gar identisch, wenn der Zweck eines Rituals auch als sein spezifischer Inhalt bestimmt wird. Form und Funktion wiederum stehen in Verbindung, wenn etwa die feste Form zur Erzeugung gesellschaftlicher Ordnung und Stabilität angesichts von Kontingenzerfahrungen eingesetzt wird.7

Form, Substanz und Funktion werden also als zentrale, integrierte, für die systematische Beschreibung gleichwohl zu trennende Konstituenten von Ritualen aufgefaßt. Der heuristische Wert eines solchen Ansatzes liegt darin, daß er – anders als klassifikatorische Ansätze – das Ritual als komplexes Phänomen, als artifizielle Komposition unterschiedlicher Konstituenten beschreiben kann. Je für sich sollen diese Konstituenten in ihren unterschiedlichen Erscheinungsmöglichkeiten und Implikationen, in ihrer kontextbedingten Ausprägung und zeitlichen Wandelbarkeit, nicht zuletzt in den Voraussetzungen ihrer Interpretierbarkeit erfaßt werden. Somit zielen die folgenden Ausführungen nicht auf eine Definition, sondern in einem weiteren Sinne auf die Beschreibung der ‚Gemachtheit‘ von Ritualen – mithin auf ihre Poetik.

Poetik des Rituals

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