Читать книгу Poetik des Rituals - Corinna Dörrich - Страница 25

Substanzverschiebung und -überlagerung: Wolframs Gralsritual II

Оглавление

Die in diesem Kapitel vorgestellten Aspekte der Substanz von Ritualen sollen nochmals an Wolframs Gralsritual veranschaulicht werden, weil in ihm – wie sich erneut im Vergleich mit der Textvorlage zeigt – die für die Poetik des Rituals in substantieller Hinsicht konstitutiven Faktoren in vielschichtiger Weise ausagiert werden: Wolfram verändert gegenüber Chrétien nicht nur, wie im vorigen Kapitel dargelegt,59 die Formalität des Gralsrituals, sondern auch seine Substanz und damit den Ritualtyp.

Die Frage nach der Substanz der Chrétienschen Gralshandlung ist nicht leicht zu beantworten, da der Text – auch aufgrund seines fragmentarischen Charakters – dafür nur wenige Anhaltspunkte bietet. So scheint es auf den ersten Blick nicht ganz unproblematisch zu sein, den Gralsaufzug als ein ‚Ritual‘ zu bezeichnen. Denn nicht nur ist, wie oben ausgeführt, seine Formalität wenig ausgeprägt, sondern auch sein symbolischer Gehalt unklar. Alles, was man über die Bedeutung der Handlung später aus dem Munde des Eremiten, Percevals Onkel, erfährt, ist, daß im Gral Hostien getragen werden, die den alten Gralskönig seit mittlerweile 15 Jahren (!) ernähren (6415ff.). Auch wenn die Art dieser Ernährung durch den ‚heiligen‘ Gegenstand (sainte chose, 6425) außergewöhnlich ist und mit religiösem Sinn unterlegt wird (Hostie), fällt es doch schwer, eine rituelle Substanz dieses Vorgangs zu benennen, weil man über die Bedeutung der übrigen Gegenstände (v. a. der Lanze) ebenso im unklaren bleibt wie über ihren Zusammenhang und die weiteren Hintergründe.60

Eindeutig rituellen Charakter bekommen die Vorgänge aber im Hinblick auf den anwesenden designierten Erlöser Perceval. Denn in ihrem Bezug auf diesen weisen die Vorgänge eine strukturelle Analogie zu magischen Ritualen auf. So wie im „Kern der magischen Handlung“ die Kenntnis der „Zauberformel“ steht, „der Gebrauch von Worten, die das Gewünschte heraufbeschwören, statuieren oder befehlen“,61 so kommt es bei Chrétien entscheidend auf die richtigen Fragen Percevals an, mittels deren der kranke Fischerkönig erlöst werden kann. Anders aber als in magischen Ritualen, in denen Experten agieren, ist Perceval als Außenstehender in Unkenntnis der ‚Zauberformel‘. Die Erlösungsformel besteht zudem genau darin, nach dem Sinn, der Substanz der Handlung zu fragen: Warum blutet die Lanze, und wen bedient man mit dem Gral? Indem die Handlungen des Gralsaufzuges die Erlösungsfragen des Gastes provozieren sollen, werden diese als notwendiger Bestandteil in ein übergeordnetes Handlungsmuster zur Erlösung integriert.62

Dadurch daß dieses Handlungsmuster eine für magische Rituale spezifische Zweck-Mittel-Relation besitzt63 und daß weder die Erlösungsfragen noch die Gegenstände, auf die sie sich richten und die selbst rätselhaft sind,64 einen logisch nachvollziehbaren Zusammenhang mit der Erlösung selbst zu haben scheinen, gewinnt der Vorgang einen deutlich magischrituellen Charakter. In diesem Sinne wird aus dem Gralsaufzug ein ‚Erlösungsritual‘.

Demgegenüber hat Wolfram durch eine bis ins Detail aufmerksam verfolgte Ausgestaltung der Form auch die Bedeutungshorizonte, Substanz und Funktion der Handlung verschoben. Sein Gralsritual, das Prozession und Mahlgemeinschaft umfaßt, ist kein Ritual zur Erlösung des kranken Gralskönigs, sondern ein davon unabhängiges Herrschaftsritual.

Klar zu unterscheiden sind dabei instrumentelle und symbolische Aspekte des Rituals. Als instrumentelle Handlung dient es zunächst dem Aufbau eines Tisches, auf dem schließlich der Gral und zwei silberne Messer plaziert werden, und anschließend auch der Ausstattung der anwesenden Ritterschaft mit Tischen und Tischgerät; pragmatisch gesehen, zielt die Handlung also auf das Herrichten eines gemeinschaftlichen Speisesaals. In der oben beschriebenen hochgradigen Formalisierung (Prozessionschoreographie, Kleider- und Zahlenordnungen, Lichter etc.) dieses an sich unspektakulären Zweckes65 ist aber ein Überschuß an Bedeutung angezeigt, der die Handlung zu einem Ritual macht, dessen Symbolizität seinen praktischen Zweck bei weitem überschreitet.

Zwei Symbolgehalte können dabei unterschieden werden. Zum einen ist die Festlichkeit der Prozession bezogen auf die Bedeutung ihres wichtigsten Gegenstandes: des Grals, der in der Handlung als kultischer Gegenstand ausgezeichnet wird. Das Ritual kann insofern als Kultritual angesehen werden. Zum anderen wird aber dieser Kultgegenstand auch als Mittelpunkt einer Gesellschaft inszeniert, die sich in dem zur Mahlgemeinschaft erweiterten Ritual festlich um ihr Zentrum konstituiert. Die rituellen Handlungen selbst machen diese Gemeinschaft sukzessive, vom Zentrum (Bereiten des Gralstisches vor dem Gralskönig) zur Peripherie (Bereiten der Tische der Gralsritterschaft) gelangend, präsent. Im Ritual werden dabei aber nicht nur die Gralsgesellschaft als Ganzes und ihre wesentliche Struktur: das Zentrum (König/Gral) und die offenbar sozial nicht weiter differenzierte Peripherie (Ritterschaft), sichtbar, sondern die Gesellschaft ‚schaut‘ und erfährt (Essen) in dieser besonderen, dem Alltag enthobenen Handlung auch ihr ökonomisches, politisches und kultisches Zentrum:

dô wart mit zuht begunnen

gereitschaft gein dem grâle.

den truoc man zallem mâle

der diet niht durch schouwen für,

niht wan ze hôchgezîte kür.66

(807,14 – 18)

Daß dieses Ritual – auch ohne die konkreten Bedeutungen der Handlungen kennen zu müssen – in seinem prinzipiellen Sinn erfaßt werden kann, zeigt sich an Parzival, der, obwohl ihm die Hintergründe dieser Gesellschaft unbekannt sind, die Substanz des Rituals wahrnimmt:

wol gemarcte Parzivâl

die rîcheit unt daz wunder grôz:

durch zuht in vrâgens doch verdrôz.

(239,8 – 10)

Ausdrücklich vermerkt der Erzähler damit Parzivals genaues Erfassen (wol gemarcte) der beiden zentralen Punkte des Rituals: der herrschaftlichen Repräsentation (rîcheit)67 und ihres transzendenten Mittelpunktes (wunder). Und das ist eine richtige Einschätzung der komplexen Vorgänge. Daß Parzival aus zuht darauf verzichtet, nach den genaueren Umständen der Gesellschaft zu vrâgen, wird vom Erzähler an dieser Stelle ausdrücklich nicht kritisiert. Parzival wendet hier die Lehre Gurnemanz’ an, nicht zu viele Fragen zu stellen (239,11ff.; vgl. 171,17). Daß diese Anwendung in dieser Situation „inadäquat“68 sei, legt der Text dabei aber keineswegs nahe, weil der Erzähler sich eines Kommentars enthält. Aus der Ritualperspektive heraus erscheint es jedenfalls unangemessen, den Vollzug eines Rituals dadurch zu stören, daß man als Teilnehmer nach dessen Sinn und Zweck fragt. In eine ähnliche Richtung geht auch die Wertung von SOEFFNER, der in der Frage, die Parzival bei Wolfram stellen soll, eine „Verletzung des an sich sprachfrei organisierten Rituals“ sieht und dies als Eindringen von Sprache in ein rein „beobachtungs- und handlungsförmig organisiertes, gesellschaftliches Kommunikationsmuster“ interpretiert.69

Ebenso wie die Substanz des Rituals sind also auch der Inhalt der Erlöserfrage und ihr Bezug auf das Gralsritual gegenüber Chrétien entscheidend verändert70: Das Gralsritual bildet bei Wolfram nur mehr den Rahmen für die Provokation der Frage, die selbst an eine ganz andere, in die Mahlgemeinschaft inserierte, eigenständige Geste gebunden ist: die Übergabe des Königsschwertes, das Anfortas nach eigener Aussage wegen seiner Verletzung nicht mehr selbst führen kann (239,25ff.).71 Hier erst kommentiert Wolframs Erzähler die Unterlassung der Frage als Versäumnis:

ôwê daz er niht vrâgte dô!

des pin ich für in noch unvrô.

wan do erz enpfienc in sîne hant,

dô was er vrâgens mit ermant.

och riwet mich sîn süezer wirt,

den ungenande niht verbirt,

des im von vrâgn nu wære rât.

(240,3 – 9)

Indem die Frage explizit an die als Höhepunkt der Gralsszene angelegte Schwertgeste gebunden wird, verweist sie auf den für Wolfram wichtigen Doppelaspekt von Anfortas’ Erlösung und Parzivals Herrschaftsnachfolge.72 Die Schwertgeste generiert rituell eine Bedeutung, die Trevrizent später Parzival diskursiv vermittelt: Anfortas’ Erlösung und die Herrschaftsübergabe an Parzival gehören – anders als wohl bei Chrétien – genuin zusammen.73 Parzival soll nicht, wie Perceval, nach dem Sinn und Zweck der zentralen Handlungen des Gralsrituals fragen (Neugierfrage), sondern auf die Klagen des Königs und seine Schwertübergabe reagieren. Parzivals Frage ist dabei nicht nur die nach dem individuellen Leiden des Königs (Mitleid), sondern damit wesentlich auch die Frage nach der (defekten) Herrschaft.74

Vor diesem Hintergrund erscheint verständlicher, warum die Gralsgesellschaft, die mit Parzivals Ankunft eigentlich de facto von ihrer Erlösung ausgeht,75 das Gralsritual als situativen Rahmen der Erlöserfrage instrumentalisiert (807,21 – 23): Parzivals Designation zum neuen Herrscher in der Schwertgabe und die damit verbundene Erlösungsfrage setzen die Präsenz der Gesellschaft, die erlöst werden muß und über die Parzival zu herrschen bestimmt ist, voraus. Als Herrschaftsritual bietet es somit den ‚passenden‘ Rahmen für die Erlösungsfrage, doch scheitert diese Instrumentalisierung an der Zurückhaltung Parzivals.76

Wolfram grenzt sein Gralsritual somit – auch in der späteren Erlösung des Anfortas77 – klar von den Handlungen bei Chrétien ab. In seiner Substanz erscheint es dabei als komplexes kulturelles Konstrukt, in dem sich Disparates vermischt. Zum einen werden zwei unterschiedliche Handlungssequenzen aus unterschiedlichen kulturellen Sphären verknüpft: So wird mit der Gralsprozession ein Handlungsmuster eingespielt, das deutlich Bezug auf religiös-kirchliche Handlungen nimmt, während die Mahlgemeinschaft ein Handlungsmuster aus dem herrschaftlich-höfischen Bereich darstellt. Zum anderen erscheinen auch die einzelnen Teilhandlungen jeweils substantiell mehrdeutig, indem sie in sich wiederum mit heterogenen Zeichentypen und Assoziationen arbeiten: Der Gralsaufzug konnotiert zwar mit seinen Funktionsträgern (Amtscharakter), seiner Choreographie (steigernder Aufbau mit der höchsten Funktionsträgerin und dem Kultgegenstand am Ende), seinem Zweck (Speisung durch den Kultgegenstand an einem eigens dafür vorgesehenen Tisch), seinen visuellen und olfaktorischen Reizen78 deutlich Handlungen aus kirchlichem Bereich, doch handelt es sich eben nicht um Priester in Amtstracht, sondern um Frauen in höfischer Kleidung, nicht um einen Altar, sondern um einen transportablen Tisch im Kontext höfischer Prachtentfaltung, nicht um eine Reliquie oder einen Behälter (wie bei Chrétien), sondern um einen Stein, nicht um eine Hostie (wie bei Chrétien), sondern um eine üppige Speisenfolge, nicht um den Kirchraum, sondern den Palas, nicht um Weihrauch, sondern Balsam und Aloeholz. Somit erscheint die kultische Handlung mit ihren religiösen Implikationen höfisiert. Ebensowenig ist die Mahlgemeinschaft ausschließlich höfisches Ritual. Denn die Speisung erfolgt durch einen wunderbaren Kultgegenstand, und es fehlt die Gesellschaft von höfischen Damen, was im höfischen Kontext undenkbar wäre. Die Verschiebungen zeigen sich klar, wenn die religiös-kultischen Handlungen ausschließlich von höfischen Damen verrichtet werden, während die höfische Mahlgemeinschaft nur von Männern zelebriert wird.79

Nicht zuletzt tragen schließlich die Symbole der Handlungen zur Steigerung der Komplexität und Verkomplizierung bei. Ersichtlich ist dies zunächst an den Messern, die neben dem Gral zu den kultischen Gegenständen des Rituals gehören. Im Kontext von Mahlgemeinschaft dürfte man zunächst einmal Schneidegeräte assoziieren, mittels deren die Speisen zerlegt werden; im Text herausgestellt wird aber ihre medizinische Bedeutung: Mit ihnen wird die Lanze nach der Behandlung Anfortas’ von einer eisähnlichen Schicht befreit (vgl. 490,18ff.).80

Noch komplexer ist auch die Bedeutung des Grals selbst angelegt: als heilkräftiger und lebensspendender Stein, als märchenhafter Speisenspender, als göttliches Offenbarungsmedium von Schrift. Ohne die Gralssymbolik bei Wolfram und Chrétien hier auch nur annähernd erfassen zu wollen,81 kann bei allen Ambivalenzen in der Deutung doch festgehalten werden, daß Chrétien mit Gefäß, Teller und Lanze letztlich Symbole kirchlicher Handlungen usurpiert, während Wolfram religiöse Symbole (Messer, Stein) eigener Art kreiert und seine erzählte Welt damit von einer institutionell kirchlichen Sphäre abgrenzt. Die bei Chrétien festzustellende „Polyvalenz“82 der Symbole wird von Wolfram durch Mehrfachkodierungen noch entschieden weiter geführt.83

Wolframs Gralsritual erweist sich somit nicht nur in seiner Formalität als hoch entwickelt, sondern auch hinsichtlich seiner Substanz als komplex konstruiert: als heilige Handlung, in der Kult und Politik unlöslich verschmelzen; als Epiphanie einer Gesellschaft und ihres religiösen Zentrums; als Handlungsmuster, in dem sich instrumentelle und symbolische Aspekte in mehrfacher Hinsicht überlagern; als Träger von Sinn, der auch von Außenstehenden prinzipiell erfahrbar ist; als Vorgang, dessen komplexe Symbolik erklärt werden kann, partiell aber undurchschaubar ist und der vielleicht gerade deshalb das bleibt, was er sein soll: ein bedeutsames Ritual.84

Poetik des Rituals

Подняться наверх