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Multivalenz

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Die symbolische Substanz von Ritualen erlaubt, wie oben dargelegt, eine unspezifische Zuschreibung von Sinn und eröffnet zugleich einen Spielraum für die Interpretation ihrer Bedeutung: Einerseits können rituelle Symbole „von denen, die am Ritual beteiligt sind, leicht verstanden, wenn auch nicht unmittelbar durchschaut“48 werden. Andererseits weisen die symbolischen Handlungen komplexere Bedeutungsschichten und Multivalenz auf. Auf die Mehrdeutigkeit als Kennzeichen von ritueller Symbolik wird in der Forschung immer wieder verwiesen. SOEFFNER betont ihr mehrdeutiges, unter Umständen paradoxes, Widersprüchliches zu einer Einheit zusammenfassendes Wesen ebenso wie DOUGLAS, die sich für „eine Untergruppe der mehrdeutigen Symbole“ interessiert, „die ein Spektrum umfaßt, das sich von hochgradig diffusen bis zu hochgradig verdichteten Symbolen erstreckt“.49

Die Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit von Ritualen ist dabei zunächst von situativen Kontexten abhängig: Der Bedeutungshorizont einer Handlung kann sich innerhalb wechselnder Kommunikationszusammenhänge verschieben und im Zusammenspiel mit anderen symbolischen Handlungen verändern. Auf diesen Aspekt hat SCHMIDT-WIEGAND z. B. hinsichtlich des Zeichengebrauchs von Gebärden im Mittelalter hingewiesen. So kann die Gebärde des ‚Stehens‘ je nach rituellem Kontext unterschiedliche Bedeutung haben: Wenn im Ritual der ‚deditio‘ vor einem Stehenden gekniet wird oder man ihm zu Füßen fällt, dann drückt die Geste des Stehens die Überordnung und die des Kniens oder Liegens die Unterordnung aus; ebenso bedeutet aber das „Stehen gegenüber einem Sitzenden die Anerkennung des Herrn oder einer übergeordeneten Gewalt, im kirchlichen wie im weltlichen Bereich. […] Stehen ist also in der Gebärdensprache des Rechts ambivalent, indem es Unter- und Überordnung bedeuten kann.“50

Die Mehrdeutigkeit von Ritualen zeigt sich jedoch auch, wie KOZIOL betont, in der prinzipiellen Möglichkeit unterschiedlicher Deutungen ein und desselben rituellen Vorganges: „Rituals, an iconography of gestures, were equally capable of multiple readings. There is no reason why contemporaries needed to reduce them to a single meaning on any given occasion.“51 BUC geht in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter, wenn er darauf hinweist, daß mittelalterliche Rituale von den Mitgliedern einer Kultur ‚verwaltet‘ werden, deren wesentliches Kennzeichen der Hang zur Interpretation selbst darstellt. Einzelne Rituale sind deshalb für BUC in ihrer Bedeutung und Interpretation prinzipiell umkämpft.52

Als Beispiel dafür sei ein Ereignis genannt, dessen rituelle Handlungen nicht nur völlig unterschiedlich überliefert,53 sondern auch unabhängig davon für die Zeitgenossen jeweils mehrdeutig ‚lesbar‘ waren: die Begegnung des Schutz und Hilfe gegen die Langobarden suchenden Papstes Stephan II. mit König Pippin im Jahr 754. KOZIOL zufolge ließ Stephans demütiger Fußfall vor Pippin mehrere Deutungsmöglichkeiten zu:

[T]he king could have read it either as a sign of subjection or as a mark of unusual honor, since this was the kind of prostration expected by Byzantine emperors and high officials. But the pope’s retinue could have read it as an appeal to a lord made great by God, or as the kind of honorific demonstration of humility so common among prelates. In either case, it would have implied no subjection at all.54

Einer anderen Darstellung zufolge reiste Pippin dem Papst zur Einholung entgegen und führte diesem zum Empfang das Pferd.55 Ähnlich wie der Fußfall des Papstes war auch das von Pippin geleistete ‚stratoris officium‘ nach FUHRMANN in seiner Interpretation nicht eindeutig festgelegt: Es konnte „lediglich“ als „Ehrerbietung“ oder aber als „eine Art Unterordnung“, wie sie das in späterer Zeit gefälschte ›Constitutum Constantini‹ vorschrieb, gedeutet werden.56

Rituelles Handeln eröffnet somit einen Spielraum an Interpretation. Die Tatsache allerdings, daß die verschiedenen Quellen je nach Parteinahme bestimmte (zweideutige oder als eindeutig demütigend empfundene) Akte aussparen, deutet wiederum darauf hin, daß dieser Spielraum an Interpretation eingeengt und ihre Bedeutung nicht beliebig war. Rituale können deshalb nicht, wie KOZIOL behauptet, „mean whatever their participants and audience thought they should mean“57. Der Fußfall oder das Knien eines Vasallen vor einem Herrn ist durch seinen Kontext (etwa den Lehnsakt, die Unterwerfung oder die Bitte) relativ eindeutig als Akt der Unterordnung zu bewerten. Diese Bedeutung verliert die gleiche Geste auch nicht völlig, wenn sie im klerikalen Kontext praktiziert wird, doch verlagern sich hier die Akzente auf den Akt der Demut. Wenn wie im oben genannten Beispiel Repräsentanten aus zwei unterschiedlichen, zumal miteinander rivalisierenden sozialen Sphären, in denen die Bedeutungshorizonte bestimmter Gesten nicht völlig übereinstimmen, interagieren, potenziert sich die Möglichkeit zur unterschiedlichen Deutung der rituellen Handlung erheblich. Denn die Interpretation einer symbolischen Handlung ist eben nicht beliebig, sondern wesentlich vom Standpunkt des Interpreten abhängig.58 Wie sich die von den Historikern hervorgehobene Multivalenz rituellen Handelns auf die Funktionen auswirkt, die das Ritual in der mittelalterlichen Gesellschaft erfüllt, wird in Kapitel 3 zu erörtern sein.

Poetik des Rituals

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