Читать книгу Leise Wut - Cornelia Härtl - Страница 26

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Das Mädchen stand am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Ein paar Solarleuchten warfen kleine Lichtkreise auf den akkurat gemähten Rasen, links von ihr spuckte ein steinerner Fisch einen Strahl Wasser in die Luft, der von dem Becken unter ihm aufgefangen wurde. Sie drehte den Kopf. Der Junge schlief auf der gegenüberliegenden Seite, zusammengerollt wie ein Embryo. Er war so erschöpft gewesen, dass er nicht einmal etwas gegessen hatte. Nur die Milch hatte er getrunken. Sie griff in die runde Keksdose, die sie in dem Schränkchen neben Prospekten, Klarsichthüllen und Kugelschreibern gefunden hatte. Die mit Schokolade gefüllte Waffel knirschte beim Hineinbeißen. Sie behielt das Stück lange im Mund, schmeckte Zucker und Kakao und versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Süßigkeiten gegessen hatte. Sie wusste es nicht mehr, es war schon zu lange her. Sie biss erneut ab und verfuhr genauso wie zuvor. Ob man nach ihnen suchte? Ganz sicher. Der Mann, der GOTT war, würde sie nicht davonkommen lassen. Da sie kreuz und quer gelaufen waren, sie selbst keine Ahnung davon hatte, wo sie sich befanden, wäre es vermutlich unmöglich, dass jemand anderes sie aufstöberte. Sie lächelte grimmig. Er hatte sie für dumm gehalten, weil sie ungebildet war. Aber jetzt hielt sie sich für schlauer als ihn. GOTT. Was sollte das überhaupt heißen? Niemand war GOTT. Nur, dass der Mann sich so nannte.

Das letzte Stück der kleinen Waffel war dran. Sie warf einen Blick in die Dose. Wenn sie es sich gut einteilte, würde sie mit den Keksen ein paar Tage hinkommen. Noch immer hatte sie keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Polizei war undenkbar. Nicht nach allem, was sie mitbekommen hatte.

Die sperren euch ein. Ihr kommt in ein Heim.

Nach Hause konnte sie nicht, sie hatte kein Zuhause mehr. Nur noch einen Vater, an den sie nicht denken wollte. Jetzt nicht. Nie mehr.

Ich wünschte, er wäre tot.

Sie presste die Stirn gegen das kühle Fensterglas. Sie würden sich irgendwie durchschlagen müssen, bis ihr etwas einfiel. Der Junge regte sich im Schlaf, er brabbelte etwas Unverständliches, seine Füße zuckten.

Im selben Moment hörte sie von draußen ein Motorengeräusch. Sie trat einen Schritt zurück. Von ihrer Position aus konnte sie ein Stück der Straße sehen. Ein dunkler Wagen fuhr dort draußen im Schritttempo heran. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als er vor dem hohen Metalltor stoppte. Niemand stieg aus, der Motor lief weiter. Ihr Mund wurde trocken. Hatte man sie gefunden? Jetzt öffnete sich die Tür der Beifahrerseite. Ein schwarz gekleideter Mann stieg aus. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe fiel auf den gekiesten Weg, der direkt zu ihnen herüber führte.

Das Mädchen ließ sich blitzschnell fallen, robbte ganz nah an die Wand und presste sich mit dem Rücken dagegen. Wer war da draußen? Ein leichtes Metallgeräusch, als rüttele jemand prüfend am Tor. Gleich darauf quietschten die Rollen. Sie hatten das Tor geöffnet! Panisch sah sie sich um. Sie kam hier nicht raus, ohne gesehen zu werden. Ihr Blick glitt schräg nach oben. Erfasste einen Holzriegel an der Tür. Wenn sie es schaffte, den vorzulegen, bevor der Mann die Tür erreicht hatte, konnte er nicht herein. Vorsichtig schob sie sich weiter nach rechts, bis sie direkt unter der Tür saß, drehte sich um und griff, kniend, nach oben. Ihre Fingerspitzen berührten den Riegel, so konnte sie ihn aber nicht umlegen. Ein Glasfenster war in Kopfhöhe in der Tür eingelassen. Sie erhob sich gerade so weit, dass sie den Riegel erreichen konnte und nicht durch das Fenster zu sehen war. Mit einem leisen Geräusch schnappte die Verriegelung ein. Mit heftigem Herzklopfen blieb sie einen Moment in dieser Position. Dann sank sie zu Boden und robbte zurück unter das Fenster. Ein Lichtstrahl huschte darüber hinweg, streifte die hellbraunen Dachbalken. Sie presste die Augen kurz zusammen. Riss sie wieder auf. Wenn der Mann herkam und mit der Taschenlampe durchs Fenster leuchtete, würde er den Jungen sehen.

Die Anspannung in ihr war auf einmal so groß, dass sich ihre Finger wie von selbst zu Fäusten schlossen. So fest, dass ihre Fingernägel ins Fleisch ihrer Ballen schnitten. Was sollte sie tun? Den Jungen wecken, um ihn auf ihre Seite zu holen? Was, wenn er aufschreckte, weinte oder schrie?

Sie hörte vorsichtige Schritte draußen auf dem Kies. Eine Männerstimme, die leise etwas sagte. Sie wusste nicht, ob sie die Stimme kannte.

Sie dürfen mich nicht finden, dachte sie. Was ihr blühen würde, wollte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Und der Junge? Würde es ihn noch härter treffen als sie, wehrlos, wie er war? Das Licht war nicht näher gekommen, aber der Mann war noch da, so nah, dass sie seine Schritte hören konnte. Ein piepsendes Geräusch ertönte, wie von einem elektronischen Gerät. Die Männerstimme sagte etwas. Dabei entfernte sie sich.

Das Mädchen lauschte angestrengt. Erst, als das Tor zugezogen wurde und das Klappen der Wagentür ertönte, erhob sie sich und spähte aus dem Fenster. Der Wagen fuhr an. Jetzt konnte sie im Schein der Straßenlaternen die Aufschrift an der Seite erkennen. »Security«, mehr verstand sie nicht. Es reichte, um sie aufatmen zu lassen. Der Wachdienst war hier gewesen. Nur der Wachdienst. Auch der hätte sie finden können und das wäre nicht gut gewesen. Aber nichts war so schlimm wie GOTT.

Gut, dass der Junge all das verschlafen hatte. Jetzt legte auch sie sich hin, richtete sich auf dem harten Holzboden des Ausstellungspavillons ein, in den sie sich geflüchtet hatten. Morgen früh mussten sie hier raus sein, bevor die ersten Mitarbeiter kamen. Sie trug keine Uhr, aber ihr Empfinden sagte ihr, dass sie bis dahin noch ein paar Stunden Schlaf tanken konnte. Und sobald draußen die Sonne aufging, würde sie wach werden. Sie legte den Arm unter den Kopf und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Es fiel ihr nichts ein.

Leise Wut

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