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Die Kinder tobten unbeschwert herum, gelegentlich ermahnt von einer der Erzieherinnen. Das Mädchen stand außerhalb des Kindergartens und sah ihnen durch den Zaun hindurch zu. Der Junge hatte seine Hand in ihre geschoben. Sie war kühl und klebrig. Dennoch hielt sie sie fest.

Sie hatten den Gartenpavillon auf dem Ausstellungsgelände des Baugroßhandels verlassen, ohne dass sie gesehen wurden. Kaum jemand nahm von ihnen Notiz, als sie durch die Straßen liefen. Die meisten Menschen starrten auf die Displays ihrer Telefone oder musterten sie nur beiläufig. Nur eine Frau hatte empört geschnaubt, als sie neben ihnen an einer Ampel wartete. Sie war demonstrativ zwei Schritte von ihnen weggegangen und das Mädchen dachte, dass sie vermutlich beide nicht so gut rochen.

Sie betrachtete die schmutzigen Socken des Jungen. Er brauchte dringend ein paar Schuhe, konnte kaum noch laufen. Zunächst hatte sie daran gedacht, sich in den Kindergarten zu schleichen. Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Am anderen Ende des Geländes lag eine Grundschule, daneben eine Sporthalle.

»Warte hier«, wies sie den Jungen an und zeigte auf eine rote Bank an der Grünfläche hinter ihnen. »Ich komme schnell zurück.« Er setzte sich brav hin und sie zog ihm einen Socken aus. »Kriegst du gleich zurück«, erklärte sie.

Die Turnhalle roch muffig, irgendwo wurden Bälle auf den Boden gedroschen. Das Mädchen huschte durch die Gänge, bis es zu einer Umkleidekabine kam. Mädchen. Sie ging weiter, bis zu den Jungs. Horchte. Niemand war hier draußen. Sie drückte die Tür auf. Auch hier alles ruhig. In der Mitte zwei Reihen Spinde, mit dem Rücken zueinander. Davor lange Bänke. An Haken hingen Jacken und Turnbeutel, darunter in wildem Durcheinander Schuhe. Sie suchte das kleinste Paar aus, das sie finden konnte, hielt den Socken dran. Die mussten passen. Sie blickte sich um, griff nach einem der Stoffbeutel. Als sie den Inhalt sah, kam ihr eine Idee.

Wenige Minuten später ging sie noch einmal in die Mädchenumkleide, machte sich auch hier systematisch auf die Suche. Noch bevor sie fertig war, hörte sie Schritte. Jemand kam genau auf den Raum zu. Schnell setzte sie sich auf die Bank, tat, als würde sie ihre Schuhe ausziehen. Die Tür öffnete sich. Ein Mädchen stand da, wohl ein paar Jahre älter als sie, das dunkle Haar akkurat gescheitelt und zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden. Getöntes Lipgloss ließ es apart aussehen. »Klara nicht hier?«

Sie schüttelte den Kopf, die Tür schloss sich, die Schritte entfernten sich. Sie beeilte sich nun, aus der Turnhalle heraus zu kommen. Der Junge saß auf der Bank, die Beine schlenkerten in der Luft. Er sah so verloren aus, wie er war.

»Schnell, zieh das an!«, sagte sie und reichte ihm seinen Socken und die Schuhe. Sie passten und sie atmete auf. Dann gab sie ihm einen der drei prall gefüllten Beutel, die sie bei sich trug. »Ich hab uns was zu essen besorgt. Und Saft. Und Schokoriegel.«

Weiter hinten trat jemand gestikulierend aus der Tür der Turnhalle. Das Mädchen blickte über ihre Schulter zurück. »Los, weg hier«, murmelte sie und zog den Jungen mit sich, der verlor beinahe den Beutel, weil er nach dem Stofftier griff, das noch auf der Bank lag.

»Hallo, Ihr da!«, schrie jemand. Es war die Bezopfte. Das Mädchen drehte sich nicht mehr um. Sie sprintete mit dem Jungen an der Hand den Fußweg entlang, am Außengelände des Kindergartens vorbei, in dessen Garten jetzt Ruhe eingekehrt war. Frühstückszeit. Sie bogen in eine mit Bäumen gesäumte Allee ab, rannten weiter durch eine schmale Straße. Bis sie zu einer winzigen Grünanlage kamen. Dahinter lagen Reihenhäuser, alles schmuck, mit ordentlich gestutztem Rasen und beschnittenen Hecken.

Ob man sie noch verfolgte? Sie wagte nicht, sich umzudrehen, zog den Jungen weiter, durch den Durchgang zwischen zwei Häusern, hinter denen ein schmaler Weg entlang eines Waldstücks lief. Schilder wiesen zu einem Sportplatz. Von irgendwoher hörte sie laute Rufe. Sie erschrak, bevor sie realisierte, dass auf einem naheliegenden Gelände Fußball gespielt wurde. Die Turnbeutel schlugen heftig gegen ihre Beine, sie wagte nicht, stehenzubleiben, um sie sich über die Schulter zu hängen. Der Junge konnte nicht mehr, er stolperte, wäre fast gefallen.

Gleich wird er wieder anfangen zu heulen.

Das Mädchen ließ seine Hand los. Sie konnte ihn nicht mehr mitnehmen. Wusste selbst nicht, wohin sie eigentlich wollte. Sie musste sich verstecken, noch ein paar Tage durchstehen, zu Geld kommen, in Ruhe nachdenken. Jetzt erst einmal von dem Pfad weg. Sie bog nach rechts ab, lief durchs Dickicht. Ihr eigener Atem dröhnte ihr in den Ohren. Sie spürte Zweige über ihre Haut kratzen. Weiter, einfach weiter, bis sie sicher sein konnte, dass niemand hinter ihr her war. Das Waldstück lichtete sich. Vor ihr breiteten sich große Gartengrundstücke aus. Sie war in einer Schrebergartensiedlung angekommen. Keuchend hielt sie an. Starrte auf Stangenbohnen, Tomatenpflanzen, Komposthaufen. Kleine Gartenhütten. Sie kniff kurz die Augen zusammen. Hier würde sie sich verstecken können. Etwas zu essen und zu trinken hatte sie erst einmal. Wenn sie Glück hatte, konnte sie sich waschen und fand vielleicht auch ein Kleidungsstück, das frischer war als das, was sie am Leib trug.

Hinter ihr knackte ein Ast. Erschrocken fuhr sie herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, wer dort stand.

Leise Wut

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