Читать книгу Spielen und Lernen verbinden - mit spielbasierten Lernumgebungen (E-Book) - Cornelia Rüdisüli - Страница 10
4 Spielen und Lernen verbinden
ОглавлениеDas Ringen um eine adäquate Definition von Spiel hat zu verschiedenen Kriterienlisten geführt, die bis zu 60 Merkmale aufführten, (Pellegrini et al. 2007; Crowley 2017). Auch unterschied man die Sicht der Erwachsenen auf das Spiel (kriteriengeleitet, beobachtbarer Zustand) von der Sicht der Kinder (Selbstwahrnehmung, innerer Zustand, Playfulness) (Howard 2002). Playfulness meint dabei als Fähigkeit, Bereitschaft und Freunde von Kindern sich auf das Spiel(en) einzulassen (Wustmann Seiler, 2019). Es ist bemerkenswert, dass schon Drei- bis Sechsjährige zwischen Spielen und Arbeiten differenzieren (können). Die entscheidenden Faktoren für die Kinder sind die Wahlfreiheit, die Autonomie und die Selbstkontrolle. Dies zeigt sich unter anderem, dass Kinder Tätigkeiten am Tisch und mit Erwachsenen weniger als Spiel empfinden. Trotzdem sind Erwachsene in der Regel willkommene Spielpartner und werden nicht selten von den Kindern zum gemeinsamen Spielen aufgefordert (Howard 2002). Unstrittig ist auch, dass Erwachsene kindliches Spielen und Lernen durch anregende Materialien und Spielimpulse stimulieren können, dürfen und sollen (Bradley et al. 2001; Siraj-Blatchford et al. 2002; Siraj-Blatchford 2007; Smith et al. 2013). Dass Erwachsene eine wichtige Rolle beim Spiel der Kinder einnehmen sollen, lässt sich durch verschiedene empirische Befunde der Lern- und Entwicklungspsychologie belegen.
So wissen wir aus lernpsychologischen Befunden, dass mit vollkommen offenen Lernsettings eher ungünstige Lernergebnisse einhergehen. Alfieri et al. (2011) zeigten in einer Metaanalyse von 164 Studien auf, dass Instruktion bessere Ergebnisse zeitigt als unbegleitetes entdeckendes Lernen und das «unterstützte Entdecken» (enhanced discovery) und noch mehr das «geführte entdeckende Lernen» (guided discovery) wiederum der Instruktion überlegen sind. Erklärt werden diese Effekte mit den begrenzten metakognitiven Fähigkeiten und dem noch nicht vollständig entwickelten Arbeitsgedächtnis der Kinder. Ein Fehlen an sachlicher und didaktischer Struktur begrenzt die Effekte von selbstgesteuertem Spielen und Lernen (Alfieri et al. 2011, S. 2−11). Noch klarer formuliert Mayer in seiner Übersicht, dass reine Exploration ohne Hilfestellung eine «formula for educational disaster» – übersetzt eine «Formel für Bildungskatastrophe» – sei (Mayer 2004, S. 17). Die noch nicht genügend entwickelten metakognitiven Fähigkeiten und die noch beschränkten Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses sind insbesondere bei jüngeren Kindern in der Gestaltung von Lernsettings zu berücksichtigen. Der steile Anstieg der Arbeitsgedächtniskapazität zwischen 5 und 10 Jahren (Ullman et al. 2014) geht einher mit dem Übergang vom inzidentellen (zufälligen) zum systematischen Lernen (Duncker 2015). Gleichzeitig muss jedoch erwähnt werden, dass gerade Kinder im Alter zwischen 4 und 8 Jahren eine enorme Streuung in der Arbeitsgedächtniskapazität – etwa um den Faktor 7 – aufweisen. Die Arbeitsgedächtniskapazität ist zudem ein starker Prädiktor für spätere schulische Leistungen (Ullman et al. 2014). Nachweisbar ist, dass unter Spielbedingungen eine bessere Fokussierung, positivere Emotionen, erhöhte Metakognition und zielgerichtete Strategien festzustellen sind (Hauser et al. 2014; Hood et al. 2016; Weisberg et al. 2013; Kangas 2010; McInnes, Howard, Miles. & Crowley, 2011). Offenbar gelingt es Kindern unter spielerischen Bedingungen, sich auf eine Situation oder einen Gegenstand besser zu konzentrieren. Das ist angesichts der noch beschränkten Arbeitsgedächtniskapazität und der noch kleinen Wissensbasis zentral (Ullman et al. 2014; Stern 2009; Sodian 2008). Demnach wäre also nicht das spirlerische Arrangement an und für sich der Grund für die besseren Lernergebnisse, sondern die höhere Konzentration gepaart mit grösserer Motivation (Kangas 2010; Leuchter 2013; Stipek et al. 1995). Dies würde erklären, warum wir einen «lack of evidence» für den Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen finden (McInnes et al. 2011). Dazu kommt, dass die Wissensbasis von jüngeren Kindern häufig in informellen Situationen erworben wird und längere Zeit intuitives Wissen bleibt, das in Gesprächen mit Kindern selten abgefragt werden kann (Baroody et al. 2005; Sodian 2008).
Obige Befunde passen auch gut zur evolutionsbiologischen Erklärung kindlicher Entwicklung, nach der das Spiel in einer natürlichen Umgebung den Kindern Vorteile im Bereich späterer überlebensnotwendiger Fähigkeiten verschafft, zum Beispiel im Bereich der körperlichen Fitness und der motorischen Koordination (Bewegungsspiele), im Bereich der Kampf- und Dominanzfähigkeiten (Raufspiele) und im Bereich von sozialen und theoretischen Denkfähigkeiten (Phantasie- und kooperative Spiele) (Pellegrini et al. 1998). Spielen wäre demnach vor allem bei Arten verbreitet, die eine lange Reifezeit haben und in variablen und instabilen Umwelten leben und somit ein flexibles Verhaltensrepertoire benötigen. Durch das Spielen werden Tätigkeiten nachgeahmt, um potenzielle Lösungen auf ein noch nicht aufgetauchtes Problem vorzubereiten (Pellegrini et al. 2007). Diese biologisch primären Fähigkeiten («biologically primary skills») – so die Argumentation – würden durch das Freispiel natürlicherweise genügend gefördert, sofern ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung steht. In einer modernen kulturellen und gestalteten Umwelt ist jedoch der Erwerb zusätzlicher Kulturtechniken und Fähigkeiten («biologically secondary skills») notwendig. Dafür benötigen Kinder Unterweisung und Instruktion. Das Freispiel ist also weniger effektiv, wenn es gilt, ein Lernziel zu erreichen. (Toub et al. 2016) (siehe Tabelle 1).
Tabelle 1 Biologisch primäre und sekundäre Fähigkeiten nach Toub et al. (2016) und Weisberg et al. (2018)
Spielform | Beispiele | |
Biologisch primäre Fähigkeiten wie Motorik, Kommunikation, soziales Handeln usw. | Freies SpielInitiative, Auswahl, Steuerung durch das Kind; passive Angebotsstruktur | Bewegung im Raum (Körperbeherrschung, Springen, Laufen, Raufen), Verhandeln, Kompromisse schliessen, Perspektivenwechsel |
Biologisch sekundäre Fähigkeiten wie mathematische, musikalische, sprachliche Muster; Gesetzmässigkeiten | Geführtes SpielInitiative durch Erwachsene; Auswahl, Steuerung durch das Kind; aktive Angebotsstruktur | Suche nach Zahlenmustern, Regeln der Sprache, Zusammenhänge in der Natur und Kultur |
Demnach wird zwischen biologisch primären Fähigkeiten, die Kinder in vormodernen Gesellschaften durch Nachahmen und spielerisches Wiederholen im freien Spiel meist selbständig und beiläufig erwerben, und biologisch sekundären Fähigkeiten unterschieden (Toub et al. 2016, S. 121 ff.; Weisberg et al. 2018). Argumentiert wird dabei mit dem Verweis auf die Jäger-Sammler-Gesellschaft. Dies ist leider aber weitgehend Spekulation, da wir nur wenig über die sozialen Bedingungen menschlicher Existenz vor 10 000 Jahren wissen. Spielen setzt immerhin voraus, dass Menschen in relativ sicheren Verhältnissen leben (Pellegrini et al. 2007). Ob das unter eiszeitlichen Bedingungen der Fall war, darüber wissen wir wenig. Aber Spielen hat sicher dazu beigetragen, dass ein Verhaltensrepertoire für unvorhergesehene Situation elaboriert wurde, da Spiel zwar bestehendes Verhalten nachahmt, aber auch im Sinne der «variety of routines» (Pellegrini et al. 2007, S. 269) moduliert. Die Instruktion und das Lernen durch Nachahmung hat demnach den Nachteil, dass diese Strategien rein konservativ und damit wenig innovativ sind. Spielen im Sinne der Verhaltensmodulierung ermöglicht spontane Rekombinationen von altem Verhalten zu neuen Varianten (Pellegrini et al. 2007, S. 267).
Geht es jedoch darum, dass Kinder bestimmte biologisch sekundäre Fertigkeiten erlernen sollen, etwa Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, mathematische und naturwissenschaftliche Gesetzmässigkeiten sowie Musik und Malerei, dann ist das inzidentelle Lernen bzw. das freie Spiel nicht besonders lernwirksam (siehe Alfieri et al. 2011; Mayer 2004). In diesem Fall sind Materialangebot, Strukturierung, Impulse und die Begleitung durch Erwachsene erforderlich.
Dieser Argumentation folgend, lässt sich festhalten: Auch wenn unsere Umwelt immer mehr durch menschliche Eingriffe gestaltet und gezähmt wird, lernen Kinder auch heute noch grundlegende Fertigkeiten im freien Spiel. Durch dieses freie Spiel werden aber nicht alle erforderlichen Kompetenzen unserer Gesellschaft gefördert. Deshalb sind gezielte Interventionen der Erwachsenen als Ergänzung von Bedeutung. Das Gegensatzpaar «play ethos» versus «direkte Instruktion» als Gegensatz («dichotomy») bringt das Dilemma zwar auf den Begriff, trägt aber nichts zu einer Lösung bei. (Nicolopoulou 2013; Toub et al. 2016; Weisberg et al. 2016; Stipek et al. 1995). Dass Kinder unter spielerischen Bedingungen effizient lernen und frühe Instruktion einem fade-out-Effekt unterliegt, ist nur zu gut bekannt. Seit 10 Jahren wird in der Forschungsliteratur deshalb das spielerische Lernen (playful learning), – also die Verbindung zwischen Spielen und Lernen als eine Kombination aus freiem und angeleitetem Spiel, diskutiert. Dabei spielen die von Erwachsenen gestalteten Spiel- und Lernumgebungen eine zentrale Rolle.
Für die theoretische Debatte wie auch für die praktische Arbeit mit Kindern benötigen wir daher keine Dichotomie von Spielen und Lernen, sondern ein Modell des Spielens, als Kontinuum, welches den systematischen Übergang wie auch die Kombination verschiedener Spiel- und Lernformen darstellt. Das spielerische Lernen umfasst demnach nicht mehr nur freies Spiel, sondern auch begleitetes oder geführtes Spiel, Regelspiele und Lernspiele (Hirsh-Pasek 2018).