Читать книгу Spielen und Lernen verbinden - mit spielbasierten Lernumgebungen (E-Book) - Cornelia Rüdisüli - Страница 23
4 Ausgewählte Aspekte des Lernens im Spiel 4.1 Freispiel, offener Unterricht, Selbstregulation
ОглавлениеIn frühpädagogischen Institutionen verbringen Kinder etwa die Hälfte ihrer freien Spielzeit mit mathematik- oder wissenschaftsorientierten Aktivitäten. Die Kinder stellen beispielsweise mit verschiedenen Materialien Muster her; sie zeichnen sie; sie zählen Objekte ab, ordnen und nummerieren sie; sie messen verschiedene Objekte und Substanzen (Flüssigkeiten, Geld, Steine, Sand, Spielsachen, Ausdehnungen, Menschen usw.) und versuchen, deren Quantität zu benennen; sie versuchen, Objekte in kategoriale Gruppen (wie Gemüse, Obst, Fische, Vögel usw.) einzuordnen und zu klassifizieren (Ginsburg & Ertle, 2008; Sarama & Clements, 2009). Diese Jahre andauernde tägliche – in der Regel spielerische − Beschäftigung mit natürlichen Gesetzmässigkeiten in den ersten Lebensjahren führt bei ausreichender Vertiefung in die Phänomene zu beachtlichen Lernwirkungen. So finden sich nachhaltige Lernerträge sogar bei benachteiligten Vorschulkindern durch tägliches Spiel mit Bauklötzen («building blocks»; Sarama & Clements, 2009). Zudem zeigen Kinder umso bessere Kompetenzen in Mathematik vom Kindergarten bis zum Gymnasium, je mehr sie in der Vorschulzeit mit Klötzen gespielt habten (Wolfgang et al., 2003). Im konstruierenden Spiel erwerben Kinder viele funktionale Kompetenzen, z. B. über die Gesetzmässigkeiten ineinandergreifender Zahnräder (Reuter & Leuchter, 2019; siehe auch den Beitrag in diesem Band). Allerdings klappt das nicht bei allen Kindern. Gerade im freien Spiel lernt ein beachtlicher Teil der Kinder zu wenig (Slot, 2014).
Das Freispiel wird oft als Heiligtum behandelt oder als Lernmedium an sich stark mystifiziert. Die normative Setzung und der Glaube, wonach Erwachsene sich tunlichst aus dem Freispiel heraushalten und nur höchst zurückhaltend allenfalls etwas ermöglichen sollten, hält sich nun schon mehr als 100 Jahre (Elschenbroich, 2001). Jüngere Befunde zeigen aber, dass das Freispiel viele Schwächen aufweist: So ist es zuweilen ein Herd für Mobbing und unfaire Hänseleien (Alsaker, 2004), oder es kommt in wenig oder nicht geführten Gruppen zu ungünstigen Gruppendynamiken – zum Beispiel durch überdominante Kinder (Fried, 2004). Beides beeinträchtigt den sozialen und kognitiven Lernprozess nachhaltig. Vor allem nutzen zu viele Kinder gerade in diesen (unbegleiteten) Freispielphasen die Zeit wenig ertragreich und widmen sich (zu) wenig herausfordernden Tätigkeiten, wie Slot (2014) in ihrer Studie mit zweieinhalb- bis vierjährigen Kindern zeigen konnte. Bedeutsam sind dabei die Nachteile des Freispiels für bildungsferne Kinder, vor allem bei der Entwicklung des Wortschatzes, der kognitiven Kompetenzen und der Aufmerksamkeit. Dies insbesondere deshalb, weil sie oft zu lange herumwandern (vgl. De Haan et al., 2013; Dickinson et al., 2013) und weil dabei Erwachsene nur selten mit den Kindern interagieren und dieses Spiel damit auch kaum begleiten (Lesemann et al., 2001, Powell et al., 2008).
Das Problem der mangelhaften Nutzung der eher freien Lernangebote ist auch für die Schule, zum Beispiel für das Lernen im Wochenplan- oder Werkstattunterricht, belegt, wobei in den entsprechenden Studien auch deutlich wird, dass diese Unterrichtsformen vor allem für leistungsschwächere Lernende die grössten Nachteile bergen (Niggli & Kersten, 1999). Das heisst nicht, dass diese eher freien Angebote nicht eingesetzt werden sollen, sondern nur, dass dies insbesondere bei leistungsschwächeren Kindern gezielter geschehen sollte.
Alle diese Befunde legen nahe, dass vor allem Kinder mit noch wenig entwickelter Selbstregulation im Freispiel und in anderen eher freien Unterrichtsformen (Werkstatt-, Plan- und Projektunterricht sowie Lernlandschaften) benachteiligt sind. Die Befunde zeigen auch eindrücklich, dass Spiel kein Selbstläufer ist und dass die Idee, Freispiel und eher offene Unterrichtsformen seien umfassende Mittel zur Förderung der selbstbildenden Kräfte, weitgehend ein Mythos ist (vgl. Fthenakis, 2004). Kinder mit guter Selbstregulation hingegen nutzen freie Spielsituationen mit Bauklötzen oder Konstruktionsmaterialien mit grosser Konzentration und fordern sich dabei selbst heraus. Kinder ohne diese Fähigkeit benötigen zuerst Unterstützung im Aufbau der Selbstregulation (Whitebread et al., 2015). Selbstregulation entwickelt sich jedoch nicht von selbst – auch im Spiel nicht; Impulse kontrollieren, teilen, warten können und vieles mehr bedarf einer liebevollen, erklärenden, aber auch konsequenten Erziehung, die laufend zur Selbstkontrolle anhält, diese immer wieder einfordert und sie auch immer wieder bestätigt (Bauer, 2015). Es braucht aber auch verlässliche Erwachsene; Erwachsene also, die einmal gegebene Versprechen oder Ankündigungen auch einhalten (Kidd et al., 2012). Erheblich weniger Selbstregulation als im freien Spiel erfordern geführte (Regel-) Spiele, weil diese durch ihr Regelwerk vieles schon vorgeben.