Читать книгу Kirche im Dunkeln - Cristina Fabry - Страница 13

Männlich, sechzehn, damit wir klug werden

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3.20 Uhr. Marvin ist immer noch nicht im Quartier angekommen, ans Handy geht er auch nicht. Vermutlich amüsiert er sich mit irgendwelchen neuen Bekanntschaften im Stadtpark, hat irgendwelche Gitarre spielenden Nachteulen aufgetan. In die Clubs lassen sie ihn sicher nicht hinein, die Kneipen sind geschlossen. Und so massenhaft alternative Subkultur wird es in Stuttgart wohl nicht geben. Der Kirchentag macht die sonst so eintönige, spießbürgerliche, vom Autoverkehr beherrschte Stadt so bunt, da vergeht den Einheimischen Hören und Sehen.

Ach wäre sie doch noch so lässig und entspannt wie damals beim ökumenischen Kirchentag in Berlin. Fabian war die ganze Nacht weggeblieben, stand erst beim Frühstück mit sehr kleinen Augen in der Schlange. Dass er fehlte, war ihr noch nicht einmal aufgefallen. Als er dann erzählte, dass er sich im Laufe des Abends so betrunken hatte, dass er sich nicht mehr getraut hatte, ins Quartier zurückzukehren, und darum die Nacht in der S-Bahn verbrachte hatte, die Nonstop im Kreis um Berlin fuhr, was ja aufgrund des Kirchentags-Tickets, das auch für den gesamten öffentlichen Nahverkehr galt, kein Problem gewesen war, hatte sie schallend gelacht. Er war ja schon siebzehn gewesen und kannte sich aus in Berlin, weil er vor kurzem noch dort gelebt hatte.

Sie versuchte sich zu beruhigen. Marvin war intelligent und nicht leicht einzuschüchtern. Er kannte seine Grenzen, an die er zwar gerne mal ging, die er aber nicht überschritt. Sicher hatte er gerade ein ganz tolles Erlebnis, von dem er morgen begeistert beichten würde. Und Stuttgart war ja nun wirklich eher das Gegenteil von einem lebensgefährlichen Sündenbabel, da hätte sie damals in Berlin erheblich mehr Grund zur Beunruhigung gehabt. Aber ja älter sie wurde, umso ängstlicher wurde sie. In jungen Jahren war sie mehr damit beschäftigt gewesen, nicht bei der Organisation der vielen wichtigen Details zu versagen, um die Unversehrtheit der Jugendlichen hatte sie sich kaum gesorgt, war sie doch kurz zuvor selbst in dem Alter gewesen und hatte gelernt, dass in der Regel nichts Gefährliches passierte. Aber mit der wachsenden Sicherheit, was die äußeren Rahmenbedingungen betraf, schwand ihr Gottvertrauen in den Welpen-Schutz der ihr anvertrauten Heranwachsenden. Auch wenn sie bis jetzt keinen Fehler gemacht hatte, würde sie Marvins Eltern nicht ins Gesicht sehen können, wenn ihm etwas Furchtbares widerfahren sein sollte.

Die Morgendämmerung lag über dem Stadtpark und Nebelschwaden stiegen von den Wiesen auf, an denen die junge Frau vor Arbeitsantritt entlang joggte. „Meine Güte!“, dachte sie. „Beim Evangelischen Kirchentag könnte man doch erwarten, dass anständige Leute in die Stadt kommen, stattdessen lagen überall Schnapsleichen herum. Als sie näher an die beiden Bündel kam, die dort auf der Decke lagen, bemerkte sie, dass sie seltsam verrenkt wirkten und ihre Körperhaltung alles andere als bequem schien. Auf einem der beiden lag eine Gitarre, deren Hals abgebrochen war. Dann sah sie das Blut und die starren, in den Himmel gerichteten Blicke und schrie so lange, bis irgendjemand sie an die Schulter fasste und sie von dem schrecklichen Szenario hinweg führte.

Beim Frühstück war Marvin immer noch nicht da. Sie wurde unruhig. Sollte sie zuerst die Polizei verständigen oder lieber zuerst die Eltern anrufen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn ihr Smartphone vibrierte in der Tasche. Es waren Marvins Eltern. Erleichtert meldete sie sich.

„Frau Förster?“

„Ja, ich bin hier.“

„Frau Förster, ist Marvin bei Ihnen?“, fragte die Mutter mit brüchiger Stimme.

„Nein.“, antwortete sie zitternd, „er ist letzte Nacht nicht zurückgekommen. Ich wollte Sie auch gerade anrufen, ob er sich bei Ihnen gemeldet hat. Als nächstes hätte ich die Polizei eingeschaltet.“

„Die ist schon eingeschaltet.“

„Wie bitte?“

„Sie haben Marvin im Park gefunden. Zusammen mit einem jungen Mann aus Dortmund. Jemand hat die beiden mit einer Gitarre erschlagen.“ Die letzten Worte waren der Mutter kaum noch über die Lippen gekommen, jetzt brach sie in Tränen aus und konnte nicht mehr weiter sprechen.

Die Täter wurden erst ein Jahr später gefasst, weil es sich um Wiederholungstäter handelte: junge Erwachsene, gescheiterte „Muschterländler“, die den Anschluss verpasst hatten und nun jeden dafür verantwortlich machten, der aus ihrer Sicht ein Parasit war, der einen Platz besetzte, der eigentlich ihnen zustand. Südländer bezeichneten sie als „Kanaken“, unkonventionelle Jugendliche als „Zecken“. Stuttgart war nicht stolz auf sie, jetzt erst recht nicht und genau das war ihr Problem: nie war jemand stolz auf sie gewesen.

Berlin und Wittenberg 2017. Das Motto wird lauten: „Du siehst mich.“ Für sie klingt es nur noch wie eine Drohung. Sie wird nicht dabei sein. Kein Kirchentag mehr. Nie wieder. Sie ist schon klug geworden.

Kirche im Dunkeln

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