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Mörderische Jugendkirche

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Er rang nach Luft, als er in die Jugendkirche stolperte. Sprechen konnte er nicht mehr, dann stürzte er vornüber zu Boden. Ein Springmesser steckte zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule und sein Blut hatte auf dem hellblauen T-Shirt schon einen gewaltigen Fleck hinterlassen.

„Maurice!“, schrie Sandra auf, nachdem sie ihn erkannt hatte; hielt sie ihn doch zunächst im Halbdunkel des Eingangsbereichs für einen betrunkenen Obdachlosen, wie sie häufiger in Hoffnung auf ein heimliches Schlafplätzchen in der in der Bielefelder Innenstadt gelegenen Jugendkirche aufkreuzten. Eigentlich hatte sie in einer Viertelstunde Feierabend machen und die Kirche schließen wollen. Nun eilte sie zu dem Schwerverletzten, setzte einen Notruf ab und redete dann ununterbrochen auf ihn ein. Zum Glück dauerte es wegen der Innenstadtlage bei ruhiger gewordenem Verkehr nur fünf Minuten bis der Krankenwagen eintraf. Die Polizei war ebenfalls zur Stelle und nahm die Aussage der Jugendreferentin auf. Maurice sei ein freundlicher und äußerst beliebter Jugendlicher, erklärte sie. Ihr seien keine Konflikte mit anderen Jugendlichen bekannt. In der Evangelischen Jugend käme es eigentlich auch nicht vor, dass Auseinandersetzungen gewaltsam geführt würden.

Durch einen hellen Tunnel ging er auf ein grelles Licht zu, das ihn aber seltsamerweise nicht schmerzte und blendete, sondern gleichzeitig magisch anzog und warm und weich einhüllte. Doch hinter sich hörte er eine Stimme: „Maurice, komm zurück!“. Es war Jules Stimme. Er wollte weitergehen, aber sein Gewissen war stärker, denn Jule klang so verzweifelt, sie brauchte seine Hilfe und er wusste, dass das Licht auf ihn warten würde, er könnte jederzeit dorthin zurückkehren.

Allerdings war die Richtung, aus der er kam, wenig attraktiv. Der Tunnel wirkte schmutzig grau und in der Ferne sah er sich selbst liegen, niedergestochen und aus der Schulter blutend. Doch von weiter hinten wedelte Jule aufgeregt mit den Armen. Jemand hielt sie an der Hüfte fest. Je näher er kam, umso deutlicher erkannte er, dass Jule zu ihm laufen wollte, aber nicht konnte, weil die Gestalt sie festhielt. An den Tunnelwänden blitzten überall Bilder wie bewegliche Werbetafeln auf: Jule am Baggersee, seine rasante Tour auf der Sommerrodelbahn während der Klassenfahrt in der Achten, der mittlerweile verstorbene Familienhund Floppy, das Baumhaus im Garten seiner Großeltern, mit Jule im Rohbau eines riesigen Wohngebäudes, während draußen ein Gewitter wütete, viele Freunde und bekannte Gesichter, zu denen ihm die Namen gerade nicht einfielen.

Jule war jetzt fast zum Greifen nah, da tauchte neben ihrem Kopf das Gesicht des Typen auf, der sie festhielt: Tillmann. Er sah ganz anders aus als sonst: Die Augen mehr schwarz als blau, der Mund verzerrt, die Nasenflügel bebten und an seinem sonst so glatten, blassen Hals wurden Sehnen und Adern sichtbar.

„Maurice, hörst du mich?“, rief eine sanfte weibliche Stimme. Das war nicht Jule, das war seine Mutter. Er schlug kurz die Augen auf. Er konnte sie erkennen. Sie strich ihm sanft durchs Haar. „Mama.“, sagte er leise, dann glitt er zurück in die Dunkelheit.

Als er das nächste Mal erwachte, hörte er eine brüchige Stimme sagen: „…jetzt muss ich es auch zu Ende bringen.“

Er schlug die Augen auf. Vor seinem Bett stand sein Kumpel Tillmann.

„Hi.“, krächzte er.

„Hi.“, antwortete Tillmann, nachdem er kurz zusammengezuckt war.

„Was musst du zu Ende bringen?“, fragte Maurice.

„Nichts.“, sagte Tillmann und zitterte. Er blickte ängstlich in Maurices müde Augen. Er war ja von hinten gekommen, Maurice hatte ihn nicht bemerkt. Sicher wusste er nicht, wer ihm das Messer in den Rücken gerammt hatte, zumal niemand es Tillmann zuordnen konnte, denn er hatte es gefunden. Gut, er hatte Fingerabdrücke am Griff hinterlassen, aber wer würde schon auf die Idee kommen, ausgerechnet seine Abdrücke mit denen auf dem Messer abzugleichen? Er hatte seine Begehrlichkeiten in Bezug auf Jule stets geheimgehalten. Wenn er jetzt einen kühlen Kopf bewahrte, drohten ihm keine Konsequenzen. Er würde genau wie vorher mit Maurice und Jule in der Band spielen, zusammen auf die Sommerfreizeit fahren, sich mit ihnen im offenen Café treffen und am Wochenende durch die Clubs ziehen. Er würde eben noch eine Weile warten, bis Jule von selbst merkte, dass kein hübscher Kopf auf einem durchtrainierten Körper bei durchschnittlicher Intelligenz auf Dauer hielt, was er versprach. Sie war klug, sie würde sich für den Klügeren entscheiden. Das Leben selbst würde es für ihn zu Ende bringen und er bekam eine zweite Chance. Darum entschloss er sich, Maurice weiterhin treue Freundschaft vorzuheucheln. Er erkundigte sich nach seinem Befinden, ermahnte ihn, sich zu schonen und berichtete, was sich am Vormittag alles in der Schule ereignet hatte. Dann erklärte er, er wolle Maurice nicht überstrapazieren, er käme am nächsten Tag wieder.

Als Tillmann gegangen war, spürte Maurice Eiseskälte in sich hoch kriechen. Er wusste nicht, warum er es wusste, aber er war sich absolut sicher. Als seine Mutter sein Zimmer betrat, sagte er: „Mama, ich will mit der Polizei reden. Ich glaube, ich weiß, wer versucht hat, mich umzubringen.“

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