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Nacht, totenstill

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Böhringer lag in seinem Blut. Er atmete noch, aber er konnte sich nicht bewegen. Er hatte es richtiggehend gemerkt, wie in seinem Kopf etwas kaputt gegangen war. Laut geknackt hatte es, da war etwas explodiert und dann dieser metallische Geschmack auf der Zunge. Er wollte jemanden rufen, aber es kam nichts raus. „Der Safe!“, dachte er noch, „Die gesamten Kollekten der letzten drei Gottesdienste!“ und er konnte die Verbrecher nicht aufhalten.

Wie ein Kinofilm raste sein Leben an seinem inneren Auge vorbei: Die Entbehrungen der Kindheit, als ein Apfel noch ein Geschenk war, die Jahre, in denen es langsam aufwärts ging, die Ferienlager mit dem CVJM, geistliche Lieder am Lagerfeuer, Weckruf der Posaunen, die Konfirmation mit der Predigt über den Leib Christi, der Schulabschluss mit dem anerkennenden Schulterklopfen des Direktors, die Ausbildung bei der Sparkasse, die erste Begegnung mit Hildegard, die Hochzeitsnacht die gleichzeitig aufregend und ernüchternd, erhebend und demütigend war, die Geburt des ersten Kindes, das Gewahr Werden der Bedeutung der Vaterschaft, Karrierestationen: Kundenberater, Filialleiter, Bereichsleiter. Und dann die Wahl zum Presbyter, bewundernde Blicke, schon bald die große Verantwortung des Kirchmeisteramtes, Mitarbeit in der Synode, im Finanzausschuss, der neue Kindergarten, Hildegards Ausfälle, Renate, Renates Zitronenkuchen, Renates Lächeln...

Silvia zitterte am ganzen Körper. Der rechte Arm hing schlaff herunter. Wie ferngesteuert hielt die Hand noch immer den überdimensionalen Heftapparat umklammert. Sie bemerkte die Spritzer auf ihrer Kleidung nicht, erst recht nicht die im Gesicht, aber der strenge, metallische Geruch zog ihr in die Nase. Wer oder was war in sie gefahren und hatte ihren Körper zu dem benutzt, was da gerade geschehen war? Der Kirchmeister lag reglos in einer sich stetig vergrößernden Pfütze hellroten, arteriellen Blutes. Genau das dachte sie: hellrot bedeutet arteriell, frisch mit Sauerstoff angereichert wird es vom Herzen zu den Organen transportiert, um diese mit Sauerstoff zu versorgen, darum verblutet man bei verletzten Arterien auch viel schneller, als bei verletzten Venen, aus denen das schwarze, sauerstoffarme Blut nur heraus sickert. Sollte sie einen Notruf absetzen? Aber was sollte sie erklären? Dass sie ihn so vorgefunden hatte? Hätte sie dann nicht den Heftapparat von ihren Fingerabdrücken reinigen oder verschwinden lassen müssen? Sie entdeckte die Spuren seines Blutes an ihren Händen und an der Kleidung. Sie konnte keine Hilfe holen, vermutlich war er ohnehin längst tot. Aber was, wenn er die Verletzung überlebte? Sicher würde er sich an sie erinnern.

Silvia rannte aus dem Gebäude, den Heftapparat hatte sie in ihre Umhängetasche gleiten lassen. Sie winkte den Herumstehenden zu und rief: „Frohe Weihnachten!“ Ihr Auto stand gleich da vorn an der Straße, wenn sie nur erst den Motor anließ, wäre sie sicher. Sie startete den Wagen und fuhr den vertrauten Weg nach Hause. Sie lenkte das Fahrzeug nur so nebenbei, denn eigentlich sah sie sich einen Film an: den Film den ihr Kopf in den letzten Minuten gedreht hatte.

„Ach, Herr Böhringer. Haben Sie schon gesehen? Wir haben mit dem Elternrat beim Weihnachtsmarkt fast 2000 € zusammen bekommen.“

„Ja, das ist sehr schön, das Geld hat der Kindergarten auch bitter nötig, Frau äh, äh, Frau äh...“

„Gessner.“

„Ach ja, richtig, Frau Gessner. Das haben Sie jedenfalls ganz wunderbar hinbekommen.“

„Ja, jetzt können wir uns doch das tolle Klettergerüst für den Außenbereich leisten.“

„Nana, immer langsam mit den jungen Pferden. Das müssen wir erst einmal prüfen. Die aktuellen Defizite belaufen sich meines Wissens auf etwa 1500,- €. Was kostet denn das Gerüst?“

„1850,-€.“

„Na dann können Sie das vergessen. Die Haushaltslöcher haben Priorität.“

„Aber die Eltern haben das Geld für genau diesen Zweck gesammelt, und nicht, um den Haushalt auszugleichen! Wie soll ich denen das denn erklären? Ich kann doch keinem mehr ins Gesicht sehen, den ich bitte, für etwas Geld zu erwirtschaften, was dann doch nicht angeschafft wird!“

„Ach was, da feiern wir ein buntes Kindergartenfest mit Bier und Bratwurst, das darf dann auch 50 Euro kosten – das darf sogar 100 € kosten, da glauben Sie gar nicht, wie schnell die wieder versöhnt sind. So und jetzt muss ich hier noch die Kollekte einräumen. Schöne Weihnachten noch.“

Und dann stand da der Heftapparat, so schwer und doch so handlich. Böhringer zeigte ihr den Rücken und schloss den Safe auf. Die von einem akkuraten Haarkranz wie von einem Jägerzaun eingefriedete Glatze glänzte provokativ im Schein der Deckenleuchte, als schreie sie in ihrer kleinbürgerlichen, blitzsauberen Perfektion nach einem verstörenden Akt. Sie ließ den Apparat auf seinen Schädel sausen und gleich noch einmal, er kam gar nicht dazu, zu schreien, nur sie selbst schimpfte wie ein Rohrspatz: „Sachbuchfetischist! Lektoren-Lutscher! Gesangbuchverbildeter Vulgärtheologen-Nachplapperer! Emotionaler Krüppel! Verlogener Sauhund! Hinterfotziger Betbänke mit deinem auf Kirchenbänken plattgesessenen Sparkassenarsch!“ Sie hieb auf den Schädel ein, bis der Mann zusammensackte. Mit der Faust in der Tasche, das Werkzeug noch immer fest umschlossen, rannte sie an den fröhlichen Menschen vorbei und lachte irre in ihre arglosen Gesichter. Niemand hatte etwas bemerkt, nicht einmal geahnt. Sie umklammerte den Schaltknüppel mit der rechten, das Lenkrad mit der linken Hand. „Stille Nacht“, dachte sie noch, dann explodierte es auch in ihrem Kopf. Der Baum hat es überlebt.

Kirche im Dunkeln

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