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2. Kapitel Der Einwanderer 1884–1906

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Der Tod von Rebekka Laemmle bedeutete einen Wendepunkt in seinem Leben. Ihr hatte er immer versprochen, in der Heimat zu bleiben. Nun war sie gegangen, und Carl fühlte tief in seinem Inneren, dass er zu einem neuen Leben aufbrechen musste. Seine Trauer zog ihn in die Ferne, und er beendete seine in Ichenhausen begonnene Laufbahn, die im Grunde nur der Plan seiner Mutter gewesen war, nie sein eigener. Nun wollte seinem Instinkt folgen, weggehen und sein Glück woanders versuchen.

Nur wenige Wochen nach der Beerdigung seiner Mutter stellte Carl Laemmle daher den Antrag, aus der deutschen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Nun war er fest entschlossen: Er wollte auswandern und den vielen Millionen Deutschen folgen, die ihr Glück in Nordamerika versuchten!

Am 19. Dezember 1883 erhielt er schließlich die ersehnten Papiere, die bestätigten, dass er das Deutsche Reich verlassen und auswandern durfte. Ihm stand es nun frei, es seinem Bruder Joseph gleich zu tun und in die Vereinigten Staaten zu gehen.

Obwohl die Entscheidung zur Auswanderung nach dem Tod der Mutter nachträglich wie übers Knie gebrochen wirkt, hegte Laemmle bereits zuvor Gedanken an ein Leben in der Neuen Welt. Ausgelöst wurden diese Überlegungen von seinem älteren Bruder Joseph. Er hatte Deutschland schon vor über 10 Jahren, im Jahre 1872, in Richtung Amerika verlassen. Damals war Carl noch ein Kind, kaum fünf Jahre alt, und er erinnerte sich nur dunkel an seinen Bruder. Was er aber mitbekam, waren die vielen Briefe, die Joseph regelmäßig an seine Familie schickte. Darin beschrieb er die Wunder und Besonderheiten des amerikanischen Alltags, die er in der Neuen Welt erlebte. Besonders beeindruckt war der in Chicago lebende Joseph Laemmle von der Schönheit der Natur, den weiten Prärien, der Möglichkeit, eigenes Land zu besitzen, und den schnell wachsenden, gewaltigen Städten. Josephs Briefe wiederum imponierten dem jungen Carl sehr. Sie spielten eine große Rolle dabei, den Entschluss zur Auswanderung in Carl Laemmle reifen zu lassen.

Die sogenannten »Amerikabriefe« der deutschen Überseeauswanderer waren weit verbreitet in Deutschland. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an bis zum Ersten Weltkrieg wanderten insgesamt über 5,5 Millionen Deutsche nach Nordamerika aus. Die meisten von ihnen schrieben zurück in die alte Heimat. Teilweise übertrieben die Auswanderer in ihren Schilderungen, um ihren Entschluss vor der Familie zu rechtfertigen, in Deutschland aber galten die Informationen über die Vereinigten Staaten, die man von einem Familienmitglied erhielt, als wahrheitsgemäße Beschreibung aus erster Hand. Die Briefe lieferten in den Augen der Daheimgebliebenen exakte Details, was einen Auswanderer in Nordamerika erwarten würde, auch wenn die Wirklichkeit der Einwanderer in den Ghettos und Quartieren der großen Städte oft anders aussah.

Die Tatsache, dass Joseph Laemmle seit seiner Auswanderung nie wieder nach Hause zurückgekehrt war, verlieh ihm innerhalb der Familie Laemmle einen legendären Status. Was er schrieb, kam bei den Laemmles einem Mythos gleich, an den sie fortan glaubten. Nicht selten wurde das Eintreffen seiner Briefe mit viel Trubel gefeiert, und auch der junge Carl erlebte diese »Familienereignisse« seine gesamte Kindheit und Jugend lang stets mit.

Doch die Laemmles waren damit nicht allein. Mit großer Macht beeindruckten die »Amerikabriefe« nicht nur Carl und seine Familie, sondern alle Auswanderungswilligen. Beinahe jeder kannte einen Auswanderer, hoffte und bangte mit ihm und wartete auf Post. So erhielten auch die Nachbarn der Laemmles Briefe von ihren amerikanischen Verwandten, die das, was Joseph geschrieben hatte, auf ihre Weise bestätigten. Manche Briefe enthielten auch direkte Aufforderungen, die Daheimgebliebenen ebenfalls zur Migration zu ermutigen und ihnen in »das Land der unbegrenzten Möglichkeiten« zu folgen.

Heute sind sich die Historiker einig: Keine Werbeagentur hätte die auswanderungswilligen Deutschen effektiver zum Verlassen der Heimat bewegen können als die Briefe der Verwandten, Bekannten und Freunde aus Amerika. Sogar kritische Briefe lösten Begeisterung aus und hatten keine negative Auswirkung auf den Auswanderungswilligen.

Durch Josephs Briefe wuchs Carl gewissermaßen damit auf, sich Amerika als ein magisches Land vorzustellen, das unfassbar weit entfernt lag und geradezu märchenhafte Züge besaß. Hätte es die Briefe nicht gegeben, Laemmle hätte fast an der Existenz von Amerika gezweifelt. Auch wenn Carl stets im Stillen gehofft hatte, die Wunder von Amerika einmal mit eigenen Augen sehen zu können, erstickte seine Mutter solche Erwartungen schon im Keim. Sie wollte auf keinen Fall ein weiteres Kind an Amerika verlieren. Carl sollte zu Hause bleiben und eine anständige Ausbildung erhalten. Deshalb kümmerte sie sich nicht nur darum, dass Carl eine gute Anstellung in der Region fand, sondern rang ihm zusätzlich das Gelübde ab, niemals an Auswanderung zu denken, solange sie noch lebte. Da Carl zu jung war, um zu verstehen, was Amerika war und Auswanderung bedeutete, gab er seiner geliebten Mutter dieses Versprechen.

Doch damit verschwand keineswegs seine Begeisterung für Amerika. Angeregt durch Josephs Briefe wollte er bald mehr über das ferne Land erfahren. Als er in Ichenhausen bei den Hellers seiner Ausbildung nachging, besorgte er sich Bücher und Groschenhefte über die Vereinigten Staaten, über Cowboys und über Indianer. Wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene in seiner und den nachfolgenden Generationen flüchtete er sich in seiner Fantasie in den Wilden Westen und erlebte dort Abenteuer. Je mehr er las, desto mehr wünschte er sich, Amerika einmal mit eigenen Augen zu sehen. Eine zentrale Rolle spielten dabei seine Vorstellungen von den Indianern. Carl Laemmle wollte unbedingt einmal in seinem Leben einem »echten« Indianer begegnen.

Nach dem Tod seiner Mutter fühlte sich Carl nicht mehr länger an sein Wort gebunden. Er war frei zu gehen. Und er wusste, dass seine Zukunft weder in Laupheim noch in Ichenhausen lag. Brav hatte er seine Ausbildung abgeschlossen, doch nun wollte er sich jenen Träumen hingeben, die er seit Kindheitstagen in sich trug. Er wollte nach Amerika. Er verabschiedete sich von den Hellers und bereitete sich auf die Auswanderung vor. Dabei glaubte Carl fest daran, dass ihn sein älterer Bruder unter die Fittiche nehmen würde. So fiel es ihm leicht, den schwerwiegenden Entschluss zu fassen. Er würde in Amerika nicht allein sein und rechnete damit, dass Joseph ihn in die Gesellschaft der Neuen Welt einführen würde. Von ihm würde er alle notwendigen Auskünfte über Miete, Arbeit und Verkehr erhalten.

Carl Laemmle war auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Viele Auswanderer immigrierten als Familie, Verein oder sogar ganzes Dorf. Oder sie wanderten zu einem Verwandten beziehungsweise Bekannten, der bereits zuvor übergesiedelt war. Dieses Phänomen der Kettenwanderung bestimmte weite Teile der deutschen Überseeauswanderung im 19. Jahrhundert.

Die weiteren Schritte der Auswanderung dauerten nicht lange, nachdem Laemmle die Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft im Dezember 1883 erhalten hatte. Im Prinzip fehlte es ihm nur am nötigen Geld, die Überfahrt zu finanzieren. Die notwendige Hilfe und Unterstützung kam von Laemmles Vater, der die Entscheidung des Jungen verstand und akzeptierte. Er half ihm, die notwendige Summe, die Carl sowohl als Garantie hinterlegen als auch für die Überfahrt bezahlen musste, aufzubringen. So schenkte Julius Laemmle seinem Sohn zu dessen 17. Geburtstag im Januar 1884 einen Fahrschein, mit dem er auf einem Dampfschiff von Bremerhaven nach New York reisen konnte. Obwohl es heute schwierig ist, die Beziehung von Vater und Sohn nachzuzeichnen und Carl sich wohl eher zu seiner Mutter hingezogen fühlte, unterstützte ihn der Vater nach Kräften. Neben dem nötigen Geld für die Passage stand Julius Laemmle seinem Sohn vor allem moralisch bei. Bevor Carl aufbrach, schrieb Julius für seinen Sohn ein Gedicht mit Ratschlägen, dessen Inhalt ihn durch sein weiteres Leben führen sollte:

Vertrau auf Gott wie auf Lebens Freuden

Die letzte auch Dich zu verlassen droht.

Wenn Dir die Gegenwart nur unter Leiden

Die Zukunft Dir erscheint als Bild der Noth

Vertrau auf Gott, der unsichtbar Dich schützet.

Sein Kind verlässt der gute Vater nicht.

Er weiß am besten was Dir nützet

Und ewig hält er was er Dir verspricht.

Mögen Dich, lieber Karl diese Zeilen

Manchmal erinnern an Deinen Dich

Liebenden treuen

Vater Julius.

Am 28. Januar 1884 war es schließlich soweit. Voller Aufregung, aber entschlossen verabschiedete sich Carl Laemmle gemeinsam mit seinem Schulfreund Leo Hirschfeld, der ebenfalls auswanderte, von seinem Vater am Laupheimer Bahnhof. Dann bestieg er den Zug in Richtung Stuttgart und begann das Abenteuer seines Lebens. Carls Bruder Siegfried begleitete die beiden bis in die württembergische Hauptstadt. Von dort mussten Carl und Leo allein ihren Weg nach Bremerhaven finden. Drei Tage später, am 31. Januar 1884, befanden sich die beiden Schulfreunde an Bord des Dampfers S.S. Neckar, der sie nach New York bringen sollte. In diesen Tagen waren sie weiter gereist als jemals zuvor in ihrem Leben.

Bremerhaven war ein belebter Ort. Er quoll von Auswanderern nahezu über. Menschen aus allen Ecken und Enden Deutschlands und Europas waren aus den unterschiedlichsten Gründen in die Hafenstadt gekommen, um nach Nordamerika auszuwandern, alle aber hofften, dort ein besseres Leben zu finden. Viele hatten noch keinen Fahrschein für die Überfahrt oder mussten auf ihre Schiffe warten und schliefen solange in Baracken und Hallen, die für die Auswanderer im Hafengebiet errichtet worden waren.

Carl und Leo besaßen jedoch schon ein Ticket, und so blieb es ihnen erspart, länger in Bremerhaven verweilen zu müssen. Das Schiff, das sie nach Amerika bringen sollte, gehörte dem Norddeutschen Lloyd, der in den Jahren von 1874 bis 1886 regelmäßig zwischen Bremerhaven und New York verkehrte. Der Dampfer war über 106 Meter lang, knapp 13 Meter breit und konnte 144 Passagiere in der ersten Klasse, 68 in der zweiten Klasse und 502 in der dritten Klasse im Zwischendeck befördern, wo die meisten Amerikaauswanderer ihren Platz hatten und in gemeinsamen Schlafräumen die Überfahrt verbrachten.

An Bord des Schiffes lernten Carl und Leo zwei weitere deutsche Jungen kennen, die auf der Suche nach Glück, Wohlstand und Abenteuer nach Amerika aufgebrochen waren: Julius Hilder und Julius Klugman aus Bayern. Die vier Jungens waren sich sehr schnell einig, dass die Unterbringung im Zwischendeck nicht zu ertragen war. Sie waren dazu bereit, einen Teil ihres Geldes, das sie für den Start in New York eingeplant hatten, in eine eigene Kabine zu investieren. Einer der Offiziere des Dampfers erbarmte sich und bot Leo und Carl unter der Hand eine Kabine für 30 Dollar an. In der eigenen Kabine hatten die beiden wenigstens ihre Ruhe, wenngleich die Schlafvorrichtung auch nicht viel komfortabler als im Zwischendeck war. Schon bald ärgerte sich Laemmle, dass er die 30 Dollar investiert hatte, die er eigentlich erst in der Neuen Welt hatte ausgeben wollen.

Leo und er blieben die meiste Zeit während der dreizehntägigen Überfahrt in ihrer Kabine. Am 13. Februar 1884 erreicht die S.S. Neckar endlich New York. Jedoch musste das Schiff wegen des starken Nebels einen Tag lang vor dem Hafen vor Anker gehen, und Carl und Leo mussten warten. Als sie endlich in den Hafen einfuhren, stürmte Julius Klugman in Carls Kabine und zog ihn an Deck. Zwar wurde die Freiheitsstatue erst zwei Jahre später im New Yorker Hafen errichtet, dennoch fühlten die meisten Einwanderer bei der Einfahrt in den Hafen, dass sie endlich das Land der Freiheit erreicht hatten. Es fiel ein feiner Nieselregen, und Laemmles erster Blick an der Seite von Julius Klugman auf das Land der Freiheit wurde durch einen nebligen Schleier getrübt. Im Hintergrund erschienen die grauen Hochhäuser Manhattans unter einem ebenso grauen Himmel. Später erinnerte sich Laemmle an diesen Augenblick: »Das erhoffte ›El Dorado‹ war ein eher entmutigendes Spektakel.«

Carl Laemmle

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