Читать книгу Der exzentrische Maestro Carl - Cristina Zehrfeld - Страница 13
11. Maestro Carl komponiert
ОглавлениеEs gibt Tage, die man nie vergisst. Dazu gehört für mich jener Tag im Mai, als ich in der Wohnung des Maestros erlebte, wie Kunst entsteht. Maestro Carl ließ mich eintreten, er begrüßte mich flüchtig, doch er schien mit seinen Gedanken abwesend. Wie in Trance schlurfte er zu seinem Klavier zurück. Den wenigen Satzfetzen auf dem Weg dahin konnte ich entnehmen, dass es angebracht war, sich still zu verhalten. Der Maestro setzte sich auf seinen Klavierhocker. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich ihm zur Linken.
Der Maestro nahm Bleistift und Radiergummi in die rechte Hand. Mit der Linken griff er in die Tasten. Er spielte nicht einmal einen ganzen Takt, da schnellte die Hand mit dem Radiergummi in die Noten. Wild strich der Maestro etwas aus und ersetzte es gleich darauf. Er spielte wieder. Erneut stoppte er nach weniger als einem Takt. Wieder arbeitete sich der Radiergummi wütend durch einen Akkord. Ich hörte aus des Maestros Mund Worte wie „Heterolepsis“ und „Saltus duriusculus“. Ich lauschte andächtig, und ich verstand nichts. Immer wieder wechselten kurz angeschlagene Töne mit langen Streich- und Änderungsaktionen. Der Maestro komponierte. Er sprach von Quartparallelen und Dominantseptakkorden. Er grummelte etwas von verdoppelten Terzen und entsetzte sich über eine verdeckte Parallele. Eine Stunde saß ich still da, oder war es doch eher eineinhalb Stunden, oder zwei? Zeit spielte bei dieser heiligen Zeremonie keine Rolle. Der Maestro hatte offenbar gänzlich vergessen, dass es eine Dimension wie die Zeit überhaupt gibt.
Ein älterer Herr, der an diesem Tag rechts des Maestros saß, hatte die Zeit nicht vergessen. Irgendwann riss er den Maestro aus höchster Konzentration, indem er sagte, dass er jetzt wohl auch aufbrechen müsse. Maestro Carl schien von der Möglichkeit der Unterbrechung inmitten der Arbeit völlig fassungslos. Trotzdem packte er die Noten zusammen und gab sie dem Herrn. Er tat es offenbar ungern, doch was blieb ihm übrig. Es war schließlich die Komposition jenes Hobbymusikers, die der Maestro nach allen Regeln der Kunst perfektionierte.