Читать книгу Der exzentrische Maestro Carl - Cristina Zehrfeld - Страница 9
7. Einhundertfünftausendeinhundertzwanzig Anrufe im Jahr
ОглавлениеMaestro Carl ist unglaublich bekannt. Er ist außerordentlich gefragt. Und er ist unvorstellbar beliebt. Jedenfalls bei seinen Fans. Selbstverständlich hat Maestro Carl auch Feinde. Ehrlich verdiente Feine, wie er stets betont. Doch von diesen missgünstigen, neidischen und also unverständigen und nichtswürdigen Menschen soll hier nicht die Rede sein, sondern eben vom Rest der Menschheit, also von den verständigen und würdigen Menschen. Unter diesen, wie gesagt, hat der Maestro eine schier unüberschaubar große Zahl von Bewunderern und Freunden. Er selbst beziffert seine Bekannten mit zirka zweihunderttausend. Auf dieser vorsichtigen Schätzung basiert eine Carlsche Berechnung, die mich im tiefsten Inneren erschüttert hat.
„Ich kann“, so rechnete der Maestro mir vor, „nicht einmal all meinen Bekannten zum Geburtstag gratulieren. Wenn ich mit jedem davon auch nur fünf Minuten am Telefon spreche, dann schaffe ich zwölf Anrufe in der Stunde, zweihundertachtundachtzig Anrufe am Tag, Einhundertfünftausendeinhundertzwanzig Anrufe im Jahr. Das heißt, ich brauche zwei Jahre, um alle meine Bekannten anzurufen.“
Bei dieser Vorstellung wurde mir schwarz vor Augen. Zwei Jahre Zeit, in denen der Maestro weder gegessen hatte, noch gearbeitet. Zwei Jahre, in denen er kein einziges Konzert gegeben hat, geschweige denn geschlafen. Und mir hatte der Maestro volle fünf Minuten seiner Zeit geschenkt, um mir diesen Sachverhalt vorzurechnen. Fünf Minuten, in denen keiner dieser Bekannten einen Anruf bekommen hat. Mit vor Ehrfurcht erstickter Stimme fragte ich, woher er denn alle diese Leute kennt. „Aus meinen Konzerten. Mein Publikum, das sind meine Freunde, meine Musikerfreunde. Und natürlich die Bäckersfrau von gegenüber, der vietnamesische Gemüsehändler, die Männer aus meiner Autowerkstatt ...“ Es folgte eine Aufzählung, die weitere fünf Minuten in Anspruch nahm.
Ich wurde verlegen, denn mir wurde klar: Ich hatte den bescheidenen Maestro völlig zu Unrecht der schamlosen Übertreibung verdächtigt.