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Kapitel 6

23. Dezember 2020, 20.17 Uhr

Severin

Ich öffne meine Augen und starre auf eine kahle Wand. Was? Benommen versuche ich mich zu erinnern, was passiert ist. Und dann wird es mir klar. Mein Herz brennt wie Feuer, als ich das lodernde Auto vor mir sehe. Langsam verstehe, was geschehen ist. Begreife, dass Tim …

Ich will mich aufrappeln und die Männer finden, die dafür verantwortlich sind, aber meine Hände und Beine sind gefesselt. Ich starre fassungslos auf die Kabelbinder und realisiere endlich vollends, was passiert ist. Ich bin ihnen hinterhergefahren und schließlich haben sie mich bewusstlos geschlagen und mitgenommen.

Ein Stöhnen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe mich um, doch alles liegt in einem trüben Dunkel. Es dauert einen Moment, bis ich hinter ein paar Transportkisten einen Mann sitzen sehe.

»Geht es dir gut?«, frage ich und versuche in seine Richtung zu robben.

Wieder stöhnt er auf und sieht dann verwundert auf seine eigenen Fesseln.

»Was ist passiert?«, fragt er mit einem Akzent und blinzelt.

»Irgendwelche Bastarde haben uns entführt«, knurre ich und dann sieht er auf. Mich direkt an. Seine dunklen Augen wecken ein vertrautes Gefühl in mir. Ich kenne ihn. Aber woher?

»Habe ich dich schon mal gesehen?«, frage ich, als ich bei der Kiste angekommen bin und kurz die Augen schließe. Mein Kopf dröhnt. Der Typ legt den Kopf schief und mustert mich. »Severin, oder?«

Ich schärfe meinen Blick, um mir das Gesicht noch einmal genau anzusehen. Er ist Ausländer. Araber … Syrer vielleicht. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. »Arbeitest du für die Eintracht?«, will ich wissen und sehe mich im Raum um. Statt hier ein Pläuschchen zu halten, sollten wir vielleicht besser einen Ausweg finden.

»Ich habe für die Eintracht gespielt. Sie wollten wohl einen Ausländer bei ihrer kleinen Feier dabeihaben.«

Ich hebe meine Brauen. Wann soll der bei der Eintracht gekickt haben? Mein Gedächtnis lässt mich offensichtlich im Stich.

»Hast du eine Idee, wie wir hier rauskommen?«, fragt er und reckt seinen Nacken.

»Ich wüsste zunächst erst mal ganz gerne, wo wir hier eigentlich sind«, brumme ich und wieder taucht Tims Gesicht vor mir auf. Ich verscheuche es, so schnell es geht, und sehe dann zur Tür.

»Kannst du aufstehen?«, frage ich mit einem Blick hinter die Kisten. Er verzieht sein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie haben mir das Bein gebrochen.«

Na super. Also versuche ich mich hochzuhieven und zur Tür zu hüpfen. Mein Kopf explodiert beinahe. Und wie erwartet, ist die Tür verschlossen. Was jetzt? Und wo sind die anderen? Da stand doch nur einer der Vans, oder nicht?

Ich lasse mich wieder auf den Boden sinken und lehne meinen Kopf gegen die Tür.

»Du hast dir echt den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um bei der Weihnachtsfeier den Quoten-Kicker zu geben und in alten Geschichten zu schwelgen«, sage ich resigniert und sehe auf. Sein Blick trifft mich. Etwas wie Trauer schwappt zu mir herüber.

»Alte Geschichten?«, murmelt er in gebrochenem Deutsch. »Einen wie mich vergisst man schnell. Keiner will alte Geschichten hören.«

»Na, immerhin haben sie dich eingeladen«, sage ich, vor allem, um mich abzulenken.

»Und das macht alles andere wieder gut?«, kontert er traurig und zuckt mit den Schultern. »Ich hätte nicht hingehen sollen. Das sind Menschen, die sich für Einzelne nicht interessieren.«

Ich verziehe den Mund. So gerne ich hier eine kleine Lästerrunde über die obere Etage der Eintracht und ihre Arroganz und Ignoranz abhalten würde, kann ich einfach nicht tatenlos herumsitzen.

»Es sollte dir egal sein. Was hast du mit diesen Leuten zu tun? Nichts.«

Ich blicke mich weiter um. Hier ist nichts außer diesen Blechkisten auf Rädern. Aber irgendwann wird jemand kommen. Sie werden uns ja nicht einfach verrotten lassen. Und für genau diesen Moment wäre es gut, vorbereitet zu sein.

»Wir sind hier offenbar eingesperrt, weil diese Eintracht-Männer noch mehr Menschen verärgert haben. Also ist es mir nicht egal«, raunt er.

»Vielleicht wollen sie Geld«, sage ich und krieche wieder zu den Kisten, um darin nach einer Waffe oder etwas Brauchbarem zu suchen.

»Geld …«, wiederholt er mit einem fiesen Lachen. »Und was machen wir beide, was machen du und ich dann hier? Denkst du wirklich, dass einer dieser Bosse Geld für uns zahlt?«

Ich kneife die Augen zusammen und denke nach, während ich den Deckel der Kiste öffne. Ja, was mache ich hier? Warum hat der Anführer nicht zugelassen, dass sie mich einfach erschießen? Hat er mich erkannt? Gewusst, dass ich der Sohn des Oberstaatsanwalts bin? Das ist das Einzige, was mein Leben wertvoll macht. Aber das wäre ein Riesenzufall.

»Mir ist scheißegal, was sie von mir wollen«, bricht sich der Zorn in mir plötzlich seine Bahn. »Diese Bastarde haben meinen besten Freund getötet.«

Wieder legt er den Kopf schief. Schweigt aber.

»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich, um mich selbst ein bisschen runterzubringen. Dabei starre ich in die Kiste vor mir, zerre einen Beutel heraus und schrecke perplex zurück. Drogen.

»Ich heiße Assad.« Ich nehme die Stimme meines Mitgefangenen nur nebenbei wahr.

»Warum haben die hier Drogen?«, frage ich und spüre Hitze in meinem Nacken. Sie kriecht an meiner Wirbelsäule entlang und lässt mich schaudern. Der Beutel in meiner Hand ist voller Tabletten und einem weißen Pulver. Wahrscheinlich Koks. Mein Kreislauf lässt mich im Stich und plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich ein echter Junkie.

Nachdem ich endlich von dem Ritalin runtergekommen bin, das sie mir schon als Kind eingeflößt haben, habe ich es tunlichst vermieden, mit anderen Drogen in Kontakt zu kommen. Auch wenn ich solche eigentlich nie hätte nehmen wollen, man weiß ja nie. Nicht das Koks und auch die meisten Tabletten nicht. Würde ich da nicht unter ihnen die Schachtel Ritalin erkennen. Es könnte mir helfen, klarer zu werden. Mich zu konzentrieren. Gerade jetzt, da ich …

»Was ist los?«, fragt Assad und reckt den Kopf ein wenig.

»Nichts«, lüge ich, werfe den Beutel zurück und knalle den Deckel zu.

Mein Herz pumpt schnell und unregelmäßig. Kalter Schweiß läuft mir über den Rücken. Ich schaue zu ihm. Er beobachtet jede meiner Bewegungen mit Argusaugen.

Ich lehne mich erschöpft gegen eine der Wände und wir schweigen eine ganze Weile, bis Assad erneut das Wort ergreift.

»Als ich neu in Deutschland war, das war am Anfang eurer Flüchtlingskrise, da haben mich ein paar Typen in Niederrad auf dem Nachhauseweg abgefangen«, sagt er mit ruhiger, tiefer Stimme. Fast so, als würde er damit keine Emotionen verbinden.

»Sie wollten mich verprügeln. Weil ich anders aussah als sie. Das hat ihnen als Grund gereicht.«

Ich fahre mit meiner Zunge die Zähne entlang. Mich interessiert diese Geschichte nicht. Mich interessiert gar nichts mehr, außer der Möglichkeit, all das hier zu vergessen und nach dem zu greifen, was genau vor mir in der Kiste in einem Plastikbeutel liegt. Ich will mich und den Schmerz in meiner Brust betäuben. Will …

»Aber da war ein junger Mann, der mir geholfen hat. An der Straßenbahnhaltestelle vor der alten Rennbahn. Von dort wollte ich zum Stadion.«

Ich öffne meine Augen und sehe ihn an. Ich erinnere mich. Er war dieser Typ, den sie erst beschimpft und dann bespuckt haben. Und ich war es, der ihm geholfen hat.

Eigentlich wollte ich zum Greifvogel und mit Gustav, Hel und Kat reden, aber ich war zu früh. Der Greifvogel war noch zu und bei Claudia zu klingeln, habe ich mich nicht getraut.

Ich bin zur Straßenbahnhaltestelle und da sind mir plötzlich diese Arschlöcher aufgefallen, die einen Ausländer in die Ecke drängten.

»Das warst du?«

Seine Lider zucken kurz. »Ich sage ja, man erinnert sich nicht an mich.«

Ich atme schwer. »Das war ein anderes Leben. Es ist sicher fünf Jahre her. Diese Zeit habe ich hinter mir gelassen.«

Er lacht freudlos auf. »Wenn es nur immer so leicht wäre, ein Leben zu verlassen und ein neues zu betreten.«

Hinter mir ertönt ein Geräusch an der Tür.

»Achtung!«, sage ich und Assad nickt, während ich mir den Eisendeckel der Kiste schnappe und aufstehe, um mich neben die Tür zu stellen. Wenn ich schon keine Waffe habe, kann ich mich mit dem Ding wenigstens verteidigen.

Die Tür wird geöffnet und vor mir taucht einer der Vermummten auf, doch als ich gerade zuschlagen will, spüre ich etwas Hartes, Kaltes an meinem schmerzenden Hinterkopf. Ich drehe mich langsam um und erstarre. Hinter mir steht Assad. Nicht mehr gefesselt. Kein gebrochenes Bein. Stattdessen hält er mir eine Waffe an den Kopf. Mein Verstand braucht eine ganze Weile, um das hier zu sortieren und zu verstehen.

»Du hättest mich nicht auch vergessen sollen, Severin Klemm«, sagt er mit einem merkwürdig traurigen Blick. Als wäre das hier eine Prüfung gewesen, die ich nicht bestanden habe. Als wäre er darüber wirklich betrübt.

»Ich …«, will ich etwas erwidern. Aber was soll ich sagen? Was würde das hier ändern?

»Es ist nicht immer so leicht, ein neues Leben zu beginnen. Ich wünschte, es hätte auch nur eine Menschenseele interessiert, was aus mir geworden ist.«

Ich schlucke schwer. »Was ist passiert?«

Er hebt seinen Mundwinkel. »Das werde ich dir zu gegebener Zeit erzählen, Severin. Und jetzt los!«

Er deutet mit seiner Waffe Richtung Tür, bevor er sich hinabbeugt und meine Fußfessel durchschneidet.

Als ich hinaustrete und das Glas vor mir erkenne, klettert bittere Säure meine Kehle hinauf. Entsetzt öffne ich den Mund und starre auf Frankfurt. Frankfurt von oben. Und ich weiß sofort, wo wir sind.

Stille Nacht

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