Читать книгу Stille Nacht - Dana Müller-Braun - Страница 11

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Meine über alles geliebte Frau,

ich schäme mich so sehr, denn ich habe versagt. Ich konnte meinen kleinen Bruder und deine Schwester nicht beschützen. Vor diesen Gottlosen, die nichts als sinnlose Gewalt und Tod über die Unseren gebracht haben. Die diese schändliche Bluttat auf unschuldige Kinder auf dem Weg zur Schule ausgeführt haben und sich noch mit Gewehrsalven in den Himmel dafür brüsten, Elend und Tod in unser Leben zu tragen. Seit so langer Zeit.

Ich hätte auf dich hören und rechtzeitig meiner Heimat, unserer Heimat, den Rücken kehren sollen. Irgendwo ins gelobte Land gehen. Nach Deutschland zu meiner Schwägerin. Zu meinem Zwillingsbruder, denn ich bin sicher: ich hätte all diese bösen Gedanken, die ihm falsche Menschen in den Kopf gepflanzt haben, mit meiner Hilfe vertrieben, und wir hätten ein gutes Leben führen können.

Ja. Weit weg von der geliebten Heimat. Weit weg von den Verwandten, von den Freunden. Aber in Frieden.

Meine über alles geliebte Frau: Verzeih mir. Das, was unverzeihlich ist. Was niemand verzeihen kann. Was ich mir selbst niemals werde verzeihen können.

Mit welcher Überheblichkeit habe ich die Welt betrachtet? Mit welchem Gleichmut hingenommen, dass die Fratze des Feindes immer längere Schatten auf uns geworfen hat. Wie oft habe ich nachts auf dem Dach unseres Hauses gehockt und am dunklen Horizont die Blitze der Raketen und die Feuer gesehen. Mit angstvoll zusammengekniffenen Augen. Wie oft bin ich dann hinunter gegangen, habe meiner Tochter und meinem Sohn mit dem Zeigefinger sanft über die Nase gestrichen und geflüstert: Keine Angst. Ich beschütze euch!

Wie oft? Zu oft.

Und dann bin ich zu dir ins Bett geschlichen, meine über alles geliebte Frau, und habe sehr wohl gespürt, wie sehr dein Körper gezittert hat. Vor Angst. Habe dich dann wortlos umschlungen und schweißgebadet die weiße Decke unseres Zimmers angestarrt. So lange, bis ich überall rote Flecken gesehen habe. Blutflecken. Und mir vornahm, dieses Leben zu ändern.

Aber ich habe nicht gehandelt, wie ein Mann handeln muss. Habe mich doch wieder ängstlich verkrochen und dafür einen unsagbar hohen Preis bezahlt. Wie viel würde ich dafür geben, wenn ich noch einmal die Chance bekäme, alles richtig zu machen. Nicht den Worten der Ältesten blind zu vertrauen und für den Frieden zu beten, statt aufzustehen und den Kriegern auf beiden Seiten Einhalt zu gebieten.

Mein Leben würde ich dafür geben. Glaub mir. Ohne eine Sekunde zu zögern. Aber ich fürchte, dies ist jetzt wieder nur eine Träumerei. Wer könnte den blutrünstigen Kriegern Einhalt gebieten, wenn die ganze Welt genüsslich zuschaut, wie unser Volk sich abschlachtet? Ich? Wohl kaum.

Ja. Hätte mein Talent gereicht, um meine alte graue Welt gegen eine neue schillernde einzutauschen, dann würde mein Wort jetzt vielleicht in der Welt gehört werden. Vielleicht.

Vielleicht auch nicht. Aber ihr wäret in Sicherheit. Müsstet nicht tagein, tagaus um euer Leben bangen. Könntet mit euren Freunden zusammenkommen und sagen, was euch bewegt. Ohne Angst, verraten zu werden. Könntet wählen, ohne ein Gewehr im Rücken zu spüren. Könntet lernen, was immer ihr erlernen wollt. Könntet euren Glauben leben, ohne befürchten zu müssen, es ist nicht genug, was ihr tut. Könntet Fremde freundlich willkommen heißen. Ohne Angst, dass sie unter eurem Dach nach eurem Leben trachten. Könntet wann immer ihr wollt den Himmel betrachten, ohne Angst, dass eine Rakete vor euren Augen explodiert und die Metallsplitter eure Körper in tausend Fetzen reißen. Könntet in Frieden leben, ohne Angst vor jedem neuen Tag.

Mein Gott, was habe ich getan! Was habe ich euch genommen? Was gibt mir das Recht, von meiner Liebe zu euch zu sprechen. Nichts mehr!

Stille Nacht

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