Читать книгу Stille Nacht - Dana Müller-Braun - Страница 7
ОглавлениеKapitel 3
23. Dezember 2020, 18.57 Uhr
Lydia
Ich glaube, du bist ernsthaft in Schwierigkeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter sich meldet, wenn es nicht wirklich wichtig wäre!«
Papas Gesicht nimmt bei diesem Satz einen denkwürdigen Ausdruck an. Das macht mich noch zorniger. Ich fühle mich so maßlos hintergangen. In den letzten Minuten habe ich Papa von diesem merkwürdigen Anruf erzählt und war absolut sicher: Der alte Mann würde aus allen Wolken fallen. Aber nichts da. Ja, er war ein wenig über den Zeitpunkt ihres Anrufs überrascht. Am 23. Dezember hatte er damit wohl noch nicht gerechnet. Wenn, dann frühestens Samstag. Aber kaum habe ich ihm gesagt, dass sie mich warnen wollte, änderte sich sein Verhalten schlagartig. Wie bei einem Schauspieler, der in seine Rolle schlüpft. Aus Dr. Jekyll wird Mr. Hyde. Plötzlich schien mir der ältere Herr im Rollstuhl, den der Abgang seiner Frau, meiner Mutter, in meinen Augen zu einem gebrochenen Mann hat werden lassen, völlig verändert. Fast verhält er sich wie ein Komplize dieser Frau.
»Hallo! Mama hat sich in den letzten 15 Jahren höchstens zweimal im Jahr gemeldet. An Weihnachten und zum Geburtstag. Fertig.«
»Genau das meine ich ja.«
Sein Blick geht bei diesem Satz aus dem Küchenfenster hinaus in den Garten und bleibt offenbar an der alten Weide hängen, die er vor vielen Jahren gepflanzt hat. Den Blick kenne ich nur zu gut. Ich habe in diesen Momenten immer gedacht: Jetzt hat sich seine Erinnerung an irgendeiner Eintracht-Episode aufgehängt. Aber jetzt auch? Lange Pause.
»Es gibt einen guten Grund, warum Mama uns damals verlassen hat. Und der hat mit meiner Eintracht-Leidenschaft eher weniger zu tun. Nur am Rande sozusagen. Wobei dieser Rand schon eine entscheidende Rolle gespielt hat.«
»Papa! Bitte! Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen kryptischen Andeutungen. Erzähl mir doch einfach die Wahrheit. Ich denke, die habe ich langsam wirklich verdient. Ich verstehe nämlich rein gar nichts mehr.«
Ich schaue ihn mit leeren Augen an. Das sichere Gefühl in der Magengegend, dass wohl gleich eine Welt zusammenbrechen wird. Meine Welt. Und ich weiß: Genau darauf habe ich nach diesem elenden Seuchenjahr mit all den Einschränkungen null Bock. Solange ich nur stellvertretende Pressesprecherin der Fußball AG war – alles gut. Klar: Wir hätten im Nachhinein besser darauf verzichtet, unbedingt noch schnell gegen Basel zu spielen. Aber egal. Doch dann musste Eric ja wegen der Vorkommnisse im Stadion am 15. November letzten Jahres auf die Idee kommen, mich übergangsweise zur Vizepräsidentin des Vereins und Gleichstellungsbeauftragten zu machen. Dummerweise ziemlich genau in dem Moment, in dem sich ein Virus auf den Weg machte, die Welt in Unordnung zu stürzen. Die Eintracht hat mit Basketball, Boxen, Eishockey, Eissport, Fanabteilung, Fechten, Fußball, Handball, Hockey, Leichtathletik, Ringen, Rugby, Tennis, Tischtennis, Triathlon, Turnen, Ultimate Frisbee und Volleyball 18 Abteilungen und damit unendlich viele Sportlerinnen und Sportler, die von der Pandemie eiskalt erwischt wurden und von den Abteilungsleitern und dem Präsidium Antworten erwarteten und ja auch verdient hatten. Gleichgestellt habe ich seither wenn überhaupt nur noch die gendergerechte Schreibweise unserer Presseinfos. Und ich wollte doch so viel bewirken. Hoffentlich kommt irgendwann wieder eine Zeit, in der alles normal ist. So normal, wie es eben sein kann …
»Heute ist der 23. Dezember. Ich habe eine Menge Stress hinter mir in diesem Jahr. Also, bitte, komm mir nicht mit Game of Thrones, Teil 74, oder mit dem Sandmännchen.«
Papa schaut betroffen, bringt seinen Rolli in Position und wuchtet sich auf den Küchenstuhl. »Setz dich!«, befiehlt er dann und deutet auf die Bank, auf der ich schon als Kind gesessen habe, um meine Hausaufgaben zu machen. Natürlich hatte ich auch einen Schreibtisch in meinem Zimmer, aber am liebsten kritzelte ich meine ersten Wörter genau hier in mein Heft. Und Mama schaute mit einem prüfenden Blick zu, während sie Kartoffeln schälte oder etwas Leckeres zubereitete.
»Weißt du, Schatz. Um alles zu verstehen, muss ich ziemlich weit zurückgehen.«
»Von mir aus bis in die Steinzeit. Hauptsache, die Geschichte ergibt Sinn!« Ich beiße mir auf die Lippen. So patzig sollte meine Antwort gar nicht ausfallen. Vielleicht hat Tim doch recht, dass ich ziemlich auf dem Zahnfleisch gehe …
»Und ich erzähle dir das nur, weil ich deine Mutter kenne und sicher bin: Du musst das jetzt wissen.« Er atmet tief ein. So, als müsse er Anlauf nehmen.
»Alles begann mit dem Tag, an dem ich deine Mutter kennengelernt habe. Das ist lange her. Genauer: mehr als 30 Jahre. Aber ich erinnere mich daran so gut wie heute. Es war der 30. November 1989. Genau drei Wochen nach dem Mauerfall. Ein Donnerstag. Ich war in Bad Homburg in der Redaktion. Ziemlich früh, jedenfalls für meine Verhältnisse. Um kurz nach 8 Uhr. Was daran lag, dass ich zeitig wieder weg wollte, weil ich am Abend eine Verabredung hatte. Mit einer Kollegin. Johanna.«
»Papa. Bitte. Nicht wieder abschweifen!«
»Ist ja schon gut. Auf jeden Fall hat es so um halb neun einen unglaublichen Knall gegeben. Ich wusste gleich: Da ist etwas explodiert. Irgendetwas Großes. Ich dachte erst, das war am Bahnhof, aber keine Wolke am Himmel. In die Richtung konnte ich ja gucken.«
»Das heißt, das war in der alten Redaktion?«
»Ja, genau und – weißt du – das hat so gescheppert, da haben die Scheiben vibriert. Und ich habe nur gedacht: Das ist jetzt die Geschichte deines Lebens. Aber vom Fenster aus war nichts zu sehen. Bis zum Karstadt runter – nichts. Also habe ich meine Jacke geschnappt und bin los. Die Louisenstraße entlang Richtung Europakreisel. Und überall standen Menschengruppen, haben diskutiert und gestikuliert und in alle möglichen Himmelsrichtungen gezeigt. Aber Genaueres wusste offensichtlich niemand. Also: Ich immer weiter. Hab gedacht: Vielleicht ist bei Fresenius irgendetwas in die Luft geflogen. Oder ein Tanklastzug hatte am Kreuz einen Unfall und ist explodiert.«
»Und dann?«
»Dann sind die ersten Blaulichter aufgetaucht. Am Europakreisel vorbei Richtung Kaiser-Friedrich-Promenade. Und ich dachte noch: Wow. Hat es etwa die Taunus Therme erwischt? Und da ist mir deine Mutter in die Arme gelaufen. An der Tankstelle am Kreisel. Mit Schmackes. Sie hat sich im Laufen herumgedreht, und ich hatte wirklich keine Chance mehr auszuweichen.«
Wieder schaut Papa durchs Fenster in den Garten zur alten Weide und mir wird inzwischen klar: Nein, da draußen im Garten sucht er definitiv nicht nach verborgenen Eintracht-Erinnerungen …
»Blödmann! Kannst du nicht aufpassen – hat sie mich angeschnauzt. Und ich war sofort verliebt. In ihren Blondschopf. Ihre wunderschönen blauen Augen. Dieses freche Mundwerk mit leichtem Berliner Akzent. Sofort.«
»Papa. Komm doch mal zum Punkt. Bitte.«
Keine geschmackvolle Unterbrechung. Das kann ich sofort an seinem Gesicht sehen. Und eigentlich tut es mir auch schon wieder leid. Warum kann ich mein Mundwerk nicht einfach mal halten?
»Ach, Kind. Wie wäre es denn, wenn du mal aufhören würdest, davon auszugehen, dass du allein darunter zu leiden hattest, dass sie gegangen ist, und mich mal kurz in Erinnerungen schweifen lässt?«
Ich schwanke. Verstehe, dass er ebenfalls emotional angeschlagen ist. Trotzdem: Tief in mir begehrt etwas auf, aber ich entscheide, nichts zu sagen.
»Sie hatte merkwürdige rote Sprenkel im Gesicht und auf ihrem Pullover, und ich habe sofort gedacht: die Bombe! Ohne, dass ich überhaupt wusste, dass da eine Bombe explodiert war. Hat sie am Ende etwas damit zu tun? Aber zwei Augenaufschläge später hat sich keiner mehr für die Bombe interessiert. Jedenfalls sie nicht und ich auch nicht.«
»Ja, Hedwig Courths-Mahler lässt grüßen. Sie hätte eure Liebesgeschichte nicht schöner beschreiben können. Und dann seid ihr wahrscheinlich in den Kurpark und habt – oh Gott, ich will es gar nicht wissen – und am Ende kam ich dabei heraus. Aber das hilft mir gerade nicht wirklich weiter. Warum ist sie nach 15 Jahren gegangen und wovor will sie mich jetzt warnen?«
»Alles war gut. Die roten Spritzer waren kein Blut, sondern Kirschsaft. Die Flasche war ihr aus der Hand geglitten, als die Bombe am Seedammbad hochgegangen ist. Sie war zufällig gerade da, als das Attentat verübt wurde und Herrhausen gestorben ist. Wie das Schicksal eben manchmal spielt: Nah genug, um das Glas mit dem Kirschsaft vor Schreck fallen zu lassen, weit genug entfernt, um ohne Verletzungen davonzukommen.«
Mit einem kurzen Kopfschütteln beamt sich Papa zurück, wie er es so schön nennt. Typisch Generation Star Trek.
»Ich habe ihr dann meine Jacke übergehängt und sie zu Michael ins Petit Café gebracht. Sie brauchte offenkundig einen starken Kaffee. Besser noch einen Schnaps, aber dafür war es einfach zu früh.«
»Papa!«
»Ist ja gut. Auf jeden Fall war sie erst zwei Tage vorher mit ihrem alten Trabi aus der DDR gekommen, um den kapitalistischen Westen mal genauer zu begutachten, wie sie meinte. Geschlafen hat sie in der Jugendherberge und eigentlich wollte sie mit der Bahn nach Frankfurt, hatte sich aber verlaufen.«
»Papa! Geht es ein bisschen knapper?«
»Knapper? Sie haben ein Kind gezeugt, geheiratet und lebten glücklich und zufrieden in einem kleinen Häuschen in Zeilsheim … knapp genug?«
»So knapp nun auch wieder nicht.«
»Doch, das passt schon. Ich habe nicht viel gefragt, und sie mochte nicht viel aus den alten Zeiten erzählen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es gab keine Geschwister oder sonst jemanden. Und ihr Studium hatte sie nach dem Unfall der Eltern geschmissen. Die Zeichen standen wie im ganzen Osten auf Neuanfang. Hier. Bei mir.«
»Aber wie können zwei Menschen, die sich so aufeinander eingelassen haben, plötzlich auseinandergehen. Das passt doch gar nicht!«
»Es war alles gut, bis zu einem Sonntagmorgen im Oktober 2002. Da stand plötzlich ein Kerl vor unserer Haustür. Johannes Grahms. Sagte, er sei ein alter Bekannter deiner Mutter. Aus DDR-Zeiten. Wolle mal Erinnerungen auffrischen. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl und deine Mutter ist kreidebleich geworden, als sie ihn sah.«
»Warum hast du ihn nicht einfach vor die Tür gesetzt?«
»Wollte ich ja, aber deine Mutter hat mich nicht gelassen. Und dann haben sich die beiden in den Garten verzogen und vielleicht eine halbe Stunde lang miteinander gesprochen. Deine Mutter war ziemlich aufgebracht. Sie hat ihn dann zur Tür gezerrt und ihm gesagt, dass sie sich bei ihm melden wird. Danach hat sie zwei Tage lang erst mal gar nichts gesagt und mir dann ihre wahre Geschichte erzählt.«
»Ihre wahre Geschichte?«
»Ja, Kind: Deine Mutter ist nicht in der ehemaligen DDR aufgewachsen, sondern in Hamburg. Sie hat weder ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren noch jemals ihr Studium beendet. Dafür hatte sie Mitte der 70er Jahre keine Zeit. Sie wurde 1973 als Hausbesetzerin verhaftet und von den Polizisten bei dieser Aktion ziemlich gedemütigt. Sie haben ihr wohl sogar an die Brüste gepackt. Was sie dazu brachte, sich – kaum wieder auf freiem Fuß – mit Mitgliedern der sogenannten Komitees gegen Folter zu treffen.«
Jetzt war es an mir, fassungslos aus dem Fenster zu starren. Ich bin erst weit danach geboren, aber ein bisschen was aus dieser Zeit ist mir durchaus bekannt. Ganz abgesehen davon, habe ich gerade erst den Film der ›Deutsche Herbst‹ gesehen, und Stuttgart-Stammheim als Symbolstätte der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF schlechthin bei einer Klassenfahrt besucht. Ich weiß: Die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und der Versuch, die inhaftierten RAF-Terroristen freizupressen, ist gescheitert, und daraufhin haben Baader, Ensslin und Raspe Selbstmord begangen. Wie Ulrike Meinhoff schon vor der Urteilsverkündung. Die Erpresser haben daraufhin den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer ermordet. Der Staat hat sich zwar nicht erpressen lassen, dafür aber ein Menschenleben geopfert. Toller Film. Und Mama gehörte dazu?
»Die galten als Teil der Sympathisantenszene der RAF.«
»Ja, und damit kannst du dir ja vorstellen, wie die Geschichte weitergegangen ist.«
»Meine Mutter – die Terroristin?« Tränen schießen in meine Augen und ich kann sie nicht aufhalten. Sollte das wirklich stimmen, was Papa mir gerade auftischt? Besser, ich wache gleich auf und das Christkind stupst mich sanft an der Schulter.
»Sie ist noch zweimal wegen unerlaubten Waffenbesitzes und der Schmuggelei von Sprengstoff und schwarzem Afghan aus Holland aufgegriffen worden, aber eine wirkliche Nähe zum terroristischen Kern konnten die Behörden ihr nicht nachweisen. Ende der 70er hatte sie dann die Schnauze voll von den permanenten Übergriffen der Behörden und schloss sich noch mehr den Geächteten, wie sie diese nannte, an. Aber gut, sie war gerade mal 22. Da macht man eine Menge dummes Zeug.«
»Dummes Zeug?« Allein schon die Vorstellung, was Papa mir jetzt noch alles auftischen würde, sorgt für einen kalten Schauer in meinem Nacken.
»Nachdem sie sich 1978 auch noch in einem palästinensischen Lager im Jemen, warum auch immer – ich nehme mal an, es gab auch einen passenden Palästinenser dazu –, militärisch ausbilden ließ, ergriff sie 1980 die Chance auf ein halbwegs normales Leben, wie sie dachte. Sie verließ mit einigen anderen RAF-Aussteigern die BRD und floh in die DDR, wo sie vom Ministerium für Staatssicherheit mit offenen Armen empfangen wurde. Sie bekam den Decknamen Julia Decker, einen fiktiven Lebenslauf und eine Einzimmerwohnung in Gotha.«
Mit einem tiefen Seufzer entlädt sich plötzlich Papas komplette Anspannung. Ich schaue ihm ins Gesicht. Sehe diese Mischung aus Traurigkeit, Wut und unendlicher Liebe, der selbst diese ganze furchtbare Geschichte, all die Lügen davor und die vielen einsamen Jahre danach nichts anhaben konnten.
»Und was wollte sie in Bad Homburg? Ausgerechnet als die RAF Herrhausens Auto in die Luft gejagt hat?«
»Sie hat mir geschworen, dass sie damit nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun hatte!«
»Und wer war dieser, wie nochmal, Grahms?«
»Ein verdammtes Arschloch? Der hat alles kaputtgemacht. Weil er in der Gauck-Behörde ihre Akte aufgetrieben hatte. Ihre und viele andere. Und damit versuchten er und seinesgleichen Kohle zu machen. Grahms war nichts anderes als ein schmieriger Erpresser aus Erfurt, der den famosen Einfall hatte, die Ossis abzukassieren, die ihre Stasi-Akten lieber geheim halten wollten.«
»Aber was hätte Mama denn passieren können?«
»Na ja. Zehn Jahre in der DDR. Unter den Fittichen der Stasi. Selbst wenn sie niemanden in dieser Zeit wirklich verraten hat, weil sie ja doch nur ängstlich in ihrem eigenen Kokon zu überleben versuchte, das hätte schon für eine Menge Wirbel gesorgt. Abgesehen davon, dass das Herrhausen-Attentat niemals aufgeklärt wurde.«
»Du meinst, die Bundesanwaltschaft hätte sich auf Mama als Verdächtige gestürzt und es ihr angehängt?«
»Klar. Alle Angeklagten wurden entweder freigesprochen oder die Verfahren eingestellt. Sie hatten bereits erklärt, dass nur noch gegen Unbekannt ermittelt wird. Und dann kommt heraus, dass eine vorbestrafte ehemalige RAF-Sympathisantin mit militärischer Ausbildung und jahrelangem Unterschlupf in der DDR zufällig keine 300 Meter entfernt vom Tatort war. Wie wäre das wohl ausgegangen?«
»Scheiße! Nicht gut, nehme ich an.«
Mit weit aufgerissenen Augen sitze ich vor Papa, der mir plötzlich sehr klein, sehr verletzlich vorkommt. Weil sie ihn unendlich viel Kraft gekostet hat, aber er noch immer wie ein Löwe um sie kämpft. Oder für sie? Seine Augen glänzen plötzlich.
»Ja. Und weil sie sicher war, dass ich und vor allem du darunter unendlich zu leiden gehabt hätten, hat sie sich entschieden zu gehen.«
»Und du? Warum hast du sie nicht zurückgehalten?«
»Als ob irgendwer oder irgendetwas deine Mutter hätte zurückhalten können. Nein. Nein, wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, gab es kein Zurück.«
Ich zögere. Ist es okay, wenn ich jetzt weiter bohre? Noch mehr – die ganze Geschichte – erfahren will. Statt ihm eine Pause zu gönnen? Mein Kopf entscheidet schnell. Ja! Nach so vielen Jahren Ungewissheit und falschen Schlussfolgerungen ist es richtig. Alles muss auf den Tisch. Jetzt.
»Und wo ist sie hin? Zurück in den Osten?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube eher, sie hat ihre alten Kontakte in den Jemen aufgefrischt.«
»In irgendein militantes Wüstenlager? Und dort hüpft sie jetzt mit Kopftuch und komplett verschleiert von Sanddüne zu Sanddüne und ist Teil einer Miliz?«
»Nun schnapp mal nicht gleich über, Kind. Deine Mutter und Kopftuch, das ist wie Grabowski mit der Nummer 1 auf dem Rücken. Geht gar nicht! Und als Terror-Oma ist sie auch nur schwer vorstellbar.«
Immerhin: Seinen Humor hat er wieder, schießt es mir durch den Kopf, und gleichzeitig verwirrt mich all das maßlos. Kein Wunder: Mein halbes Leben habe ich nicht verstanden, warum meine Mutter mich verlassen hat. Und ich hatte ja nur zwei Möglichkeiten: Den Grund bei mir zu suchen oder bei ihr. Also habe ich nach einigen furchtbaren Jahren mit fettigen Haaren, Pickeln, abgekauten Fingernägeln und einer Menge Schwachsinn im Kopf mich selbst geschützt und ihr die Verantwortung zugeschoben. Während mein Vater einfach nur geschwiegen hat. Und all das soll plötzlich völlig anders sein.
»Die ganze Geschichte ist doch inzwischen längst verjährt. Warum ist sie nicht zurückgekommen? 30 Jahre sind eine Ewigkeit, wenn du niemanden umgebracht hast …« Pause. »Hat sie, Papa?« Allein der Gedanke daran sorgt für reichlich Unbehagen in meiner Magengegend, und ich zähle im Kopf die Sekunden, bis Papa endlich antwortet.
»Nein. Hat sie sicher nicht. Sie hat ein paar äußerst dämliche Jugendsünden auf dem Kerbholz und ein paar üble Freunde um sich geschart. Es ist so ein bisschen wie bei Susanne Albrecht. Da ist ebenso bis heute nicht eindeutig klar geworden, ob die RAF-Leute sie nicht ganz bewusst eingefangen haben, weil sie Zugang zu Ponto hatte.«
»War Mama am Ende da auch dabei?«
»Ach Quatsch! Der Mord ist doch längst aufgeklärt. Sie war ja nicht mal in der Nähe von Oberursel, und ob sie einen der Beteiligten überhaupt gekannt hat, weiß niemand.«
»Okay, Papa. Aber was weiß sie, wovor sie mich warnen kann? Wieso soll ich denn jetzt in Gefahr sein?«
»Gute Frage. Keine Ahnung. Aber so viel ist sicher: Wenn sie einen Tag vor Heiligabend aus Afghanistan anruft, um dich zu warnen, hat sie einen guten Grund dafür.«
Damit dreht er sich von mir ab und rollt zu einem Schränkchen im Flur. Er zieht eine Schublade heraus und kramt eine alte Blechschachtel hervor. Papa öffnet den Deckel und streckt mir ein Uralthandy entgegen. »Prepaid«, schnauft er. »Brauchst nur auf Wiederwahl zu drücken. Dann bekommst du Antworten auf deine Fragen.«
»Und das Passwort?«
»Kind, dieses Teil ist fast 20 Jahre alt. Passwort ist heute. Damals war es einfach ich bin drin.«
Ich öffne den Deckel, schalte das Museumsstück an und drücke auf den Wiederwahl-Knopf. Es tutet und eine Stimme meldet sich: »Yes!«
»Mama?«
»Ah. Gut. Du hast mit deinem Vater gesprochen.«
»Habe ich. Und er hat mir die Geschichte erzählt. Nach so langer Zeit. Darüber will ich aber mit dir jetzt nicht sprechen. Wenn du das willst … musst du nach Deutschland kommen. Hierherkommen.« Ich habe all meinen Mut für diesen Satz zusammengenommen und komme mir jetzt vor wie der Held aus irgendeinem meiner Schmachtfilme, die ich mir so gerne reinziehe. Jedoch nicht lange.
»Ach, Mäuschen! Wenn das alles so einfach wäre«, nimmt sie mir die Luft aus den Segeln. Aber so lasse ich sie diesmal nicht davonkommen. Ich schalte das Handy auf Lautsprecher.
»Niemand hat behauptet, dass es einfach wäre. Ich schon gar nicht. Ich dachte drei Jahre meines Lebens, ich sei daran schuld, dass meine Mama mich nicht mehr lieb hat. Drei lange Jahre. Also erzähl mir nicht, was einfach ist.«
Schweigen.
»Sag mir bitte einfach nur, wovor du mich warnen willst, und dann lass Papa und mich in Ruhe Weihnachten feiern und genieß dein Leben in der Wüste.«
Eigentlich würde ich gerne auflegen und nie wieder dieses versiffte Handy anfassen. Es ist zu viel Zeit vergangen, um verzeihen zu können. Viel zu viel.
»Ich habe hier ein paar alte Freunde. Die haben etwas aufgeschnappt. Es geht um Frankfurt. Um ein Attentat. Bei euch.«
»Wie – bei uns?«
»Irgendwo am Stadion. Sie haben Pläne gesehen.«
»Pläne? Pläne von der Arena gibt es haufenweise im Internet. Was soll daran gefährlich sein? Mama!«
»Ich kann dir nicht mehr sagen, ohne meine Leute in Gefahr zu bringen. Eigentlich dürfte ich nicht mal mit dir telefonieren. Halt dich einfach heute fern vom Stadion. Dann ist alles gut.«
Diese Frau schafft es in einem unglaublichen Tempo, mich völlig aus der Fassung zu bringen. Erst der Anruf. Dann die Warnung. Jetzt das Stadion und ein angebliches Attentat. Dazu die ganze alte Geschichte von Papa. Gedankenfetzen schwirren in meinem Kopf umher und es gelingt mir nicht, auch nur einen einzigen davon einzufangen. Fragend schaue ich Papa an, aber der sitzt mir auch nur mit weit aufgerissenem Mund gegenüber und scheint zwischen Verzückung, weil er ihre Stimme hören kann, und Entsetzen hin- und herzupendeln.
»Bleib weg vom Stadion heute, versteh doch. Mehr will ich nicht.«
»Ja. Ist gut. Hatte ich eh nicht vor. Also: Den Anruf hätten wir uns ersparen können. Machs’ gut, Mama. Frohe Weihnachten!«
Ich klappe den Deckel des Handys zu und reiche es Papa.
»Kannst du wegpacken. Ich bin hier. Also kann nix passieren, hat sie gesagt.«
Ich schaue ihn an und spüre plötzlich meine zittrigen Beine. Ich habe in den vergangenen Jahren eine Menge abgefahrene und nicht alltägliche Sachen erlebt. Privat mit Sev und natürlich auch mit der Eintracht. So schnell haut mich nichts mehr vom Hocker, aber die letzten zwei Stunden waren dann doch harter Tobak. ›Too much information‹, würde Tim jetzt sagen.
Papa nimmt mir das Teil ab. Rollt zurück zum Schränkchen und zögert plötzlich. Dann dreht er den Rolli herum und hält mir das Handy hin. »Ich glaube, es ist besser, wenn du das Teil jetzt erst mal bei dir behältst. Für alle Fälle.«
Ich blicke ihn an und streiche ihm über die Wange. »Okay. Wenn du meinst.«
»Hmmm«, brummt er und wendet sich ab. Und ich bin nicht sicher, was er meint. Will er, dass ich sie jederzeit erreichen kann, oder doch vielmehr, dass er es in dieser Nacht besser nicht kann?