Читать книгу Stille Nacht - Dana Müller-Braun - Страница 9

Оглавление

Kapitel 5

23. Dezember 2020, 19.43 Uhr

Lydia

Papa! Rufst du bitte die Polizei an und sagst ihnen, irgendwo im Bereich des Theatertunnels wird gerade – keine Ahnung wer – entführt. Wahrscheinlich alle, die bei der Weihnachtsfeier der Eintracht in der Geschäftsstelle waren. Nein. Das sag bitte nicht. Sonst müssen alle in Quarantäne und bekommen eine ordentliche Geldstrafe aufgebrummt.«

Manchmal könnte ich mich wirklich ohrfeigen für meine Art zu denken. Eintracht immer zuerst. Genau das, was ich meinem Vater stets vorgeworfen habe. Aber ich bin genauso geworden wie er. Keinen Deut besser. Und deshalb hat Severin wahrscheinlich die Flucht ergriffen. Hat keinen Bock mehr auf mich gehabt. Der alte Hooligan, der gelernt hat, dass es auch ein Leben ohne die Eintracht gibt. Und jetzt ist er in Lebensgefahr. Nur weil ich meiner Mutter nicht vertraut und ihn nicht gewarnt habe. Dabei wusste ich doch genau, dass er im Stadion ist. Wegen Mic. Und sie hat gesagt: Wenn du nicht im Stadion bist, kann dir nichts passieren. Was bin ich denn nur für ein Mensch. Habe nur an mich gedacht und keine Sekunde lang an Severin oder die anderen. Eric. Tim. Das Team. Scheiße. Verdammt. Scheiße.

Tränen rinnen über mein Gesicht. Sagen mir, wie viel mir an diesem blöden arroganten Arsch liegt. Wie sehr ich Severin liebe. Schon immer geliebt habe.

Papa nimmt mich in den Arm.

»Soll ich das der Polizei wirklich genau so sagen. Oder möchtest du den Text noch überarbeiten?«

Dieser Mann hat es schon immer verstanden, mich mit diesen kleinen Spitzen, die er wie ein erfahrener Fechtmeister zu setzen versteht, zur Weißglut zu bringen. Selbst jetzt.

»Nein, Papa. Keine Überarbeitung. Nur anrufen und das, was ich gesagt habe, durchgeben. Sie sollen den Theatertunnel abfahren und mir sagen, dass Sev nur einen seiner berühmten Suff-Scherze gemacht hat.«

»Okay.« Ich starre den alten Mann an und bin verblüfft. Zum ersten Mal, jedenfalls soweit ich denken kann, macht er wirklich, was ich sage. Aber das ist dann auch nicht das Richtige.

»Hallo! Hier spricht Heller. Klaus Heller. Ich soll Ihnen von meiner Tochter sagen, dass gerade irgendwo im Bereich des Theatertunnels … ja, in Frankfurt. Wo denn auch sonst … jemand entführt wird. Sie hat auch keine Ahnung, wer«, flötet er.

»Papa!«, ich reiße ihm das Telefon aus der Hand.

»Guten Abend. Mein Name ist Lydia Heller. Ich habe gerade von Severin Klemm einen Anruf erhalten. Darin schildert er mir, dass im oder in der Nähe des Theatertunnels ein Verbrechen verübt wird. Könnten Sie das bitte überprüfen?«

»Wie stellen Sie sich das vor, junge Frau?«

»Was heißt, wie stellen Sie sich das vor? Der Zeuge Severin Klemm sagt, dass hier Menschen entführt wurden und in Gefahr sind. Das muss ja wohl ausreichend sein, um den Tunnel zu kontrollieren?«

»Frau Heller. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Menschen hier täglich anrufen und von Entführungen berichten. Nur weil einer mal Zigaretten holen gegangen ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Seit Corona hat sich die Zahl mehr als verdoppelt.«

»Herr … wie auch immer Sie heißen. Da fällt mir ein: Wie heißen Sie eigentlich?«

»Raubein. Obermeister Raubein.«

Ich versuche, meinen Puls mit aller Gewalt herunterzudrücken, atme dreimal tief durch und greife dann zu einem Mittel, das ich eigentlich nicht mag, das aber meist funktioniert.

»Okay. Herr Obermeister Raubein. Sehen Sie: Dieser Severin Klemm ist zufälligerweise der Sohn von Oberstaatsanwalt Klemm. Es mag sein, dass er zu den ausgemachten Witzbolden dieser Welt gehört, aber wenn es um seinen Freund Tim geht, hört auch für ihn der Spaß auf. Also: Er hat mich vor wenigen Minuten angerufen und gesagt, am Stadion bei der Eintracht-Geschäftsstelle seien Menschen entführt worden. Von irgendwelchen vermummten Gestalten. Und die seien jetzt im Theatertunnel. Mehr konnte er mir nicht sagen, dann ist die Verbindung abgerissen. Wahrscheinlich, weil er in den Tunnel gefahren ist.«

Ich stocke und mir wird klar, dass ich das eigentlich nicht weiß, sondern nur hoffe. Weil ich mir nicht vorstellen will, dass ihm etwas Schlimmes passiert ist.

»Also, Herr Raubein. Mehr weiß ich auch nicht, aber Sie müssen dort doch irgendwelche Überwachungskameras haben, um nach dem Rechten sehen zu können.«

Ich finde es schon pervers, dass ich ihm sagen muss, was zu tun ist, und bete trotzdem inständig, dass er es einfach tut. Am anderen Ende der Leitung herrscht erst einmal Stille. Immerhin. Sollte er wirklich …?

»Frau Heller?«

»Ja. Ich bin noch hier. Was ist?«

»Sind Sie die von der Eintracht?«

»Ja, ich bin die von der Eintracht. Aber das spielt jetzt wirklich keine Rolle.«

»Ich wollte es ja nur wissen, weil … Tommy, mein Enkel, ist so ein großer Fan der Eintracht. Und wenn ich ihm morgen bei der Bescherung erzähle, dass ich mit Ihnen gesprochen habe, flippt der aus.«

»Herr Raubein! Das tue ich jetzt auch gleich!« Schweigen.

Dann ein förmliches »Können Sie dranbleiben?«

»Ja. Natürlich. Ich kann dranbleiben.«

Papa schaut mich fragend an. Normalerweise würde er triumphierend mindestens drei Pirouetten mit seinem Rolli drehen. Weil ich bislang auch nicht mehr erreicht habe als er. Die Polizei ist so kurz vor Weihnachten offenbar dünn besetzt. Na klar. Wer will schon bis zum frühen Morgen an Heiligabend Dienst schieben. Das machen wirklich nur die ›Special Forces‹, geht es mir durch den Kopf.

Dann knackt es zweimal in der Leitung.

»Homburg. KHK Ulf Homburg. Was kann ich für Sie tun?«, meldet sich eine angenehme Stimme. Noch dazu eine, die Kompetenz ausstrahlt. Ich atme auf.

»Herr Hauptkommissar. Homburg. Mein …«, ich zögere einen Moment, »mein … Freund Severin Klemm hat mich eben angerufen und gesagt, am Stadion bei der Eintracht-Geschäftsstelle seien Menschen entführt worden. Er ist den Entführern gefolgt, bis sie im Theatertunnel verschwunden sind. Er hat mir seine Position zugemailt, aber der Kontakt ist abgerissen.«

»Aha!«, sagt der Mann. »Und wann soll das gewesen sein?« Schon die Formulierung bringt mich auf die Palme. Wann soll das denn gewesen sein? Das fragt so doch nur einer, der dir nicht glaubt.

»Vielleicht vor einer Viertelstunde. Schließlich ist mein Anruf dank Ihres Kollegen schon 10 Minuten her.«

»Na ja, das müssen Sie dem Obermeister Raubein schon verzeihen. Der macht normalerweise keinen Telefondienst. Nur wegen den anstehenden Feiertagen. Und indem er Sie zu mir durchgestellt hat, hat er ja eigentlich alles richtig gemacht, nicht wahr?!«

Dieser Mann versucht mich offenkundig zu beruhigen. Was ihm allerdings nicht wirklich gelingt. Heißt das, die Polizei hat längst eine Meldung von den Vorgängen im Theatertunnel bekommen und er will mir die Wahrheit nicht sagen? Weil … schon wieder mag ich den Gedanken nicht zu Ende bringen. Zu schlimm ist die Vorstellung, Severin könnte etwas zugestoßen sein. Oder war bei der Weihnachtsfeier gerade der Nikolaus unterwegs, hat leckere Geschenke verteilt und sie schlafen jetzt alle den Schlaf der Gerechten.

»Jaja, alles gut. Ich bin ihm auch nicht böse, aber bitte sagen Sie mir doch endlich, was in dem Tunnel los ist. Sie müssen doch Überwachungskameras da unten drin haben. Falls ein Unfall passiert oder ein Unglück.«

»Ich lasse das gerade überprüfen, Frau Heller. Dauert aber einen Moment. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele dieser Kameras in der Stadt verteilt sind?«

»Nein, habe ich nicht. Warum auch? Ich bitte Sie ja auch nur eine, vielleicht zwei dieser Kameras zu überprüfen und mir dann zu sagen, was mit Severin ist! Können Sie das bitte für mich tun?!«

Stille Nacht

Подняться наверх