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In Manchester – Zwischen den Welten

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Während Manfred seinem Onkel hilft, Hunderten jungen Flüchtlingen aus Deutschland eine Unterkunft und Perspektive in England zu verschaffen, muss er auch für sich selbst nach einer neuen Bleibe suchen. Kost und Logis bei den Jakobs werden zu teuer. Seine Bemühungen, den Preis zu verhandeln, bleiben erfolglos. Also geht er auf die Suche und findet ein günstigeres Zimmer bei einer Witwe im Stadtteil Brent: »richtiges Volk aus der Masse«. Von dort aus kann er weiterhin die Synagoge in Golders Green besuchen und per U-Bahn das Tutorial College erreichen. Bis vor kurzem kannte Manfred nur die gutbürgerliche Lebenswelt einer ländlichen Kleinstadt. Nun lebt er im Arbeiterviertel einer Metropole. Er vermisst gar nicht so sehr seine Freunde, vielmehr fehlt ihm die Solidarität. Er beschwert sich, dass inzwischen selbst die englischen Juden nicht mehr helfen wollen. Sie bekunden zwar allesamt ihr Mitleid mit den deutschen Juden, aber als Manfred einmal versucht, einem jungen Flüchtling eine Unterkunft zu vermitteln, stößt er auf Ablehnung. Auch der Dame, bei der er nun wohnt, einer Jüdin aus Osteuropa, unterstellt er eine Doppelmoral. Wenn sie die Zeitung lese, werde feste gestöhnt über all die Ungerechtigkeiten. Aber ihm wolle sie nicht erlauben, länger als bis zwölf Uhr zu lernen, da sonst die Stromrechnung zu teuer werde. Etwas patzig bietet Manfred ihr an, einen Penny pro Woche extra zu zahlen, um sein Licht länger brennen lassen zu dürfen, schließlich steht seine Prüfung bevor.

Manfred lernt und lernt – doch am Ende reicht es nicht. Mathematik, Mechanik und Elektrotechnik besteht er, aber in Englisch fällt er durch. Es ärgert ihn, vor allem, als sein Vater schreibt: »Ein Glück, dass dir auch mal was danebengegangen ist. Du hast bisher viel zu viel Glück gehabt.«

Ohne Schulabschluss und ohne Perspektive geht Manfred auf die Suche nach einem Job. Er stellt sich bei verschiedenen Organisationen vor, die bei der Vermittlung helfen, und bekommt schnell den Rat, sein Glück doch lieber in Manchester zu versuchen. In der Industriestadt im Norden seien die Möglichkeiten, einen Job zu finden, deutlich besser.

England ist in diesen Jahren noch immer von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und einer entsprechend hohen Arbeitslosigkeit geprägt. Ungelernte Arbeitskräfte sucht in London zu dieser Zeit kaum jemand. In Manchester angekommen, findet Manfred Unterkunft im Kershaw House, das vom Manchester German Jewish Aid Committee als Quartier und Treffpunkt für junge jüdische Flüchtlinge eingerichtet worden war.

»Erstmal gab’s eine Freudensbotschaft! Es gibt hier unter zwei Millionen Einwohnern nur zweihundert deutsche Juden!! Also gute Aussicht. Hoffentlich werden sich unsere Leute weiter so standhaft weigern, London zu verlassen.

Dann kamen wir zu dem Haus. Hier leben noch weitere 30 Jungen und 5 Mädchen. Es ist hier fabelhaft. Sauber, gutes Essen etc. Die Leute bleiben hier, so lange, bis sie Arbeit haben und verdienen. Hier kostet der Aufenthalt nichts, ja wir bekommen sogar noch 2 Schillinge Taschengeld. Als man uns fünf Neue hier oben in unserem Zimmer allein ließ, sind wir uns erstmal vor Freude um den Hals gefallen.«[16]

Die Suche nach einem Job in Manchester gestaltet sich dann allerdings doch schwerer als gedacht. Denn in den allermeisten Fabriken wird samstags gearbeitet, was für Manfred undenkbar ist: Am Schabbat dürfe ein orthodoxer Jude keine Lohnarbeit verrichten. Bei der Möbelfabrik J.O. Grant & Co. in Salford findet er schließlich doch eine Anstellung. Hier muss er zwar viele Nachtschichten leisten, aber immerhin bekommt er den Schabbat frei. Sein Chef ist zwar kein Jude, aber gläubiger Christ. Er zeigt Verständnis für Manfreds Vorbehalt. Der wird für die Wartung der Maschinen eingeteilt, eine Tätigkeit, die er, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, sich noch vor Monaten kaum hätte vorstellen können. Doch Manfred findet Gefallen an der körperlichen Arbeit und genießt die proletarische Atmosphäre. Als eine der Maschinen in der Möbelfabrik wieder einmal streikt, müssen Manfred und seine Kollegen zur nächtlichen Reparatur anrücken. Gemeinsam mit dem Maschinisten nimmt er das defekte Gerät auseinander. 35 °C zeigt das Thermometer im staubigen Maschinenraum. Auf ihren Gesichtern mischen sich Schweiß, Staub und Maschinenöl, sodass sie schon nach kurzer Zeit wie Schornsteinfeger aussehen.

»Eins habe ich in der Nacht bestimmt gelernt, nämlich fluchen, denn ohne das geht es unter solchen Bedingungen nicht ab. Um elf brachte uns die Frau des Maschinisten Tee und Kuchen und um drei kam ein Polizist, der uns für Soldaten der irischen republikanischen Armee hielt. Das sind die Leutchen, die hier jetzt die Gegenden unsicher machen. Wir kamen mit ihm auf Politik zu sprechen und er fragte mich, woher ich käme. Als ich sagte ›aus Deutschland‹, meinte er: ›Gut, dass ich nicht mit einem Fluch auf Hitler hereingekommen bin.‹ Ich erwiderte nur: ›I wouldn’t mind.‹ Darauf machte der Maschinist den Vorschlag, Hitler in den Dampfkessel zu werfen.«[17]

Doch Manfred macht nicht nur neue Bekanntschaft mit der Arbeiterschaft. Eine Betreuerin im Kershaw House drückt ihm eines Tages eine Adresse in die Hand und sagt, er solle dort am selben Abend noch hinfahren. Manfred vermutet, dass dies der übliche Rausschmiss ist, denn alle Jungen, die eine Arbeit gefunden haben, müssen kurz darauf ausziehen. Ohne zu wissen, wo es hingeht, steigt er müde und enttäuscht in den Bus. Als er an der angegeben Adresse aussteigt, steht er vor einer herrlichen Villa.

»Es öffnete mir ein Mädchen ›in Kluft‹ mit dem Bescheid, dass ›die Herrschaften‹ schon auf mich warteten. Nun wurde mir aber doch verdammt ungemütlich. Denn ich hatte noch Arbeitskleidung an und war ungewaschen (weder salon- noch kussfähig). Einen Augenblick kämpfte in mir der Arbeiter No. 252 der Firma J.O. Grant mit dem ehemals wohlerzogenen Sohn bessergestellter Eltern. Für dieses Mal siegte noch der Letztere, und ich war gewillt, eine reine Seele durch dreckige Kleidung blicken zu lassen. – Ein Herr im schwarzen Anzug und Lackschuhen empfing mich. Er stellte mir seine Frau vor (beide circa 50 Jahre). Dann fragten sie mich, ob ich schon Arbeit hätte und was sie für mich tun könnten. Außerdem sollte ich jetzt recht oft zu ihnen kommen. […] Ich hatte nur das eine Gefühl: ›Ich bin der Falsche. Im Kershaw House hat man die Namen verwechselt.‹ Bis endlich die Frau mir offenbarte, dass der Mann, bei dem ich zuerst in London gewohnt hatte und mit dem ich noch immer sehr befreundet bin, ihnen geschrieben hätte, sie sollten sich meiner annehmen.«[18]

Es war Herr Jakobs aus London, der Manfred an Familie Steinart, eine der wohlhabendsten Familien in Manchester, vermittelt hat. Sie unterstützen Manfred fortan und organisieren ihm als Erstes eine eigene Unterkunft. Er ist nun regelmäßig bei ihnen zum Schabbat-Abend zu Gast. Für die kommenden Monate bleibt Manfred ein Wanderer zwischen den Welten. Unter der Woche ist er Teil des Manchester-Proletariats, am Wochenende verkehrt er in der Oberschicht; wochentags geht er zum Boxtraining, und am Schabbat diskutiert er mit Rabbiner Alexander Altmann, der vor seiner Flucht Rabbiner und Professor in Berlin war, über religiöse und politische Fragen des Judentums.

»Ich bin hier mit meinen 16 Jährchen so frei!! Kein Mensch kümmert sich darum, was ich tue oder lasse, und von meinen Zielen wird mich kein Schwein abbringen. Das Leben hier ohne Freunde macht hart wie Stahl! […] Dass Dir Freundinnen fehlen, kann ich sehr gut verstehen. Ich hab hier auch keine, aber bei mir ist das auch was anderes, weil ich zu Hause auch keine richtigen hatte. Aber lange halte ich diesen Zustand auch nicht mehr aus. Zähne zusammen und rücksichtslos weiter!! Nur die andern nicht merken lassen, dass man im Innern selbst schwach ist!!«[19]

Unterdessen spitzt sich die Situation der Eltern in Borken zu. In einer perfiden Verdrehung der Fakten machen die Nationalsozialisten die Juden für die Novemberpogrome verantwortlich und fordern eine Entschädigung für jene Zerstörungen, die sie selbst angerichtet haben. Im ganzen Land kommt es zu Zwangsenteignungen von Häusern und Kapital. Auch Moritz und Else Gans wird das Haus in Borken genommen. Einige Zeit später richtet die Gestapo dort ihre Zentrale für den Landkreis Borken ein. Eine Miete zahlen die Behörden nicht. Moritz kann lediglich verhandeln, dass sie Reisepässe erhalten, um das Land zu verlassen. Noch sind die Grenzen offen, aber jeder Grenzübertritt ist ein Wagnis und von der Willkür der jeweiligen Beamten abhängig. Seit 1933 sind bereits Zehntausende politische und jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in die Niederlande emigriert. Es ist die größte Zuwanderung in der jüngeren niederländischen Geschichte. Gern gesehen sind die Flüchtlinge dort nicht, und es schlagen ihnen von vielen Seiten Feindseligkeiten entgegen. In den Augen vieler Niederländer sind sie laut, arrogant und störend. Gleichzeitig gibt es aber auch einige engagierte Bürger und Bürgermeister in der Grenzregion, die sich für die deutschen Flüchtlinge einsetzen.

Moritz und Else bleiben zunächst noch in Borken. Nur Else fährt für einen Besuch nach England, um ihren Sohn Manfred zu treffen. Der freut sich über gutes Gebäck aus der Heimat und nimmt »seine Alte« (wie er die Mutter nennt) zu einer zionistischen Kundgebung mit. Chaim Weizmann (später erster Staatspräsident Israels) und der britische Oberrabbiner Joseph Hertz sowie Vertreter der britischen Regierung sind geladen, um über die Palästina-Frage zu diskutieren. Manfred und seine Mutter kommen zu spät. Die Halle ist bereits komplett überfüllt und wird von der Polizei abgeriegelt. Es ist bitterkalt. Die wartenden Massen werden immer ungeduldiger, bis sie schließlich die Polizeiabsperrung vor der Halle durchbrechen. Doch die Türen bleiben verriegelt. Manfred packt seine Mutter und führt sie zu einem Seiteneingang. Dort kann er einen Türsteher überzeugen, ihn und seine Mutter noch hineinzulassen.

»Und dann sah ich eine politische Versammlung, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Das heißt, so schlecht!! Erstens weist man auf einer politischen Versammlung keine begeisterten Massen ab, ohne dass nicht wenigstens einer der hohen Führer sich den Massen zeigt oder sogar kurz zu ihnen redet. Zweitens übernimmt nicht der höchste Führer einer Organisation einen Hausmeisterposten, wie das in diesem Fall bei Weizmann war, der immer die einzelnen Redner ankündigte. Drittens gehört ein jüdischer Saalschutz dahin. (Mit 50 entschlossenen Mann hätte ich innerhalb von fünf Minuten die ganze Versammlung gesprengt.) Das zu den propagandistischen Punkten.«[20]

Auch mit den Inhalten ist Manfred nicht einverstanden. Alle würden nur um den heißen Brei reden. Lediglich der Rabbi Hertz habe fabelhaft gesprochen, weil er der Einzige sei, der den Mut habe, der englischen Regierung mal die Meinung zu sagen. Wie große Teile der jüdischen Gemeinde in England ist Manfred mit der Politik der Regierung in London äußerst unzufrieden. Im britischen Mandatsgebiet Palästina blockierten sie jüdische Einwanderer, und in der Auseinandersetzung mit Hitler seien sie viel zu ängstlich.

Manfreds Mutter berichtet aus der Heimat, dass der Vater nach wie vor über heimliche Kontakte und Devisen verfüge und damit helfe, Flüchtlinge über die Grenze in die Niederlande zu schmuggeln. Stolz berichtet Manfred an Anita:

»Man könnte Bücher schreiben, wie er die Menschen herausbringt, wie bestechlich und versoffen aber auch die deutsche Gestapo ist. 1000 Gulden Devisen öffnen alle Tore und Transfers. Auf holländischer Seite stehen aber auch allerhand Abenteuergestalten, die für Geld alles tun.«[21]

Wochen später, die Mutter ist wieder zurück in Deutschland, sitzt Manfred wieder einmal gebannt vor dem Radio. Es ist Mitte März 1939. Die Wehrmacht rückt in Prag ein und besetzt die restliche Tschechoslowakei. Hitler hat das Münchener Abkommen nach nur sechs Monaten gebrochen. Es wird immer deutlicher, dass Deutschland einen Krieg anstrebt. Selbst der britische Premierminister Neville Chamberlain glaubt nun nicht mehr an seine Appeasement-Strategie. Manfred schaut dem sich anbahnenden Krieg entschlossen entgegen.

»Im Kriegsfall würde ich mit allen Mitteln versuchen, nach Palästina zu gehen. Glaubst Du, dass ich mich drücken würde? Kommt gar nicht in Frage, wenn es nicht anders geht, werde ich natürlich zuerst auf Seiten der Engländer mitkämpfen. Zu verlieren habe ich ja doch nichts, also wozu soll man nicht auf die Abenteuer losgehen. Hitler hat nach meiner Ansicht ganz gut Aussicht zu gewinnen, wenn er es schnell macht. Was dann kommt, weiß ich sehr genau, aber ich mach mir keine Sorgen darüber, ich werde nur sehen, dass ich dann in Erez bin, dann können wir es den Hunden noch mal zeigen, bevor sie uns klein kriegen.«[22]

Diese Zeilen schreibt Manfred in einem der letzten Briefe an Anita. Nachdem er seiner Jugendfreundin ein knappes Jahr lang nahezu wöchentlich geschrieben hat, hört er plötzlich damit auf. In den Briefen selbst gibt es keinen Hinweis darauf, warum die beiden so unvermittelt den Kontakt abbrechen. Später klärt es sich auf. Anitas Mutter hatte interveniert und der Tochter verboten, sich weiterhin so intensiv mit einem Jungen zu befassen, der weit weg in England lebt. Anita solle sich ganz auf ihr neues Leben in den USA konzentrieren.

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