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Rückkehr zum Ursprung

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Der 12. Mai 1945 ist ein sonniger Samstag, bereits am frühen Mittag zeigt das Thermometer knapp 30 °C. In Goes, im Südwesten der Niederlande, packt der britische Offizier Frederick Gray einige wenige Sachen zusammen: zwei Straßenkarten, eine Handfeuerwaffe, etwas Verpflegung und ein Begleitschreiben seines Vorgesetzten. Frederick Gray hat erst am Tag der Abreise das Einverständnis des befehlshabenden Majors im Hauptquartier erhalten, auf eigene Faust Richtung Osten aufzubrechen: »Ihm soll jede Unterstützung zuteilwerden, um sein Vorhaben umzusetzen«, heißt es in dem Schreiben. Unterstützung kann er in der Tat brauchen. Denn er will quer durch das zerstörte Deutsche Reich fahren, wo die Lage in diesen Tagen chaotisch und unberechenbar ist. Sein Ziel ist das Ghetto Theresienstadt nahe Prag. Er hofft inständig, seine Eltern dort noch lebend zu finden.

Nur wenige Tage vor der Abfahrt hat Frederick Gray in seinem Einsatzort Goes ein Brief mit der Nachricht über den Verbleib seiner Eltern erreicht. Er stammt von einer Verwandten, Tante Erna, von der er schon Jahre nichts mehr gehört hatte. Sie konnte in Erfahrung bringen, dass sich seine Eltern Moritz und Else noch kurz vor dem Kriegsende im Ghetto Theresienstadt befanden. Frederick Gray hat sie zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und fast ebenso lang nichts mehr von ihnen gehört.

Kurz vor der Abfahrt stellt Bob, sein Fahrer, fest, dass die Bremsen des Jeeps nicht richtig funktionieren. Gray verspricht, dass sie das unterwegs regeln werden. Er will keine Zeit verlieren; wenn er seine Eltern in Theresienstadt antreffen will, zählt jeder Tag. Vor ihnen liegen immerhin gut 1000 Kilometer und viele unbekannte Herausforderungen. Was er auf dieser Reise erlebt, wird er kurz nach seiner Rückkehr aufschreiben: Die eng mit Maschine beschriebenen Seiten sind bis heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington erhalten. Der Stil: knapp, protokollarisch, eher unsentimental.

»Endlich: Wir sind startklar. Der Fahrer weiß erst seit einer Viertelstunde von dem geplanten Trip. Er ist aber voll und ganz einverstanden. ›Glückspilz‹ rufen ihm einige zu. […] Das Wetter ist perfekt. Wir tragen kurzärmlige Hemden, verlassen GOES gegen zwölf Uhr mittags.«[1]

In Roosendaal nehmen die beiden britischen Soldaten zwei Kanadier mit, die gerade aus Brüssel kommen, wo sie den »VE-Day«, den Siegestag in Europa, gefeiert haben. Die Deutschen hatten vier Tage zuvor kapituliert. Nach sechs Jahren schwerster Kämpfe herrscht endlich Frieden in Europa. In London versammeln sich Hunderttausende am Trafalgar Square, in Paris schwenken die Menschen die Tricolore und tanzen in den Straßen, am Times Square in New York regnet es Konfetti. »Have we had a time!«, lassen die beiden Kanadier verlauten. Nun müssen sie zurück zu ihrer Einheit Richtung Bremen. Frederick und sein Fahrer beschließen, die beiden bis nach Münster mitzunehmen, wo sie am Abend Rast machen wollen. Doch kurze Zeit später, in Tilburg, müssen sie schon wieder anhalten. Die Bremse des Jeeps macht immer noch Probleme. Sie finden zwar eine Werkstatt, aber der Mechaniker lässt sich alle Zeit der Welt. Zeit, die Frederick Gray nicht hat. Er wird ungeduldig. Kurzentschlossen entscheidet er, dass sie mit dem defekten Jeep weiterfahren. Es ist schon spät am Nachmittag, als sie das Rheinufer bei Rees erreichen.

Der Rhein war die letzte große Hürde auf dem Vormarsch der alliierten Truppen im Westen gewesen. Die Deutschen hatten in den letzten Kriegstagen alle noch unversehrten Rheinbrücken oberhalb von Bonn gesprengt. Nun führt eine provisorische Pontonbrücke über den Fluss, der im Frühjahr 1945 viel Wasser führt. Bob manövriert den britischen Militärjeep vorsichtig über die Schwimmbrücke. Dann sind sie auf der anderen Rheinseite.

Mit der Überquerung des Flusses nähert sich Frederick Gray vertrauten Regionen. Obwohl er in Eile ist, beschließt er, noch einen Umweg zu machen.

»CLEVE – EMMERICH – BOCHOLT, überall totale Zerstörung. Bob, mein Fahrer, hat so etwas noch nicht gesehen und kann es nicht fassen. Die Kanadier reißen Witze: ›Da steht noch ein heiles Haus, da wohnen verdammte Einheimische, viel zu gut für die!‹ Meine Karte ist ungenau, aber ich kenne mich hier aus. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand. Bocholt ist kaum noch zu erkennen, völlig zerstört. Ich erinnere mich an die schönen Tage, die Tage vor 1938.«[2]

Die »schönen Tage«, an die er sich erinnern mag, liegen für ihn schon weit zurück. Damals existierte noch kein Frederick Gray – damals hieß er noch Manfred Gans. Denn aufgewachsen ist der britische Offizier nicht in Großbritannien, sondern in der kleinen westfälischen Stadt Borken. Die Stadt hat er vor sieben Jahren verlassen, nun liegt sie nur noch 15 Minuten entfernt.

Als sie Borken erreichen, bittet Manfred seinen Fahrer, langsamer zu fahren. Er will nicht anhalten und auch nicht aussteigen, aber er will sich einen Eindruck verschaffen. Von vielen Häusern steht nur noch die wacklige Fassade, von anderen ist bloß ein großer Schutthaufen geblieben, vom Gymnasium bis zur Alten Post fast alles zerstört. Der britische Militärjeep biegt in die Bocholter Straße ein. Nach ein paar 100 Metern sieht Manfred schließlich hinter einem großen Baum stolz das Haus seiner Kindheit emporragen. Die hohe Backsteinmauer vorm Haus wurde abgetragen, und am Fahnenmast im Vorgarten weht nun die britische Flagge. Doch das Gebäude steht noch. Die alliierte Militärverwaltung hat hier erst wenige Tage zuvor ihr Hauptquartier eingerichtet. Es ist eines der wenigen Häuser in Borken, das unversehrt geblieben ist.

»Es sieht prächtig aus, das freut mich. Das wird den Jerries eine Lehre sein. Mit ihrem Hang zum Mystischen werden sie die Lektion schon verstehen.«[3]

Rückeroberung

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