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Prolog

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Der 29. Juli 2016 ist ein windiger Tag in Goes, einer niederländischen Kleinstadt. Der hoch aufragende Rathausturm und schmale rote Backsteinhäuschen umgrenzen den Marktplatz. Vor vielen Türen stehen Holzkübel, aus denen blühende Blumen ragen. Am Himmel über dem Stadtzentrum kreist ein Schwarm Möwen. Die Küste ist nicht weit. Die Straßen der beschaulichen Innenstadt sind allerdings menschenleer. Durchbrochen wird die morgendliche Ruhe nur von uns: einer Reisegruppe, die gut gelaunt und im Wirrwarr unterschiedlicher Sprachen durch die engen Gassen zieht, die an diesem Morgen wie eine Filmkulisse wirken – als ob sie eigens für uns Gäste aufgebaut wurden. Auf einem Parkplatz am Rande des Stadtzentrums wartet bereits ein Reisebus mit laufendem Motor und offenen Türen. Andy, unser Reiseleiter, steht an der vorderen Tür und mahnt zur Eile: Der Weg, der vor uns liege, sei weit und das Programm an den Zwischenstationen sehr umfangreich. Schnell verstauen die Letzten ihre Rollkoffer im Gepäckraum des Busses. Andy zählt durch. Alle sind da. Mit einem lauten Zischen schließt die Tür. Der Reisebus setzt sich in Bewegung. An Bord sind 18 Personen: die eine Hälfte der Gruppe stammt aus den USA, die andere Hälfte aus Israel. Sie sind Nachfahren der Familie Gans aus Borken im Münsterland und nun erstmals gemeinsam unterwegs, um sich auf die Spuren ihrer Familiengeschichte zu begeben. Hinten, in der letzten Reihe des Busses, nehmen Malte und ich Platz. Malte ist Historiker und im Auftrag der Stadt Borken dabei, um Recherchen zur Stadtgeschichte zu machen. Ich bin mit einer kleinen Filmausrüstung an Bord. Es geht los.

Dass ich mit im Bus sitze, habe ich dem Stadtarchivar Norbert Fasse aus Borken zu verdanken. Er rief mich nur wenige Wochen vor der Reise an und erzählte mir, dass er Ende des Monats die Nachfahren einer ehemals stadtbekannten jüdischen Familie erwarte. Er fragte, ob ich bei dieser Gelegenheit nicht einige Interviews mit ihnen führen wollen würde. Zu diesem Zeitpunkt war uns beiden noch unklar, was aus dem gesammelten Material der Reise entstehen könnte. Ich hatte zudem noch nie von Manfred, Theo und Karl, von Moritz und Else Gans gehört. Aber es bedurfte nur weniger Sätze, und ich wurde hellhörig – auch wenn mir damals die ganze Dimension dieser Geschichte noch nicht bewusst war.

Erst einen Tag vor der Abreise lernte ich die Familie Gans in einem Hotel in Amsterdam kennen: ein gemeinsames Abendessen, erste Gespräche in gemütlicher Atmosphäre, aber noch sind wir uns fremd und stecken die Themen vorsichtig ab. Ich habe unzählige Fragen, bin unsicher. Was kann ich fragen, was darf ich fragen, was muss ich fragen?

Am nächsten Morgen sitze ich dann inmitten der Großfamilie im Reisebus. Mehr als 1000 Kilometer liegen vor uns. Wir folgen den Spuren von Manfred Gans, der im Mai 1945 quer durch sein zerstörtes Heimatland fuhr, um seine Eltern zu suchen: von den Niederlanden quer durch Deutschland bis zum ehemaligen Ghetto Theresienstadt im heutigen Tschechien. Die Tage sind lang. Für die geplanten Interviews ist oft nur abends im Hotel Zeit – manchmal erst nach elf Uhr. Doch das Vertrauen wächst, und mit jedem Gespräch werden die Umrisse einer eindrücklichen Geschichte sichtbarer.

Als ich 2016 auf diese Reise ging, wusste ich nur, wohin sie mich geographisch führen würde. Welche Gespräche und Begegnungen vor mir lagen, habe ich nicht erahnt. Nach unserer gemeinsamen Reise besuchte ich einzelne Familienmitglieder in den USA und Israel und sammelte immer mehr Materialien zur Familienhistorie. Je länger ich die Briefe, Fotoalben und Tagebücher durchstöberte, umso spannender und vielschichtiger wurde die Geschichte, die sich um Manfred Gans, seine Eltern und Brüder entfaltete. Aus den Beobachtungen und Interviews entstand ein erster Zeitungsartikel, danach ein Hörfunkfeature und ein Dokumentarfilm über die Reise, später ein sechsteiliger Podcast bei Audible und nun dieses Buch, das den Raum bietet, Manfred Gans’ bewegte und bewegende Lebensgeschichte zu erzählen.

Ein reicher Fundus an Briefen, Kalendernotizen und Tagebucheinträgen bildet die Grundlage dieses Buches und ermöglichte mir einen unmittelbaren Einblick in diese außergewöhnliche Biographie. Manfreds Spuren folgend, berührt die Erzählung viele große Themen jener Zeit: das Schicksal der deutschen Flüchtlinge in England, den D-Day und den weiteren Kriegsverlauf, die Umstände im Ghetto Theresienstadt, die Diskussionen um den Zufluchtsort Palästina, die gebrochene deutsche Nachkriegsgesellschaft. All das und noch viel mehr schildere ich weitestgehend durch die Augen und Worte von Manfred Gans, der Hauptfigur dieses Buches, der die Geschehnisse nicht nur durchlebt, sondern auch reflektiert hat. Um die Dimensionen seiner Welt einzuordnen, werden Orte und Ereignisse der Geschichte in kurzen Exkursen erläutert. Manfred Gans’ Lebensgeschichte eröffnet eine bemerkenswerte Perspektive auf eine Zeit, die, von einer ideologiegetriebenen Unmenschlichkeit geprägt, bis heute schwer begreiflich bleibt und zugleich auch Zeugnisse tiefer Menschlichkeit hervorgebracht hat; eine Zeit, die immer weiter in die Ferne rückt, doch die einem gerade in diesen Tagen gesellschaftlicher und politischer Umbrüche immer wieder überraschend nah erscheint.

Rückeroberung

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