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Das Ende in Borken

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Manfreds Eltern befinden sich im Sommer 1939 immer noch in Borken. Alle drei Kinder sind bereits im sicheren Ausland. Nun warnt sie ein Vertrauter aus der Stadtverwaltung, dass auch sie dringend das Land verlassen sollten. Sie brechen sofort auf. Am 26. August 1939, abends um 8 Uhr, erreichen Moritz und Else Gans den Grenzübergang Kotten unweit von Borken. Eine kleine Landstraße führt hier in die Niederlande. Schwer bepackt mit elf Koffern und ein paar Kleinigkeiten stehen sie vor dem Zollinspektor. Moritz gibt an, dass sie bloß für zwei Wochen ins Land wollten, um ihre Kinder dort zu treffen. Der Zöllner ist skeptisch, will aber kurz vor Dienstwechsel die Koffer nicht mehr einzeln überprüfen. Er begutachtet das Gepäck nur oberflächlich und winkt die beiden durch. Die Ausreise gelingt im letzten Augenblick. Fünf Tage später überfällt Deutschland Polen. Moritz und Else sind da bereits in Zandvoort, an der holländischen Küste. Im Radio hören sie die Nachrichten vom Kriegsbeginn. Zwei Tage darauf erklärt die Regierung in London Hitler den Krieg. Damit verfällt das Visum von Moritz und Else für England, das sie bereits vor Monaten erwirkt hatten. Es gelingt ihnen gerade noch, Elses Mutter nachzuholen. Dann sind die Grenzen geschlossen. Sie stellen sich auf einen längeren Aufenthalt ein und planen zugleich die nächsten Schritte. Da die Ausreise nach England nicht möglich ist, soll es nach Kenia gehen.

Schon Ende der dreißiger Jahre, als der Zuzug jüdischer Flüchtlinge in Großbritannien immer größer wurde, kursierten Pläne in der britischen Regierung, einen Teil von ihnen in die vergleichsweise »menschenleere« Kronkolonie zu verlegen. Kenia scheint den Politikern dafür besonders geeignet. Die Deutschen sollten dort als Farmmanager der britischen Großgrundbesitzer eingesetzt werden. Gut 600 Flüchtlinge gelangen in den dreißiger Jahren schließlich nach Kenia. Auch Elses Schwester Erna und ihr Schwager Alex Moch sind gerade dort eingetroffen. Die Einreise ist allerdings teuer. Als Moritz die Papiere für Kenia bei der Botschaft in Amsterdam abholen will, erklärt ihm der Konsul, dass er das Visum nur erteilen könne, wenn jemand eine Bürgschaft von 2500 Pfund in Nairobi hinterlege, das entspricht dem Mehrfachen eines Jahreseinkommens eines Arbeiters in England jener Zeit.

»Vater, ich versuche alles, dir die Bürgschaft zu besorgen«, wird Manfred dem Vater dazu schreiben. Er selbst hat sich inzwischen gut in Manchester eingelebt. In der Fabrik verdient er nun sein eigenes Geld und kann sich selbst versorgen. Nach der Schicht geht er zur Abendschule. Im April 1940 gelingt ihm dann im zweiten Anlauf auch die Matric, der Schulabschluss. Doch obwohl er nun einen Job hat, reicht sein Einkommen bei weitem nicht, um die Bürgschaft für die Eltern in Kenia zu hinterlegen. Damit rückt Kenia für Moritz und Else wieder in weite Ferne. Und kurz nachdem die Eltern die Nachricht von Manfreds bestandenem Abschluss erreicht, bricht auch der Kontakt zu ihrem Sohn ab.

Am 9. Mai bekommt Moritz Gans ein Telegramm, dass nun endlich Auslandsvisa bereitliegen würden. Sein Schwager Justus Schloss in Tel Aviv hat ihnen eine Einreisegenehmigung nach Palästina besorgt. Moritz will gleich nach den Pfingsttagen nach Den Haag fahren und alles Nötige in die Wege leiten. Doch wieder kommt es anders. In den Morgenstunden des 10. Mai 1940 ertönt das dumpfe Dröhnen deutscher Kampfgeschwader über dem gesamten Gebiet der Niederlande. Ohne offiziell den Krieg zu erklären, überfällt die deutsche Wehrmacht das Nachbarland. Hitlers Westfeldzug beginnt. Moritz und Else sitzen den ganzen Tag am Radio. Die Ereignisse überstürzen sich. Der hochgerüsteten deutschen Armee können die niederländischen Streitkräfte kaum etwas entgegensetzen. Anfangs hoffen die meisten im Land noch, dass die Engländer ihnen zu Hilfe eilen und die Deutschen aus dem Land jagen werden. Die Hoffnung verpufft jedoch schnell. Die deutschen Truppen, so sieht es aus, würden Zandvoort schon in wenigen Tagen erreicht haben. Vorsorglich packen Moritz und Else wieder einmal ihre Koffer. Doch es ist zu spät. Für die beiden gibt es keine Chance mehr zu fliehen. Im Gegenteil: Alle deutschen Männer in der Region werden interniert. Seit dem Überfall der Deutschen gilt Moritz in den Niederlanden als Angehöriger der Feindesnation. Gemeinsam mit 300 Mitgefangenen wird er in der ausgedienten Autowerkstatt einer Kaserne bei Haarlem eingesperrt. Die Behandlung der Gefangenen ist gut. Angesichts des schnellen Vormarsches der Wehrmacht ordnet der Lagerkommandant an, die deutschen Juden nach wenigen Tagen wieder aus der Haft zu entlassen, bevor die Deutschen sich ihrer bemächtigen. Moritz ist frei – bleibt aber in Gefahr. In sein Tagebuch notiert er:

»Was nun? – Sollen wir versuchen, mit einem Fischerboot England zu erreichen? Aber Mutter? – Wir brauchen nicht viel zu sprechen, wir verstehen uns auch so. Nein, wir wollen diesen wahrscheinlich vergeblichen Versuch nicht machen. Die Kinder sind in Sicherheit und wir werden schon sehen, auch dieses Schicksal zu meistern.«[23]

Moritz zahlt dem Polizisten Jan Willem Smouter, einem einflussreichen Mann in Zandvoort, 1000 Gulden, damit er ihm neue Pässe besorgt, in denen kein »J«, also kein Hinweis auf ihre jüdische Identität, vermerkt ist. Sie müssen vorsichtig bleiben und meiden die Öffentlichkeit, können mit diesen Pässen aber noch eine Weile unbehelligt in Zandvoort leben und – noch wichtiger – gewiss sein, dass sie ausreichend Wasser zwischen Hitler und ihre Söhne gebracht haben. Einige Zeit später, im Frühjahr 1942, schreibt Moritz:

»Als ich heute Morgen wach im Bett lag und über unsere augenblickliche Lage nachdachte, waren es immer wieder zwei Gedanken, die mich beschäftigten. Drei Jahre sind es in diesen Tagen, dass wir den letzten persönlichen Kontakt mit unseren beiden jüngsten Jungens hatten, zweieinhalb Jahre, seitdem unser ältester Junge uns hier in unserem unfreiwilligen Asyl besuchte. Als Kind musste der jüngste uns verlassen, als halbfertige Menschen die beiden anderen. Als die drei noch im Elternhaus unter unserer Leitung waren, haben wir alles getan, sie durch persönliches Vorleben zu guten, brauchbaren Menschen zu machen und ihnen Lehrer und Lehre gegeben, die sie befähigen, das Leben zu sehen und zu meistern, wie wir es trotz täglicher neuer Sorge in den langen Jahren unserer harmonischen Ehe gemeistert haben. Das uns aufgezwungene Judenschicksal hat uns getrennt. Unsere einzige Hoffnung, für die wir hier leben und weiterkämpfen, ist, dass wir einmal wieder mit unseren drei Jungens vereint werden.«[24]

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