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Besuch aus Berlin

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Leo Lamm ist ein Bekannter von Moritz Gans. Beide haben gemeinsam in Frankfurt am Main eine kaufmännische Ausbildung durchlaufen. Auch als Moritz zurück nach Borken geht und Leo einen Betrieb in Berlin aufbaut, bleiben sie in engem Austausch.

Als Manfred vom Besuch der Lamms erfährt, wird er sich aber wohl weniger auf Leo und Margarete Lamm als vielmehr auf deren Tochter Anita gefreut haben.

Anita ist ein Berliner Mädchen, wie sie später immer wieder betonen wird. Sie ist ein Jahr jünger als Manfred. Ihr Vater Leo führt, ähnlich wie Moritz Gans, einen Textilgroßhandel mit dem eleganten Namen »Spitzen & Neuheiten«, prominent gelegen in der Berliner Friedrichstraße. Er ist von Modeschau zu Modeschau durch ganz Europa gereist. Die Mutter Margarete (Gretel) ist ausgebildete Pianistin. Ihre Welt ist die pulsierende Berliner Kulturszene der Goldenen Zwanziger. Auch die junge Anita und ihre ältere Schwester Lilo genießen das Großstadtleben. Lilo erinnert sich später, wie Anita und sie Anfang der dreißiger Jahre über den Kurfürstendamm flanierten, wie an jeder Ecke Wörter aus den unterschiedlichsten Sprachen schwirrten. Die beiden Schwestern beschließen, sich mindestens ebenso weltgewandt zu geben wie die Leute um sie herum. Weil sie jedoch noch keine Fremdsprache beherrschen, erfinden sie einen bunten »Mischmasch« aus fremd klingenden Kunstwörtern und exotisch anmutenden Akzenten. Groß gestikulierend ziehen sie an den Cafés, Kinos und Theatern vorbei, in der festen Hoffnung, für weitgereiste Damen aus Russland, Frankreich oder Italien gehalten zu werden. Von diesem kosmopolitischen Geist sind die beiden Schwestern umgeben – bis die Nationalsozialisten auch ihre Lebenswelt zersetzen.


© Leo Baeck Institute, New York

Anita in Berlin, circa 1937

Unter dem Eindruck der NS-Herrschaft werden im Hause Lamm, wie auch bei Familie Gans, bereits seit einiger Zeit Auswanderungspläne geschmiedet. Für Leo und Gretel Lamm ist klar: Sie wollen in die USA. Doch die Vereinigten Staaten begrenzen den Zuzug von Immigranten immer mehr. Bei einer Konferenz in Évian-les-Bains am Genfer See im Juli 1938 beraten Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Das Ergebnis ist ernüchternd. Mit Ausnahme der Dominikanischen Republik weigern sich alle Staaten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Die USA schreiben eine Obergrenze für Einwanderer aus Deutschland und Österreich fest. Nur noch knapp 30000 Flüchtlinge pro Jahr dürfen einreisen. Vor den Konsulaten in Berlin und Wien bilden sich lange Schlangen. Die Wartezeit auf ein Visum beträgt im Sommer 1938 bereits mehrere Monate. Ohnehin dürfen nur noch diejenigen einreisen, die sicherstellen können, dass sie dem amerikanischen Staat nicht zur Last fallen werden. Für ihren Weg in die Neue Welt benötigt Familie Lamm daher ein sogenanntes Affidavit, eine Bürgschaftserklärung, in der ihnen ein Bewohner in den USA garantiert, für ihren Unterhalt aufzukommen. Sie setzen all ihre Hoffnung in Herbert Piek, einen Cousin von Anitas Mutter, der in New York lebt und dort einen erfolgreichen Geschirr- und Porzellanhandel führt, somit also über die nötigen finanziellen Kapazitäten für das begehrte Affidavit verfügt. Ein reger Briefverkehr zwischen Berlin und New York setzt ein, und die Bitten haben schließlich Erfolg. Herbert Piek verbürgt sich beim amerikanischen Generalkonsul in Berlin, um Familie Lamm den Weg in die USA zu ermöglichen. Moritz Gans wiederum nutzt seine Kontakte, um für die befreundete Familie eine Schiffspassage zu organisieren. Im Juli 1938 ist es dann so weit. Mit gepackten Koffern verlassen Anita und ihre Eltern Berlin. Ihre Schwester Lilo war schon zuvor in die USA aufgebrochen. Die Abfahrt ist geprägt von gegensätzlichen Gefühlen. In den Schmerz über den Abschied mischt sich die Hoffnung auf ein unbescholtenes Leben. Ihr Schiff wird im französischen Hafen Le Havre ablegen. Auf halber Strecke dorthin liegt die Kleinstadt Borken.

Als Manfred und Anita sich im Juli 1938 in Borken begegnen, ist es für sie ein freudiges Wiedersehen. Die beiden haben bereits mehrere Sommer gemeinsam auf einem Gutshof in dem kleinen Örtchen Neuendorf verbracht, knapp 100 Kilometer östlich von Berlin gelegen. Dort befindet sich seit Anfang der dreißiger Jahre eine Ausbildungsstätte für jüdische Mädchen und Jungen. Das sogenannte Landwerk Neuendorf ist eines der größten Lager der Hachschara-Bewegung (zu Deutsch: Tauglichmachung), die in dieser Zeit zahlreich im ganzen Land entstehen. Ziel der Hachschara war es, jüdische Mädchen und Jungen beruflich wie kulturell auf ihre Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Denn wegen der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung im NS-Staat waren die jüdischen Jugendlichen auch um ihre Berufsperspektiven gebracht. Vor diesem Hintergrund reagierten jüdische Organisationen mit dem Aufbau beruflicher Ausbildungsstätten, darunter vor allem Landwirtschaftsschulen, die dazu beitragen sollten, einen Weg nach Palästina zu ebnen. Seit Januar 1933 wurde das Landwerk Neuendorf von Alexander Moch geleitet, der nicht nur Manfreds Onkel war, sondern auch ein Bekannter der Familie Lamm. Zwar durchliefen weder Manfred und seine Brüder noch Anita und ihre Schwester dort eine Ausbildung, denn dafür waren sie noch zu jung, doch sie verbrachten regelmäßig ihre Sommerferien in Neuendorf und lernten sich so besser kennen. Erst wenige Wochen vor dem Besuch der Familie Lamm hatten Manfred und Anita sich in Neuendorf getroffen. Dort waren sie stets umringt von vielen Gleichaltrigen. Nun, in Borken, sind die beiden weitestgehend unter sich, streifen durch die umliegenden Felder und Wälder. Ein Foto aus diesen Tagen zeigt Manfred und Anita auf dem Auto der Familie sitzend. Lachend und unbeschwert schauen sie in die Kamera. Abseits der Kamera, oben auf dem Dachboden im Hause Gans, werden Manfred und Anita sich kurze Zeit später zum ersten Mal küssen. Es sind nur vier Tage, die sie gemeinsam verbringen – lang genug, dass die beiden sich hoffnungslos ineinander verliebt haben. Ihr Glück währt jedoch nicht lange. Familie Lamm muss weiter: Über Brüssel und Paris geht es nach Le Havre auf die NORMANDIE, den elegantesten, luxuriösesten und schnellsten Ozeandampfer seiner Zeit. Schon am 11. Juli 1938 erblicken Anita und ihre Eltern staunend die Skyline von New York am Horizont. In Borken sitzt Manfred und beginnt Anita zu schreiben.

»Was waren auf dem Schiff für Menschen? Du wirst wohl Gelegenheit gehabt haben, Dich zu amüsieren! […] Siehst und fühlst Du viel Neues? Das ist eine etwas putzige Frage, aber ich kann das nicht anders ausdrücken! Du wirst schon wissen, was ich meine. Sieh Dir nur möglichst viel allein an. Dann sieht man meistens die Dinge so, wie sie sind; sonst guckt man doch nur durch die Augen der anderen. Das gilt nicht für Sehenswürdigkeiten, sondern für lebenswichtige Dinge, z.B. Armenviertel, Geschäftshäuser etc.«[4]

Bereits einige Tage nach der Abfahrt von Familie Lamm beginnt Manfred mit den eigenen Reisevorbereitungen. Nach Karl ist nun er an der Reihe. Die Eltern sagen, es sei nur für den Sommer. In England soll er Englisch lernen, da er im Herbst auf ein jüdisches Internat bei Berlin gehen werde und dort gute Englischkenntnisse gefordert seien. Manfred ist nicht enttäuscht über die Nachricht. Im Gegenteil: Er kann es kaum erwarten. In London – so hofft er – könne er wieder durch die Straßen ziehen und mit jedem sprechen. Niemand dort würde ihm das verbieten, bloß weil er Jude ist.

Rückeroberung

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