Читать книгу HIMMELSKRIEGER - Daniel León - Страница 14
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Sechshundert Kilometer von Berlin entfernt erwachte Esther in einem Krankenzimmer. Allerdings war die Nervenheilanstalt Haar bei München, oder das ›Irrenhaus Haar‹, wie es bei den Einheimischen genannt wurde, ein nicht ganz so ruhiger Ort.
Ein Schreien und Rufen, Toben und Poltern von geisteskranken Patienten, die zwar im Nebentrakt untergebracht waren, was ihren lautstarken Ärger aber nicht wirklich einzudämmen vermochte, erreichte ihr Zimmer. Zum Glück war es ein Einzelzimmer, und sie bekam nicht ganz so viel von diesen Geräuschen mit. Auch, weil sie unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel in ihrem Bett lag. Doch langsam erreichte der Lärm auch ihr Gehirn.
Sie wollte aufstehen, um der Ursache der Geräusche auf den Grund zu gehen, doch seitlich waren die Bettgitter hochgezogen.
Das war ein eindeutiges Ärgernis für sie, und kurz entschlossen drückte sie den roten Klingelknopf mit dem Schwesternsymbol an der mobilen Tastatur ihres Bettes.
»Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, protestierte sie mit schwacher Stimme, während sie mit demonstrativen und ungelenken Bewegungen am metallenen Gitter rüttelte.
Bald darauf ertönte eine gebieterische Stimme aus der Nähe des Türrahmens, und diese verkündete in unerschütterlichem Gleichmut das Urteil:
»Das ist lediglich zu ihrem Besten. Wir haben ihnen starke Beruhigungsmittel verabreichen müssen, und sie neigen in nicht geringem Ausmaß zu autoaggressiven Handlungen. Abgesehen davon können sie durch das Medikament ihren Körper nicht mehr kontrollieren. Es ist drei Uhr nachts, schlafen sie jetzt.«
Esther erkannte augenblicklich, dass sie verloren hatte, und schlief wieder ein, dem grauen Nebel des Vergessens entgegen.
Als sie die Augen aufschlug, strahlte die Morgensonne in das Zimmer, und ihre Mutter saß auf der Bettkante.
»Guten Morgen, mein Schatz« flötete sie, während sie einen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter drückte.
»Ich habe dich vermisst, und Bruno ebenso. Er durfte leider nicht mitkommen.«
Bruno war Esthers ganzer Stolz, ein schöner, eleganter Husky mit blauen, durchdringenden Augen, und seidenweichem, leicht gewellten Fell.
»Du machst aber auch Sachen«, stellte ihre Mutter kopfschüttelnd, im Tonfall gespielter Besorgnis fest.
»In die Kirche zu gehen, und dort einen akuten Nervenzusammenbruch erleiden! Ein Rettungswagen musste kommen! Kein Wunder, dass so etwas gerade dort passiert. Wo auch sonst …«
»Das hat nichts mit den angeblichen Sektierern zu tun«, unterbrach sie Esther ungewöhnlich heftig, »das sind ganz normale Menschen so wie du und ich, warum hackst du nur andauernd auf ihnen herum?«
Erstaunt sah die 53-jährige Frau Esther an. Anscheinend hatte sie dieses leidenschaftliche Plädoyer ihrer Tochter so nicht erwartet.
»Aber Esther, Kind, warum setzt du dich denn so für diese Welterklärer ein, die glauben doch alle, dass wir Juden diesen Jesus von Nazareth ans Kreuz nageln ließen!«, entgegnete ihre Mutter in tadelndem Tonfall. »Außerdem meinen sie, ihr Glaube wäre der jüdischen Religion überlegen!«
Esther schwieg betroffen. Nun, zumindest Ersteres stimmte zweifellos, dass glaubten alle Christen, aber warum nur hatte sie dann diesen Frieden gespürt, warum hatte ihre Seele Ruhe gefunden – bei Judenhassern – in der kleinen Kirche?
Nachdem ihre Mutter gegangen war, musste sie noch lange über diese Frage nachdenken. Sie musste eine Antwort erhalten, irgend etwas Bedeutsames hing damit zusammen. Was genau das war, wusste sie auch nicht. Denn eigentlich wollte sie gar nicht darüber nachdenken, es machte ihr Angst, es würde sie vielleicht erschüttern und nur unnötig aufregen. Und doch wartete etwas in ihr auf die Antwort, wartete voller Geduld und – Hoffnung!
Plötzlich hing da ein zusammenhangloser Satz in der Leere ihrer Gedanken:
Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben.
Sie versuchte, ihn zu verscheuchen, doch er war noch immer da.
Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben.
Wie ein Schwert hing der Satz über ihr, kroch in ihre Seele, wie ein totgeglaubter Schatten, den sie doch längst vertrieben hatte. Und nur, weil sie keine Kraft mehr hatte, ließ sie zu, dass der Schatten zu einer Erinnerung wurde.
Du hast mich allein gelassen, darum kannst du mich nicht lieben, das hatte sie vor fünf Jahren gedacht, als sie in einem Flugzeug nach Russland saß. So lange hatte sie ihn wiederholt, bis sie daran glaubte.
Dann verließ sie den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte.
Doch das erkannte sie erst jetzt.
Kurz darauf, nach mehreren Nervenzusammenbrüchen wurde bei ihr eine »dissoziative Persönlichkeitsstörung mit einem generalisierten Angstsyndrom« diagnostiziert:
»Ihre Psyche hat das fatale System entwickelt, sich bei übergroßem emotionalen Druck – quasi als Ventil – in Parallelwelten zu flüchten. Das sind heile Welten, die eine scheinbare Sicherheit vermitteln, die aber vor allem eines kennzeichnet: die Verleugnung der Realität. Das ist ein verständlicher, aber höchst problematischer Verteidigungsmechanismus ihrer Seele.«
Das hatte der behandelnde Psychiater ihr erklärt.
Sie bekam verschiedenste Psychopharmaka, die sie aber nur ruhig stellten, und oftmals in einem durchaus angenehmen Dämmerzustand gefangen hielten. Die einen waren stärker, und dämpften jedes Gefühl, die anderen waren schwächer, und sie musste dauernd weinen.
Begleitend hatte sie einmal in der Woche eine therapeutische Sitzung bei ihrem Psychiater.
Nur, wie sie der Hölle ihrer eigenen Gedanken entfliehen konnte, das hatte er ihr bis heute nicht erklären können. Mit dieser Erinnerung schlief sie erneut ein.