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Hauptkommissar Becker schritt nervös den langen Gang des Unfallkrankenhauses in Berlin-Marzahn auf und ab. Er war sechzig Jahre alt, dafür noch ungewöhnlich athletisch, und wollte seine Dienstzeit ruhig, und ohne große Aufregung beenden. Fünfunddreißig Jahre war er jetzt bei der Polizei. Achtzehn Jahre bei der Volkspolizei in Ost-Berlin, siebzehn Jahre bei der Kriminalpolizei der wiedervereinten Stadt.

Und vor zehn Jahren war er vom Polizeipräsidenten zum Leiter der Abteilung für Staatsschutz ernannt worden, zu deren Aufgaben hauptsächlich die Verhinderung und Prävention ›politisch motivierter Kriminalität‹, sprich Terrorismus und Extremismus gehörte.

Er hatte Glück gehabt, dass er damals von den westlichen Behörden übernommen wurde, das war nicht selbstverständlich. Aber er war ein fähiger Beamter, er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, er war nie bei der Stasi gewesen – obwohl die versucht hatten, ihn anzuwerben. Eine Akte über ihn gab es, das wusste er.

Denn insgeheim – und in feuchtfröhlicher Runde hier und da auch etwas öffentlicher - hatte er die sozialistischen Ideale des Politbüros immer verachtet. Diese Parteifunktionäre sonnten sich doch nur in ihrem eigenen Glanz, und hielten das ›Proletariat‹ in einer ideologisch verbrämten Unmündigkeit gefangen, um sie besser ausweiden zu können. So einfach war das. Religion, und in diesem Fall war es eben Sozialismus, ist tatsächlich Opium für das Volk, dachte er grimmig.

Und nun das. Dieser Journalist Dennis Meyer, auf den zweifellos ein brutales Attentat verübt worden war, und der unter normalen Umständen nach diesem Schuss tot sein sollte. Aber was war schon normal in dieser Stadt, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus. Es roch alles zu sehr nach Terrorismus, denn sie hatten ein Bekennerschreiben erhalten, und deswegen musste er, Becker, diesen Fall übernehmen. Und dieses Schreiben war keine Fälschung, das hatten die Experten zweifelsfrei festgestellt.

ArmDesJihad, kurz A.D.J, so nannten sich diese Leute.

Diese Gruppierung war es, wovor er sich fürchtete. Erstens konnte es für ihn persönlich oder seine Familie gefährlich werden – er kannte Kollegen, die auf diesem Gebiet tätig gewesen waren – und zweitens konnte er hier nur schwer einen schnellen Erfolg präsentieren – das spürte er.

»Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste«, brummte er in seinen Bart.

»Sie können jetzt zu ihm, aber bitte nicht länger als dreißig Minuten, er ist noch sehr schwach«, unterbrach eine Krankenschwester seinen Gedankenfluss.

Becker klopfte an die Tür, dann trat er ein. Er stellte sich kurz vor, zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich.

»Herr Meyer, ich habe einige Fragen an sie. Ich bitte sie, obwohl sie hier nicht unter Eid stehen, auf alle Fragen ehrlich zu antworten«, – er zögerte etwas, »das könnte wichtig für sie sein. Denn nach unseren Erkenntnissen stehen sie aus uns noch unbekannten Gründen im Fadenkreuz einer vermutlich islamistischen Gruppierung.«

Der junge Mann im Bett zuckte zusammen.

»Das hier wurde uns mit dem Bekennerschreiben vor einigen Tagen zugesandt.«

Becker holte ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche, und hielt es so, dass Dennis die Übersetzung lesen konnte:

Tötet die zionistischen Schweine. Tötet alle Judenfreunde. Tötet alle Lügenpropheten. Tötet alle Medienverbrecher, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen.

Alluha akbar!

ArmDesJihad

– A.D.J –

Der junge Mann schluckte krampfhaft. Er starrte eine Weile auf das Blatt Papier, als versuche er, es durch Gedanken in Luft aufzulösen. Eine Minute war alles still. Becker betrachtete ihn voller Mitgefühl. Er hatte auch einen Sohn, etwa in gleichem Alter.

Der Terror hat Berlin erreicht, dachte er müde.

»Herr Meyer, haben sie eine Ahnung, warum jemand sie, – ich bitte um Verzeihung – einen unbekannten Journalisten umbringen möchte? Haben sie etwas in ihrer Vergangenheit getan, was den Zorn dieser Leute erregen konnte? Sind sie Mitglied einer israelfreundlichen Vereinigung? Verteilen sie Flugblätter? Sind sie Aktivist bei projüdischen Demonstrationen?«

Der Journalist überlegte:

»Nein« sagte er. »Ich habe nur einmal, vor drei oder vier Jahren eine Kommentarreihe zur Siedlungspolitik der israelischen Regierung in einer bayerischen Lokalzeitung veröffentlicht. Wissen sie, ich bin wirklich ein … kleiner Journalist, um genau zu sein, ich habe schon seit längerem keinen festen Vertrag mehr, ich, ich arbeite auf eigene Faust, und komme gerade so über die Runden.«

Er bekam einen roten Kopf.

»Warum sollte ich also das Ziel einer islamistischen Terrorzelle sein? Das ist doch lächerlich!«

Es schien Becker, als wolle der junge Mann noch mehr sagen, und er sah ihn durchdringend an.

»Das war alles«, stieß Dennis hervor.

Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Anscheinend hatte die Schwester die laute Stimme gehört, denn sie steckte den Kopf herein, und bedeutete ihm energisch, zu gehen.

Widerwillig erhob er sich, und streckte Dennis seine Hand entgegen.

»Auf Wiedersehen und gute Besserung. Wenn ihnen irgendetwas einfällt, was Licht ins Dunkel bringen könnte, rufen sie mich umgehend an.«

Er reichte Dennis seine Karte.

»Wir werden fürs erste einen Personenschutz für sie abstellen. Das heißt konkret, zwei Beamte in zivil werden sie rund um die Uhr bewachen. Natürlich für niemanden erkennbar.«

Er reichte Dennis die Hand. Dann blickte er ihn freundlich an.

Wenigstens ist dieser Junge intelligent, dachte er.

***

In dieser Nacht wälzte sich Dennis unruhig hin und her. Er träumte von hinterhältigen Polizisten, männerhassenden Krankenschwestern und mordlüsternen Terroristen. Doch dann stand Dor am Fußende des Bettes. Er blickte ihn an, mit lichtdurchfluteten Augen.


Plötzlich befand er sich in einem Hörsaal der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Es war im Frühjahr 1988, und er hatte gerade angefangen, zu studieren. Im Rahmen seines Studienganges ›politischer Journalismus‹ hatte er Kurse in moderner Zeitgeschichte, insbesondere über die Krisenregion des Nahen Ostens zu besuchen.

Nirgendwo auf der Welt gab es mehr Korrespondenten auf so engem Raum, und kaum eine Stadt wurde in den Zeitungen der Welt so häufig erwähnt, wie Jerusalem.

Der Professor, der dort unten stand, gestikulierte heute besonders energisch. Er war ein leidenschaftlicher Mann, und Dennis mochte ihn. Er schätzte seine menschliche Integrität, politische Akteure von allen Seiten zu beleuchten, ihre geschichtlich und kulturell bedingten Beweggründe herauszuarbeiten, um sie erst dann zu beurteilen. Ebenso wie sein Bemühen, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Denn, und das war eine seiner pointierten Aussagen:

»Die Wahrheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters.«

In wessen Augen sie denn sonst liegen sollte, war Dennis zwar nicht klar, aber das kümmerte ihn nicht weiter.

Seine Vorlesungen waren stets gut besucht, und politische Hasardeure, junge Idealisten, sowie träumende Weltverbesserer lieferten sich jedes mal heftige Wortgefechte nach dem Ende der Veranstaltung. Man konnte zwar nicht immer einer Meinung mit ihm sein, aber dieser Mann war doch ein brillanter Wissenschaftler, und seine Analysen des politischen Geschehens im Nahen Osten waren messerscharf und stets treffend. Gerade deswegen waren sie auch – wie sollte es anders sein – polarisierend.

Er war eben ›political incorrect.‹ Und so hatte er glühende Verehrer wie auch leidenschaftliche Gegner. Etwas dazwischen gab es nicht. Gelegentlich stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass dieser drahtige Professor, mit dem fast schon prophetischen Blick, politische und gesellschaftliche Entwicklungen skizziert hatte, die dann tatsächlich so eintrafen.

Dennis fragte sich gerade, warum diese Dinge in seiner Erinnerung so eigenartig lebendig waren, als er etwas wahrnahm, was ihm damals – in der realen Welt, wie er durchaus registrierte – wohl entgangen war.

Denn plötzlich sah er einzelne ernste, ja grimmige Gesichter unter den Zuhörern. Diese lachten bei keiner einzigen der Pointen, die der Mann dort unten in der ihm eigenen fulminanten Rhetorik zum Besten gab. Nach der Vorlesung hörte er zwei dieser arabisch aussehenden Studenten erregt miteinander diskutieren:

»Er ist bestimmt vom Mossad. Wusstest du, das er ein dreckiger Jude ist? Einer, der Hitler entwischte. Die Zionisten haben ihn zurückgeschickt, um Hass auf die islamische Nation zu schüren!«

»Doch Allah ist groß, er wird ihn zertreten«, warf der andere ein.

»Aber er braucht uns Gläubige als Werkzeuge, wir werden das Haus des Islam auf Erden aufrichten. Und dieser Jude muss vom Mossad sein, wie sonst sollte er wissen, wie unsere Regierungen agieren, wie sonst sollte er die höhere Strategie des Jihad erkennen?«

»Was sollen wir unternehmen?«, fragte sein Gesprächspartner.

»Weiter observieren – und die Bruderschaft informieren!«

Gleißendes Licht erfüllte den Raum um ihn.

Dann befand er sich in einem wesentlich kleineren Zimmer.

Auch jetzt wusste er, wo er sich befand. Denn nur einen Monat nach dieser Vorlesung war er in das Büro des beliebten Dozenten gerufen worden. Nun erlebte er alles noch einmal – auf beunruhigende Weise realer, als es damals war. Er sah sich selbst das Büro betreten, dann war er ganz in der Vergangenheit:

»Herr Meyer. Willkommen in meiner bescheidenen Ersatzwohnung.«

Der Professor kam mit liebenswürdiger Geste auf ihn zu, und schüttelte seine Hand.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte er, während er auf zwei elegante Ledersessel zeigte, die in der linken Ecke des Büros standen.

Überrascht sah Dennis, dass ein eingerahmtes Foto von David Ben-Gurion – war der nicht Zionist gewesen? –, dem ersten israelischen Ministerpräsidenten, an der Wand über dem Schreibtisch hing. Eine schlichte, aber elegante Menora, stand in einer Glasvitrine rechts neben dem überquellenden Bücherregal.

»Junger Mann«, begann der Professor, »sie fragen sich bestimmt, warum ich alter Mann, sie hierher bestellt habe. Nun, um ehrlich zu sein, ich kann es selbst nicht genau sagen. Das muss ihnen merkwürdig vorkommen, nicht wahr? Dennis, sie sind einer meiner besten Studenten. Das wollte ich ihnen ausdrücklich sagen. Vielleicht nicht in den Klausuren, es gibt Kandidaten, die erreichen höhere Punktzahlen, aber sie, sie sind wirklich interessiert, und stellen die richtigen Fragen an der richtigen Stelle. Das ist sehr wichtig.«

Der Professor machte eine Pause, als wolle er die Wirkung seiner Worte abzuschätzen. Dennis schwieg verlegen. Noch nie hatte ihm jemand, geschweige denn ein Dozent etwas Derartiges über seine Leistungen gesagt. Dieser Mann war ungewöhnlich, das erkannte er ganz klar.

»Dennis, ich schätze ihre Suche nach Wahrheit außerordentlich.« Er blickte ihn fest an.

»Denn es gibt eine Wahrheit. Es gibt zu allen wichtigen Dingen ein Richtig oder Falsch, und es ist von größter Bedeutung, dies zu unterscheiden. Dennis, behalten sie ihren Weg bei, denn gerade Journalisten – das sind im wörtlichen Sinne Berichterstatter –, stehen sehr in der Gefahr, ihre objektive Sicht preiszugeben, um sich dem Druck der öffentlichen Meinung zu beugen. Ich kenne keinen, keinen einzigen Journalisten, der in diesem Punkt wirklich eine reine Weste hätte. Deshalb ist es wichtig, dass sie ihrem Herzen folgen. Denn der allmächtige Schöpfer hat es für die Wahrheit erschaffen.«

»Welcher Schöpfer?« fragte Dennis unwillkürlich.

»Das kann ich auch nicht sagen, ich bin kein religiöser Jude, für mich ist Gott wahrscheinlich so wenig existent wie für sie, aber wenn es ihn gäbe, nun, dann wäre er vermutlich außerordentlich an Wahrheit und Gerechtigkeit interessiert. Nur eines kann ich dazu sagen:

Ich bin als neunjähriger Junge der Hölle der Konzentrationslager entkommen. Meine Mutter haben sie dort ermordet. Mein Vater war deutscher Soldat, und hatte sie kurz nach meiner Geburt verlassen. 19 haben mich die Amerikaner gerettet. Warum wurde gerade ich gerettet? Warum ich? War das ein grausamer Zufall? Oder vielleicht Vorhersehung? Dennis, ich habe es noch nicht herausgefunden!«

Dennis musste seine Tränen unterdrücken. Noch nie hatte ihn jemand so sehr ermutigt, und noch niemals hatte ein fremder Mensch ihm auf diese Weise sein Herz offenbart.

Plötzlich empfand er großes Mitgefühl für diesen Mann, der so viel erduldet hatte, und trotzdem – vielleicht gerade deswegen – ein so charakterstarker und brillanter Wissenschaftler, der mehrere bahnbrechende Fachbücher veröffentlicht hatte, geworden war. Dieser Mann hatte Mut.

Viele reden davon, dachte Dennis, während er beschämt zu Boden blickte, dieser hier hatte über ein Leben triumphiert, das eigentlich auf Tod programmiert gewesen war.

»Vielen Dank, Herr Professor Stein«, sagte er, während er entschlossen aufstand, um sich zu verabschieden.

»Ich habe ihre kostbare Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Sie haben mich mit dem, was sie sagten, sehr ermutigt, mehr als sie ahnen.«

»Setzen sie sich, Dennis. Da ist noch etwas«, und zum ersten Mal, seit er ihn kannte, bemerkte er, dass es ihm schwer fiel zu reden.

»Meine Frau möchte sich von mir scheiden lassen. Ich möchte diese Ehe aber unbedingt retten. Vor allem wegen meiner zehnjährigen Tochter! «

Beinahe flehend blickte er ihn an.

»Ihr Vater, nun, ihr Vater ist doch, soviel ich weiß, ein namhafter Psychotherapeut mit Schwerpunkt auf Paartherapie, könnten Sie mal fragen … ob wir einen kurzfristigen Termin bekommen könnten?«

»Selbstverständlich, Herr Professor. Ich werde ihn noch heute fragen. Und ich gebe ihnen mein Ehrenwort, dass ich niemals über das, was sie gerade erwähnt haben, mit anderen reden werde.«

Der Professor nickte kaum merklich.

»Vielen Dank, Dennis. Und Auf Wiedersehen.«

Als Dennis das Büro verlassen hatte, überkam ihn das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung. Doch er verbannte diese Gefühle entschieden aus seinem Kopf.

Das war etwas Irrationales von früher, heute betrachtete er die Welt so, wie sie war. Dann dachte er noch, dass der Professor sehr verzweifelt sein müsse, wenn er einem Studenten etwas so Persönliches anvertraute.

Trotz dieses Traumes erwachte er ausgeruht.

Er war nun zwei Wochen im Krankenhaus, und die Kollegen des Hauptkommissars hatten ihm die wichtigsten Dinge aus seiner Wohnung mitgebracht. Das Frühstück aß er heute mit Appetit, die Sonne schien ins Fenster, im Fernsehen sah er gerade NTV, und es versprach, ein recht angenehmer Tag zu werden.

Es klopfte an der Tür. Noch bevor Dennis etwas sagen konnte, stürmte Becker herein.

»Guten Morgen, Dennis«, rief er, »ich habe Neuigkeiten für sie, was die Hintergründe des Anschlages betrifft!«

Dennis schaltete den Fernseher aus.

»Das Projektil, dass ihnen herausoperiert wurde, ist untersucht worden, und die Ergebnisse liegen jetzt vor. Es stammt aus einem Präzisionsgewehr, dass nur Profis bedienen können. Denn auf diese Entfernung, es waren immerhin 200 m, dass konnten wir fehlerfrei durch die Verformung der Kugel errechnen, genau zu treffen – und vergessen Sie nicht, sie müssten eigentlich tot sein –, ist mehr als schwierig!

Vergessen sie auch nicht die Glasscheibe, die als spiegelndes und verformendes Hindernis überwunden werden musste. Diese Umstände lassen uns vermuten, dass wir es mit einem gedungenen Mörder zu tun haben. Ein Auftragskiller.

Durch die Errechnung der Schussentfernung, und des Winkels, in dem das Geschoss in ihren Körper drang, war es uns möglich, den Ort, von dem auf sie geschossen wurde, ausfindig zu machen. Ein leerstehendes Bürogebäude. Wir haben dort auch Schmauchspuren, d.h. chemische Rückstände des Abschusses entdecken können.«

Dennis nickte leicht gequält.

»Warum erzählen Sie mir diese langweiligen Einzelheiten ihrer Ermittlungsarbeit an diesem wunderschönen Morgen, Herr Kommissar. War das alles?«

Becker brummte nur, und wechselte zum Frontalangriff.

»Dennis, sagt ihnen der Name Prof. Dr. Stein Etwas?«

Dennis spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Sein Mund wurde trocken, und für einen Moment konnte er nicht reden.

»Ich habe heute Nacht von ihm geträumt«, flüsterte er.

Der Kommissar starrte ihn ungläubig an.

»Ich habe im Rahmen meines Studiums des politischen Journalismus in München einige Vorlesungen bei ihm besucht. Er ist Professor für moderne Geschichte mit Schwerpunkt der Zeitgeschichte des Nahen Ostens. Ich habe nur ein einziges Mal persönlich mit ihm gesprochen, am Anfang meines Studiums, es war … – lassen sie mich überlegen, es muss Ende 1988 gewesen sein. Ich habe ihn sehr geschätzt.

Ein sehr integerer Mann und brillanter Wissenschaftler. Er erhielt mehrere akademische Auszeichnungen, obwohl er nicht unumstritten ist. Nur zwei Monate später ging er nach Israel. Er erhielt dort einen Lehrstuhl an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wurde mir gesagt. Ich habe ihn – sehr gemocht. Warum fragen sie mich nach ihm?«

Dennis Augen wurden feucht, als er sich nun schon zum zweiten Mal an diese einzigartige Begegnung vor neunzehn Jahren erinnerte. Verlegen blickte Becker zu Boden.

»Dennis, wir forschten nach Verbindungen, und wir hatten überhaupt nichts in der Hand, wir brauchten irgendeinen Anhaltspunkt, warum ausgerechnet sie Opfer eines Attentats wurden. Es gab ja lediglich dieses Bekennerschreiben. Also suchten wir nach Personen, die mit ihnen in welcher Verbindung auch immer standen, und die ihrerseits das Interesse einer islamistischen Terrorzelle erregt haben könnten. So gelangten wir zu einem gewissen Prof. Dr. Stein.

Ich werde ihnen nun erzählen, was wir über diesen Mann wissen, und warum wir der Meinung sind, er stände in irgendeiner Verbindung zu dem versuchten Attentat auf sie. Zuerst das für sie wahrscheinlich Schmerzlichste:

Prof. Dr. Stein ist schon seit Jahren tot. Er hat sich im Januar 1989 das Leben genommen.«

Fassungslos starrte Dennis ihn an. In seinem Kopf wirbelten Bilder und Wortfetzen umher.

Israel, Pulverfass Naher Osten, ›... die Wahrheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters‹, islamistischer Terror.

Es ergab alles keinen Sinn! Es war so sinnlos!!

Die Guten wurden getötet, die Lüge triumphierte. Der dunkle Herrscher lachte. Die Bedrohung wuchs. Warum hatten sie ihm gesagt, der Professor wäre nach Israel zurückgekehrt, was war mit der Paartherapie, er hatte doch damals extra einen Termin arrangiert, und sich gewundert, warum der Professor ihn nicht abgesagt hatte …

***

Der Hauptkommissar, der keineswegs der harte Polizist war, den er manchmal darstellen musste, hatte das Zimmer verlassen, als er merkte, was diese Nachricht in Dennis auslöste.

Nachdem er einen Kaffee getrunken hatte, ging er noch einmal auf die Station zurück.

»Ach, sie sind noch da!«, rief ihm der Stationspfleger zu, der ihn offenbar suchte. »Herr Meyer möchte noch einmal dringend mit ihnen sprechen.«

Als er das Zimmer betrat, sah Dennis sehr mitgenommen aus. »Erzählen sie mir die ganze Wahrheit. Was hat das alles mit mir zu tun? Wer war der Professor?«

Er sah ihn aus verzweifelten Augen an. Becker seufzte.


»Das, was ich jetzt sage, sage ich, um ihnen zu helfen. Ich glaube, sie haben ein Recht darauf. Eigentlich dürfte ich das nicht, da es streng vertraulich ist. Sie dürfen mit niemandem darüber reden.«

Etwas leiser redete er weiter.

»Professor Dr. Stein wurde 1935 als Jaakov Stein in Berlin geboren. 1943 wurde er zusammen mit seiner Mutter, einer russischen Jüdin nach Sachsenhausen gebracht. Sein Vater war deutscher Wehrmachtsoffizier, der dann später der NSDAP beitrat. Sie waren natürlich nicht verheiratet, dass wäre Rassenschande gewesen, und er hatte die junge Frau kurz nach ihrer Entbindung verlassen.

1944 wurde sie in Sachsenhausen ermordet, der kleine Jaakov 19 von den Amerikanern befreit. Er wurde von einem jüdischen Kinderhilfswerk für Kriegswaisen aufgenommen, und kam 1947 nach Israel, wo er von Pflegeeltern großgezogen wurde. Er fiel schon in der Schule durch seine Intelligenz auf.

1954 bis 1958 studierte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem Geschichte, und promovierte nur sieben Jahre später. Mit dreißig Jahren berief ihn die Universität zum jüngsten Professor des jungen Staates.

In Jerusalem lernte er wenig später seine erste Frau kennen. Doch es hielt ihn nur fünf Jahre in Israel, dann zog er mit ihr in seine alte Heimat. Ihm war eine Professur an der Universität München angeboten worden, die er auch annahm.«

Er machte eine Pause, um sich zu räuspern.

»Jetzt wird es spannend. In den Jahren 1973–1978 erregte er internationales Aufsehen durch die Publikation einer Reihe von geschichtswissenschaftlichen Büchern, die aber so packend geschrieben waren, dass auch Nicht-Fachleute begeistert waren. Ein Buch wurde sogar ein Bestseller. Es löste hierzulande hitzige Debatten aus. Der Titel lautet:

Die Zweistaatenlösung – Segen oder Fluch?

Dennis unterbrach ihn aufgeregt:

»Ich kenne das Buch, der Autor heißt Dr. Schneider, ich habe darin gelesen … in der Bibliothek – vor dem Schuss!«

Becker hob beschwichtigend die Hand.

»Ich weiß, ich weiß, lassen sie mich ausreden. Also: Dieses Buch wurde von linken Intellektuellen von Deutschland bis nach Amerika regelrecht in der Luft zerrissen. Es war zu provokant. Zu polarisierend.«

Dennis hörte atemlos zu.

»Daher veröffentlichte er unter dem Pseudonym Dr. Schneider. Es war brisant, und es war eine Zeitbombe. Dr. Schneider erhielt zahlreiche Morddrohungen unter einer Adresse, die nie existierte.«

***

Dennis meinte, wirkliche Anteilnahme am Schicksal des Professors in seiner Stimme zu hören.

»Er stellte in diesem Buch die These auf, ob es überhaupt sinnvoll sei, eine Zwei-Staatenlösung zwischen Israel und der PLO anzustreben, da die Charta der PLO als ihr oberstes Ziel bis zum heutigen Tag die Auslöschung des jüdischen Staates propagiert. Ja, mehr noch, ob die Palästinenser überhaupt ein historisches Recht auf einen eigenen Staat hätten. Das war natürlich ein Affront gegen die noch jungen Friedensbewegungen, die sich in dieser Zeit als Reaktion auf den Kalten Krieg und Vietnam überall in der ganzen Welt etablierten, auch in Israel.

Da er seine Thesen aber auch in seinen Vorlesungen und in der Öffentlichkeit vertrat, erhielt er oftmals sehr feindselige Reaktionen.

Er trat dann in zwei Fernsehsendungen auf, was vermutlich ein Fehler war. In der Folge wurde er der Unsachlichkeit und sogar der Volkshetze bezichtigt. Von den Linken wurde er als Faschist bezeichnet, von den Rechten als Judenfreund.

Durch diese Reaktionen irritiert und verletzt, zog er sich in den 80-Jahren aus der Öffentlichkeit zurück. Es wuchs Gras über die Sache, seine Positionen vertrat er nunmehr moderater, und allmählich erwarb er sich den Ruf eines seriösen und brillanten Wissenschaftlers.

Ich erzähle ihnen das alles deshalb, weil es Hinweise gibt, dass er trotz seines Rückzuges in das Fadenkreuz von PLO-Aktivisten geriet. Und hier ist die Verbindung zu Ihnen:

Sie studierten gerade sein umstrittenstes Buch, sie sind ein Journalist, der mit der Siedlungspolitik Israel sympathisiert, und ihre Veröffentlichungen in einer bayrischen Lokalzeitung, es war übrigens der ›Münchner Merkur‹, wurde von gewissen Leuten kritischer betrachtet, als sie es vielleicht wahrhaben wollten.

Weiter: Sie fielen diesem Personenkreis durch nicht ganz konforme Fragen und Statements während der Vorlesungen des Professors auf, und sie verteidigten seine Positionen in studentischen Diskussionsrunden. Schließlich hatten sie ein gutes, für einige ein zu gutes Verhältnis zu ihm.«

»Aber warum wurde auf ihn kein Anschlag verübt, sondern auf mich, einen ›Trittbrettfahrer‹?«, fragte er verwirrt.

»Möglicherweise wurde das bereits versucht«, antwortete der Kommissar leise.

Dennis blickte ihm in die Augen.

Dann erzählte er ihm doch von dem Film, den er vor dem Verlassen in seiner Wohnung gesehen hatte. Der Kommissar hörte skeptisch zu, versprach aber, dieser Sache nachzugehen.

»Falls an dieser Geschichte etwas dran sein sollte, und ehrlich gesagt, es klingt nicht gerade überzeugend, müsste man seine Familie, die noch in Deutschland lebt, warnen.«

Er stand auf, um sich zu verabschieden, und Dennis sah so frustriert aus, dass er beinahe Gewissensbisse bekam.

HIMMELSKRIEGER

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