Читать книгу HIMMELSKRIEGER - Daniel León - Страница 19
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Müde und zerschlagen fiel Becker ins Bett, nachdem er mit Helga telefoniert, und die Polizei verständigt hatte. Es würde alles gut werden, hatte er ihr versprochen, und dabei versucht, so überzeugend wie möglich, zu wirken.
Am nächsten Tag erwachte er ausgeruht. Das Leben ging weiter. Nachdem er eine Runde gejoggt war, erreichte er sein Büro um neun Uhr.
Der Polizeipräsident hatte ihm eine Mail geschickt:
Er bedauere den Einbruch von gestern Nacht, und sagte ihm für seine Ermittlungen im Fall Meyer jede notwendige Unterstützung in Form von Spezialisten und Finanzen zu. Dann stand da noch: … ich habe vollstes Vertrauen zu dir, und grünes Licht von ganz oben, den Einsatz aller exekutiven Mittel, die dir notwendig erscheinen sollten, zu autorisieren. Du hast also für deine Ermittlungen volle Rückendeckung von oberster Stelle.
Das war ein Freischein für fast alles. Offenbar sorgte dieser Fall jetzt schon in den obersten Etagen für einige Unruhe.
Kaffeeduft zog durch die Etage.
Bevor er sich allerdings einen Kaffee sichern konnte, rief das Krankenhaus an, und teilte mit, Dennis könne morgen unter der Auflage regelmäßiger, wöchentlicher Nachuntersuchungen, aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Becker war erfreut und besorgt zugleich. Erfreut, denn er war froh, dass es Dennis besser ging, besorgt, da er nun nicht mehr so leicht zu schützen sein würde, wie im Zimmer eines Krankenhauses.
Er griff zum Telefon, und erklärte Klaus Heberling, dem Chef der zivilen Personensicherung, die neue Situation. Er wies ihn an, seine fünf Männer genauestens zu instruieren, und auch die kleinste Auffälligkeit zu melden. Als erste Maßnahme solle die Wohnung von Dennis, die noch immer polizeilich versiegelt war, noch einmal gründlich durchsucht werden.
»Nach Bomben, Wanzen, Fingerabdrücken, nach allem Ungewöhnlichen«, sagte er. »Auch wenn du mich für paranoid hältst, aber diese Islamisten haben überall Helfershelfer.«
Am Nachmittag rief Klaus ihn zurück.
»Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, oder warum, oder wer, aber wir haben zwei Wanzen in seiner Wohnung gefunden. Eine in der Holzvertäfelung des Esszimmers, und eine in der Fassung der Tischlampe im Arbeitszimmer.
Allerdings eine so gute Qualität, dass man auch das leiseste Geräusch aus dem Schlafzimmer hören würde. Neueste russische Produktion von 2007. Und mit Sicherheit kann ich sagen, dass die Wanzen vor der polizeilichen Versiegelung installiert wurden. Anscheinend haben unsere Leute geschlampt, und sie bei einer ersten Hausdurchsuchung, nach den Schüssen auf Dennis, nicht entdeckt.«
Er fluchte, und knallte den Hörer aufs Telefon.
***
Der Tag versprach, sonnig zu werden. Esther fühlte sich gut. Die Untersuchungen der letzten Woche hatten eine stetige Verbesserung ihres Zustandes ergeben, und sie freute sich auf die Zeit mit ihrer Mutter. Sie pfiff ein Lied, während sie sich ein luftiges Sommerkleid anzog, dunkelblau, mit weißen, dezenten Blümchen.
Pünktlich um 10 Uhr holte Mutter sie ab. Der Tag war so, wie er sich angekündigt hatte. Wolkenlos und sonnig. Sie fuhren in dem schwarzen BMW Cabrio ihrer Mutter mit offenem Verdeck durch schattige Alleen und gelbe Rapsfelder. Die Landschaft war hügelig hier im Osten von München, und an einem klaren Tag wie diesem konnte man gut die Alpen sehen. Majestätisch, und mit einzelnen weißen Gipfeln, begrenzten sie kühn die Weite des Horizonts. Die Morgensonne ruhte warm auf der Landschaft, und friedlich glitten die Dörfer und Weiler an Esthers wachen Augen vorbei. Sie konnte sich einfach nicht sattsehen an dem kräftigen Gelb und sattem Grün der Felder, sowie den bunten Röcken der Bäume. Aus den Wäldern, die die Sonne noch nicht erreicht hatte, stieg Nebel empor, und der kräftige Geruch von feuchter Erde, hier und da vermischt mit dem scharfen Geruch von Gülle, belebte ihre Sinne.
Gerade fuhren sie durch einen Weiler, und ein kleines Mädchen stand auf dem kiesbedeckten Rondell eines Bauernhofs, und zog eine Katze am Schwanz. Die Katze schien es gewohnt zu sein, denn sie protestierte nur kurz, um nach wenigen Sekunden dem Mädchen um die Beine zu streichen. Liebevoll nahm die Kleine die Katze auf den Arm.
Schon waren sie vorbei, nur um abrupt bremsen zu müssen, weil zwei vielleicht zwölfjährige Buben in einer Hofeinfahrt Fußball spielten, und einer von ihnen den Ball nicht gehalten hatte.
Mit einem verlegenen Seitenblick auf die Fahrerin lief er auf die Straße, um ihn zu holen. Ihre Mutter schimpfte laut, und hupte, obwohl es ja keine Absicht gewesen war.
Esther lächelte nur, und nickte dem Jungen aufmunternd zu.
Nach einer weiteren halben Stunde waren sie in dem hübschen Café in Tutzing, am Starnberger See angelangt. Die Dachterrasse mit einer herrlichen Aussicht auf das Karwendelgebirge war um diese Zeit noch recht leer, und so schlürfte Esther entspannt an ihrem Café Latte; ihre Mutter nippte an einem Cappuccino mit einem Schuss Kaffeelikör.
»Erzähl mal, wie war das mit deiner Schlafmittelvergiftung – das war es doch, oder?«, begann ihre Mutter etwas unterkühlt das Gespräch, fand Esther.
»Judith, ich war tot, und bin ins Leben zurückgesandt worden«, sprudelte es aus ihr heraus, »ich wollte mich umbringen, wegen der Sache mit Dennis, und den Fehlern, die ich gemacht habe, deswegen habe ich die Tabletten genommen. Als ich den Tod schon spürte, bekam ich auf einmal Panik, und dann war da ein Strudel, der mich immer tiefer ins Dunkel zog, es war grauenhaft.
Meine ganze Lebensgeschichte lief vor mir ab, nur die wichtigen Dinge. Und ich weiß nicht warum, aber ich sang die ganze Zeit ein christliches Kinderlied, verstehst du das? Doch plötzlich war da eine Hand unter mir, die mich aus einem Strudel gezogen hat, eine riesige Hand Judith, riesig; ich habe nie gedacht, dass es so etwas gibt. Sie riss die dunklen Wolken zur Seite wie einen Vorhang, der aufgezogen wird, und ich sah das hellste Licht, das ich je gesehen habe. Dann war ich auf einem hohen Berg, gewaltig und wunderschön. Es war eine – eine heilige Atmosphäre auf diesem Berg. Und dann erschien mir die Person, deren Hand mich gerettet hat. Es war … er war … «
Sie suchte nach Worten. Die Erinnerung überwältigte sie. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sie, und sie brachte kein Wort mehr heraus.
Schließlich sagte sie leise: »Es war das Schönste, was ich jemals erlebt hatte. Ich kann, ich darf ihn nicht beschreiben. Er war der Messias.« Hatte das wirklich sie gesagt? Das war doch so etwas wie Gotteslästerung. Ängstlich sah sie zu ihrer Mutter.
Judith blickte sie mit kalter Verachtung an.
»Esther, Kleines, du erwartest doch wohl nicht, dass ich dir diesen Schwachsinn abnehme. Dieser idiotische Glaube an einen Messias deines … unseres Volkes ist doch komplett absurd. Wo war denn dieser angebliche Messias, als Millionen von uns in den Lagern vergast wurden. Kannst du mir das erklären?«
Triumphierend sah sie Esther ins Gesicht.
»Ich sage dir, was du erlebt hast. Ich habe so etwas schon ein paar Mal erlebt. Kurz vor dem endgültigen Tod überfluten körpereigene Drogen, Adrenalin, Dopamin und Endorphine dein Gehirn. Das ist ein körpereigenes Betäubungsprogramm, welches das Grauen des Todes erträglich machen soll. Und da dieser Mix aus Schlafmitteln und Psychopharmaka, die du noch immer im Blut hattest, zusätzlich heftige Halluzinationen auslöst, ist es nicht weiter verwunderlich, was du da erlebt hast. Lediglich deine Schlussfolgerung ist etwas übereilt, finde ich.«
Esther war sprachlos. Beschämt blickte sie zu Boden. Etwas in ihr wehrte sich entschieden gegen diese nüchterne Analyse. Sie wusste, dass Judith nicht recht hatte, nicht recht haben durfte, sie wusste, dass das, was sie erlebt hatte, real war, und kein Traum, sie wusste, das sie tot gewesen war. Sie hatte sich doch selbst auf dem Bett gesehen! Oder? Vor lauter Hilflosigkeit fing sie an, zu weinen. In diesem Moment erkannte sie, wie weit sie sich von ihrer Stiefmutter entfernt hatte, und wie viel von ihrer leiblichen Mutter in ihr war, wie viel von ihrem Vater. Aber dann würgte sie entschieden ihre Tränen herunter. Diese Frau, die nicht ihre richtige Mutter war, sollte sie nie wieder weinen sehen. Nie wieder!
Wie hatte ihr Vater diese Frau heiraten können?
Sie spürte, dass es ein Geheimnis geben müsse, etwas, was sie noch nicht verstanden hatte. Warum ihr liebevoller, wunderbarer Vater eine so kalte, zynische Person hatte heiraten können.
Als der Gedanke, spitz wie eine Nadel, in ihr Bewusstsein stach, Judith könnte durch ihre Gefühlskälte Anteil am Selbstmord ihres Vaters gehabt haben, schwindelte ihr so sehr, dass sie sich am Stuhl festklammern musste.
»Schatz, man sieht doch, dass es dir noch nicht gut geht, du sitzt ganz verkrampft auf deinem Stuhl«, hörte sie eine tonlose Stimme, »vielleicht sollten wir besser fahren, es ist alles zu anstrengend für dich. Ich hätte daran denken müssen.«
»Mir geht es gut, und es ist auch nicht zu anstrengend!«
Als sie es trotzig hinausgeschrien hatte, fühlte sie – wie zur Bestätigung – eine Kraft in ihrem Inneren, etwas Ruhendes inmitten des
Aufruhrs ihrer Seele.
»Ich hatte nur nicht mit dieser abweisenden Reaktion von deiner Seite gerechnet!«
Herausfordernd hob sie den Kopf.
»Was ist eigentlich mit dir los?«, fauchte Judith.
»Ich habe dir nur ganz klar erklärt, wie ich die Sache sehe, und dass du etwas durcheinander bist, was doch nur allzu verständlich ist! Jeder, der so knapp am Tode vorbeikommt, spricht erst einmal von einem Wunder. Deswegen musst du mich nicht gleich so anfahren. Ich bin deine Mutter, und ich verbitte mir diesen Ton!«
Esther atmete tief ein. Es hatte ja keinen Sinn, sich hier mit ihrer Stiefmutter zu streiten, sie konnte nicht nachvollziehen, was in ihr vorging. Sie fragte sich nur, warum sie diesen Teil von Judiths Persönlichkeit jetzt so klar erkannte, und früher nicht. Wenn es sein muss, kann auch ich eine Maske aufsetzen, sagte sie zu sich selbst.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte sie langsam.
»Es tut mir leid, wenn ich etwas ungehalten reagiert habe.«
Judith nickte versöhnlich.
»Allerdings würde mich noch eine Sache interessieren, über die ich im Krankenhaus länger nachgedacht habe. Es geht für mich um meine Familiengeschichte, verstehst du?«
Judith lächelte nachsichtig.
»Ich war damals noch ein Kind. Weißt du, wie meine Mutter wirklich ums Leben gekommen ist? Papa hat nur erzählt, dass sie bei einem Autounfall, nach einer Vortragsreise in den Alpen tödlich verunglückte. Damals war ich eineinhalb.«
Das Lächeln ihrer Stiefmutter erlosch, und ihr Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske.
»Was hast du davon, solche Dinge zu wissen«, fragte sie barsch. »Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es muss eine schlimme Zeit für ihn gewesen sein. Seit damals hatte er Depressionen. Ich glaube, er hat ihren Tod nie wirklich verkraftet.«
Sie wirkte ehrlich besorgt.
»Aber du bist schließlich auch meine Tochter«, säuselte sie, »und ich erzähle es dir. Jedes Kind hat ein Recht auf die Wahrheit. Ich muss nur kurz auf die Toilette, dann sage ich dir alles, was ich weiß.«
Esther nickte verbissen. Sie spürte, wie der Schmerz wieder hervorbrechen wollte, doch diesmal würde er sie nicht überwältigen.
Sie hatte Judith niemals erzählt, was sie entdeckt hatte, als sie zehn Jahre alt war, im letzten Sommer vor Papas Tod.
Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen:
Es war schon spät an diesem heißen Tag. Sie hatten Schulferien, und sie spielte mit den Nachbarkindern Verstecken. Dann kam sie auf die tolle Idee, auf den Dachboden zu klettern. Da könnten die anderen lange suchen! Der Dachboden war ein großer, nicht renovierter Raum, in dem überall Spinnweben hingen, und Kartons mit Büchern, und viel Gerümpel. Richtig abenteuerlich eben.
Und so war es auch. Die Zeit verging, sie hörte ihre Freunde rufen, und da sie sie ja sowieso nicht finden würden, stöberte sie in den Kisten und alten Sachen herum.
Es war aufregend, und sie fühlte sich wie eine richtige Entdeckerin. Plötzlich hielt sie ein kleines handgeschriebenes Buch in der Hand. Vaters altes Tagebuch. Sie hatte ihn früher oft darin schreiben sehen, aber seit sie etwa sieben war, war es plötzlich verschwunden. Einer Eingebung folgend, suchte sie nach einem bestimmten Datum:
25. Januar 1980
Mein Herz ist zermalmt. Wenn es einen Schöpfer gibt, warum zeigt er sich mir nicht? Ich fühle mich wie Hiob aus unseren heiligen Schriften. Doch im Gegensatz zu ihm kann ich nicht glauben. Ich habe noch nie Glauben besessen.
Heute ist es eine Woche her, dass meine geliebte Sarah bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Wie sehr ich sie vermisse. Sie war die beste Ehefrau und die beste Mutter für meinen kleinen Engel, den ich mir wünschen durfte. Doch ich darf nicht undankbar sein. Ich muss weiterleben und stark sein, für meine kleine Esther. Heute rief die Polizei an. Die Untersuchungen zum Unfallhergang sind abgeschlossen:
Sarah war viel zu schnell für diese Witterung gefahren.
Es war in dieser Nacht eisglatt gewesen, und auf der kleinen Gebirgsstraße in Österreich, die sie als Abkürzung benutzt hatte, war nicht gestreut worden. Darauf wurde auch auf einer Beschilderung hingewiesen.
Man hatte zwar keine Bremsflüssigkeit mehr im Wagen entdeckt, doch dies sei normal bei solch außerordentlichen Krafteinwirkungen. Immerhin war der Wagen 50 Meter einen steilen Hang hinab gestürzt.
Oh Sarah, Liebling, wie kann ich nur jemals eine ebenso gute Mutter wie dich, für unsere Esther finden!!!
Hilf mir, weiterzuleben!
Dieser Text hatte sich für immer in ihr kleines Herz gebrannt, und oft hatte sie ihn flüsternd im Bett wiederholt, wenn sie nicht einschlafen konnte.
Später an diesem Tag hatte ihre Stiefmutter sie gefragt, warum sie denn so bedrückt aussehe. Etwas hatte Esther damals davon abgehalten, ihr den wahren Grund zu verraten.
Judith kam zurück. Sie wirkte angespannt. Als hätte sie intensiv über etwas nachgedacht, wäre aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen.
»Nun Esther«, sagte sie, als sie sich setzte, »da gibt es nicht viel zu erzählen. Dein Vater sagte mir, der Unfall passierte in der dritten Januarwoche 1980. Deine Mutter war auf dem Rückweg von einer Vortragsreise in Österreich auf einer Passtrasse ins Schleudern geraten. Sie fuhr viel zu schnell, es war spiegelglatt, und es war nicht gestreut gewesen, sagte dein Vater. Sie durchbrach die Fahrbahnbegrenzung, und das Auto stürzte 50 Meter in die Tiefe. Es war nur noch ein Haufen Schrott.«
»Mehr nicht?«, fragte Esther leise.
»Mehr nicht«, antwortete Judith bestimmt.
Sie schwiegen eine Weile, und Esther spürte, wie die Luft langsam kühler wurde.
»Wie du weißt, hatte dein Vater die Angewohnheit, Tagebuch zu schreiben, und ich räume gerade das Haus auf. Du hast es nicht zufällig irgendwo gesehen?«, fragte Judith unvermittelt. »Dein Vater hatte früher viel darin geschrieben, vermutlich auch das mit dem Unfall.«
»Es lag doch immer auf dem Speicher, und verstaubte, liegt es dort nicht mehr?«, fragte Esther zurück.
»Du hast es also nirgendwo gesehen?«, fragte Judith.
War diese Frage ein Zufall?
Entschieden schüttelte sie den Kopf, und schaffte es, dabei nicht rot zu werden.
Das Gespräch nahm einen ungute Wendung, und schnell wechselte sie das Thema.
»Du hast mir noch nie erzählt, wie du Vater genau kennen gelernt hast«, sagte sie mit fester Stimme.
Sie wollte die Stiefmutter provozieren, nur ein bisschen.
Ich durchschaue dich langsam, dachte sie, ich sehe in deinen Augen die Angst, und die Furcht vor der Wahrheit.
Vielleicht hatte dieselbe Furcht sie früher davon abgehalten, genauer die Beziehungen in der Familie zu betrachten, vielleicht war sie auf krankhafte Art abhängig gewesen von Judith, und hatte lediglich Angst vor Ablehnung gehabt, obwohl sie immer schon mehr wahrgenommen hatte, als sie sich eingestehen wollte.
Sie betrachtete diese Frau, die ihr so schnell so fremd geworden war zum ersten Mal mit anderen Augen.
Mit den Augen einer erwachsenen Frau.
Judith war schön, ohne Zweifel. Obwohl sie dreiundfünfzig war, war sie schlank, und hatte eine gute Figur. Ihre Oberweite war üppig, und selbst wesentlich jüngere Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Ihre langen und tiefschwarzen Haare fielen fließend über ihre schmalen Schultern. Ein fein gezeichnetes Gesicht, und das ausdrucksstarke Kinn verrieten Willensstärke.
Rehfarbene Augen und volle, wohlgeformte Lippen rundeten das Bild ab. Esther hatte schon damals verstanden, warum sich ihr Vater in sie verliebt hatte. Wie er sie hatte lieben können, blieb ihr nach wie vor ein Rätsel.
Das einzige, was nicht zu dem Gesicht passte, waren die Augen. Sie konnten leidenschaftlich blicken, zärtlich und schutzsuchend, und doch:
Immer wenn sich Judith unbeobachtet gefühlt hatte, war ihr die Kälte in diesen Augen aufgefallen. Eine Eiseskälte, die sie innerlich zum Frieren brachte, und stets daran hinderte, ihr vollkommen zu vertrauen. Etwas Unbekanntes empfand sie in solchen Augenblicken, etwas furchteinflößendes, etwas, dass sie nicht fassen konnte.
Und manchmal – zuletzt immer dann, nachdem sie mit Vater geredet hatte – hatte sie diesen spöttischen, ja, verachtenden Zug um Judiths Lippen bemerkt.
Anderen Leuten fiel es nicht auf. Sie waren meist hingerissen von ihr. Auch sie hatte es nur unbewusst wahrgenommen.
Aber jetzt – sie sah die Welt wirklich mit anderen Augen …
»Esther, wir fahren zurück. Es wird langsam kalt, und ich habe keine Lust, weiter zu reden. Du erinnerst mich schon an deinen Vater mit deiner ewigen Fragerei!«
Esther ignorierte den aggressiven Unterton, und nickte ergeben.
Sie zahlten, und gingen zum Auto. Diesmal war es Judith, die das Schweigen brach.
»Wo willst du eigentlich weiterleben, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst?«
»Das geht dich gar nichts an. Auf keinen Fall bei dir!«, fuhr Esther sie an.
An diesem Abend hatte sie das verzweifelte Gefühl, ein halbes Leben lang von einer unbekannten Frau, die sie Mutter genannt hatte, betrogen worden zu sein.