Читать книгу HIMMELSKRIEGER - Daniel León - Страница 7
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Schwach und dünn, doch getragen von einer eigenartigen Sehnsucht stieg der Gesang der kleinen Gemeinde zum Himmel empor. Doch nur in einzelnen Stimmen lag mehr als die Hoffnung auf einen harmonischen Tag nach dem wöchentlichen Kirchgang.
Es war angenehm kühl in der steinernen Kirche, angenehm kühl an einem heißen Mittag auf einem idyllischen Fleckchen Erde, und weit weg von Stress und Hektik, dachte Esther, während sie krampfhaft versuchte, das Zittern ihrer Finger unter Kontrolle zu bringen.
Sie erinnerte sich daran, was Dr. Schramm, ihr Psychiater, letzte Woche gesagt hatte:
»Ich kenne da eine kleine Kirchengemeinde in der Nähe, außerhalb der Stadt, sehr idyllisch gelegen, gehen sie da mal hin. Das beruhigt die Nerven. Ich bin zwar bekennender Atheist, und glaube an solchen Hokuspokus nicht, aber für gebeutelte Seelen, die Erlösung brauchen, ist dies ein durchaus passabler Ort. Eine fundamentalistische Gemeinde, die glauben noch an den Teufel, aber um die innere Ruhe wiederzufinden, genau das Richtige«, lachte er amüsiert.
Diesen Rat hatte sie beherzigt.
Und er hatte recht behalten. Es war wirklich ruhig hier, und immerhin hatte noch niemand eine dumme Bemerkung über ihre abgekauten Fingernägel gemacht.
Esther war gerade erst neunundzwanzig geworden, doch sie fühlte sich uralt. Denn ihr Leben war beendet worden, ehe es richtig begonnen hatte. Und während die Gemeinde weitersang, wanderten ihre Gedanken weit zurück in die Vergangenheit, zu einem einsamen Haus in einer mondklaren Nacht.
»Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, deine Tochter braucht dich. Und ich schließlich auch!«, schleuderte ihr Vater mit brüchiger Stimme der Mutter entgegen. Sie hatte schon geschlafen, als ihre Eltern anfingen, sich zu streiten. Schon wieder, dachte sie voller Angst, nachdem sie durch den lauten Wortwechsel aufgeschreckt war. Und da sie jetzt sowieso nicht mehr einschlafen konnte, war sie hinunter geschlichen, saß zusammen gekauert auf der kalten Holztreppe, und hörte, wie über ihre Kindheit verhandelt wurde.
»Josef, ich liebe dich nicht mehr«, sagte Mutter gerade.
»Versteh das bitte. Und das mit Mike, das hat sich halt ergeben. Wo die Liebe hinfällt, du müsstest das eigentlich wissen!«, fuhr sie anklagend fort, doch es klang so, als wolle sie ihr Gewissen beruhigen, fand Esther, die ihren Vater innig liebte.
Mutter liebte sie natürlich auch, aber die war immer so streng, wollte immer, dass sie alles perfekt machte. Bei Papa konnte sie so sein, wie sie war, dachte sie gerade, als er Mami eine schallende Ohrfeige gab.
»Josef, du besoffenes Schwein, anders kannst du dir wohl nicht mehr helfen«, schrie sie ihm wütend und voller Verachtung entgegen.
»Mike schlägt mich nie! Er hat es nicht nötig, er ist ein Mann! Und morgen«, fügte sie triumphierend hinzu, »verlasse ich dich endgültig!«
Kurz darauf hörte sie die schwere Haustür ins Schloss fallen.
Gespenstische Ruhe erfüllte das Haus.
Laut schluchzend brach ihr Vater zusammen, und ließ sich hart auf die selbst gebaute Holzbank in der Küche fallen. Und in der grenzenlosen Einsamkeit des großen Hauses weinte er hemmungslos.
Still und ohne Tränen weinte seine Tochter mit ihm.
In dieser Nacht träumte sie schlecht. Ihr war, als lege sich etwas Dunkles, Schweres auf ihre Brust, und sie konnte kaum atmen.
Nach Luft ringend wachte sie auf, schweißüberströmt. Panische Angst ergriff sie, und sie wimmerte leise, als sie sich schutzsuchend, und so tief es ging, unter ihrer Bettdecke vergrub. Aber da konnte sie noch weniger atmen, und so zog sie die Decke wieder vom Gesicht. Der volle Mond schien hell und silbern durch die Gardinen, bizarre Schatten werfend, und sie sah, dass die große Uhr über ihrer Zimmertüre auf die drei zuging.
Es war so ruhig.
Endlich raffte sie all ihren kindlichen Mut zusammen, stieg aus dem Bett, und tapste so schnell sie konnte, aus ihrem Zimmer, die steilen Holzstufen einen Stock höher zum Schlafzimmer der Eltern. Kalt war das Holz, und es knarrte und stöhnte unter ihren nackten Füßen. Als könne es die Last der Bewohner nicht länger ertragen. Atemlos klopfte sie an der großen weißen Tür.
Kein Laut. Leise wisperte sie.
»Papa, Papa! Mama, Papa! Ich hab` solche Angst!«
Als sich nichts rührte, drückte sie die Klinke herunter.
Dunkelheit und Stille empfing sie. Grabesstille.
Wie auf einem Friedhof, fuhr es ihr durch den Kopf.
Ein nicht fassbares Grauen schüttelte sie, während sie in panischer Hast nach dem Lichtschalter tastete. Mit ihren zitternden Händen fand sie nur den Schalter für die kleine Stehlampe, die links vom Türrahmen stand, und so erhellte spärliches Licht den Raum.
Das Doppelbett in der linken Ecke war leer!
Müde, und mit angstgeweiteten Augen irrte ihr Blick durch das große Zimmer. Schließlich, in der Mitte des Raumes, blieb er an etwas Dunklem, Langen hängen.
Sie nahm nur ein Zucken wahr, ein heiseres Röcheln.
Dann blickte sie in leblose Augen, und in ihnen erkannte sie den Abgrund der Hölle. Ihre Beine versagten den Dienst, während sie mit einem würgenden Geräusch zu Boden stürzte.
Gnädig erlöste sie die Nacht.
So hatte ihre Mutter sie gefunden, als sie um zehn Uhr morgens das Haus betrat, um die restlichen Sachen zu packen. Zusammengesunken auf den Holzdielen des gemeinsamen Schlafzimmers, der Vater am Kronleuchter über ihr hängend.
Ruhig und gefasst hatte sie reagiert, und nach dem Alarmieren der Polizei und des Rettungsdienstes ihre Tochter in ein Krankenhaus gefahren.
»Ein posttraumatisches Belastungssyndrom«, hatte der Arzt gemeint. »Wir geben in der Akutphase Beruhigungsmittel, danach muss sie noch einige Zeit zur Beobachtung bei uns bleiben. Wir werden sie informieren, sobald es ihr besser geht.«
Das Bestattungsinstitut hatte ihren Vater gegen zwölf Uhr abgeholt, erzählte Mutter später. Trotz ihrer Fassungslosigkeit war sie wütend gewesen, dass ihr Mann es nicht einmal geschafft hatte, die Tür abzusperren.
»Wenn er schon so etwas Verantwortungsloses macht, muss er wenigstens wissen, wie verstörend es auf ein elfjähriges Mädchen wirken muss, ihren eigenen Vater so zu sehen«, hatte sie später einmal zu ihrer Tochter gesagt, und Esther hatte ihr ohne Zweifel recht geben müssen.
Esther erwachte aus ihrem dumpfen Brüten, als eine Frau sich zu ihr umdrehte, sie anlächelte, um sich dann wieder dem Gesang zu widmen. Unsicher ließ sie ihren Blick durch die kleine Kirche schweifen. An der hinteren Wand über dem Altar, der eigentlich nur aus einem Holzkreuz bestand, stand in großen Lettern geschrieben:
Denn ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, welches ist Jesus Christus.
An beiden Seiten der Decke entdeckte sie breite Risse im Gemäuer. Wie passend, dachte sie voller Zynismus, für diesen lächerlichen Glauben und für mein glorreiches Leben.
Als sie etwa neun war hatte sie einmal mit ihrem Vater über den Glauben gesprochen. Zugegeben, er war schon damals ein latenter Alkoholiker, seit die Anschuldigungen ihrer Mutter angefangen hatten, aber, warum bitte schön, entschuldigte sie ihn eigentlich?
»Ein Schöpfer«, hatte er damals wie aus weiter Ferne gesagt, »ein Schöpfer existiert nicht. Ich habe in meinem Leben zwar Dinge erlebt, die andere Menschen wahrscheinlich als Wunder bezeichnen würden, und ich selbst habe eine Zeit lang an einen Gott geglaubt; aber die Bosheit und der Schmerz dieser Welt haben mich überzeugt, dass wir alleine sind. Gott ist nicht mehr als eine alberne Selbsttäuschung geplagter Menschen. Eine Übertragung ihrer absurden Wünsche nach Bedeutung und Glück. Ich jedenfalls habe ihn gesucht, und nicht gefunden.«
Ob er damals wahrgenommen hatte, wie hoffnungslos und verzweifelt seine Stimme klang, dachte sie?
***
Den riesigen Adler, der unsichtbar die hintere Kirchenwand ausfüllte, und der sie völlig hingerissen betrachtete, bemerkte sie nicht.
Denn als Dor in dieses hoffnungslose Gesicht blickte, meinte er ein Brausen zu hören, eine Stimme aus dem Echo der Zeit:
Befreie das Mädchen, befreie die Auserwählte …
Sein Kopf drehte sich. Seine Gedanken überschlugen sich, und sein Geist befand sich in höchster Erregung. Hatte er dieses Mädchen nicht schon irgendwo einmal gesehen? Irgendwann?
Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern:
Vor 2.000 Jahren, auf einem toten Planeten.
Der Mann, der in der Wüste starb …